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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Andreas Scholl – weltberühmter Countertenor

Eine musikalische Rheingau-Reise

Text und Fotografien: Renate Feyerbacher

„Eine wunderbare Idee“ nannte Andreas Scholl die Veranstaltung am 16. Juli 2011, die das Rheingau Musik Festival ausgezeichnet organisiert hatte. Wunderbar deshalb, weil er den Menschen, seinem Publikum, nahe sein konnte wie im Kirchhof von Hallgarten und nicht – wie nach einem Konzert in den Kulturtempeln – Anzug und Krawatte auszieht und verschwindet.

Andreas Scholl im Kirchhof von Mariae Himmelfahrt Hallgarten / Oestrich-Winkel

Deshalb, weil er seine Heimat vorstellen durfte, in die er nach 20 Jahren Aufenthalt in Basel und weltweit zurückgekehrt war. Deshalb, weil er seine Lieblingsensembles und wohl auch seine Lieblingsmusikerin, die Lebensgefährtin Tamar Halperin, einladen konnte. Die israelische Cembalistin und Musikwissenschaftlerin, die über ihren favorisierten Komponisten Johann Sebastian Bach (1685 bis 1740) an der renommierten Juilliard School in New York promovierte, spielte Bachs Suiten beim ersten Halt in der Schiersteiner Christophoruskirche.

Tamar Halperin und Andreas Scholl nach dem Konzert am 16. Juli 2011

Das Team des Rheingau Musik Festivals hatte zuvor die Teilnehmer am Wiesbadener Hauptbahnhof eingesammelt und in fünf Bussen zum ersten der drei vorgesehenen Konzertorte bringen lassen: nach Wiesbaden – Schierstein.

Die protestantische Kirche Christophorus im Stadtteil Schierstein wurde von 1752 bis 1754 im Stil des ausklingenden Barock und Rokoko gebaut. Es ist die schönste Rokokokirche Hessens. Sie wurde grösstenteils von Frankfurter Patriziern finanziert, die dort ihre Landhäuser hatten. Noch heute gibt es ihre Kirchenstühle.

Der Saalbau, dessen Grundriss dem Goldenen Schnitt entspricht, hat eine gute Akustik. Selbst auf der oberen Empore erklingt die Cembalo-Musik und der Gesang des Gastgebers Andreas Scholl klar und durchdringend.

Hochaltar in Christophorus

Der elegante Kanzelaltar – Altar (Sakrament), Kanzel (Wortverkündigung), Orgel (Lobpreis) – entspricht protestantischer Auffassung. Ihn flankieren Säulen und Putten. Fliessend geht er über in die Orgelempore, die wie die Gesamtkirche in eindrucksvoller Farbgebung gehalten ist.

Dieses Ambiente ist fantastisch für die Bach-Suiten, die Tamara Halperin spielte. Suite – der Name beziehungsweise der Begriff leitet sich vom ursprünglich vulgären Fachbegriff „la suite“ (die Folge) her, stieg dann aber in die oberen Kreise auf und wurde hoffähig. Aus dem feinen, französischen „à la suite“ wurde „en suite“ für jedermann. Die Musik übernahm den Begriff. Die „Französische Suite“ G-Dur BWV 816 setzte die Tänze Allemande (deutsch), Courante (französisch), Sarabande (spanisch) und so weiter „en suite“ hintereinander. Die sympathische Künstlerin Tamar Halparin interpretierte sie differenziert: mal sanft, feinfühlig, dann stürmisch, impulsiv. Eine Entdeckung für mich. Sie erhielt schon verschiedene Preise, unter anderem den ECHO Jazz 2010 für die CD „Wunderkammer“ zusammen mit dem Jazzpianisten Michael Wollny. Die Beiden kombinieren verschiedene Tasteninstrumente.

Andreas Scholl gibt in Christophorus die erste Kostprobe seiner wunderbaren Stimme. Er singt aus Henry Purcells Schauspielmusik zu „Oedipus, King of Thebes“ die Arie „Music for a while“, ein Loblied auf die Schmerzen lindernde Kraft der Musik.

Es kann nicht überzeugender interpretiert werden.

Der Sänger hält es für eines der schönsten Lieder, die je geschrieben wurden. Die Musik habe „etwas Hypnotisches, von dem man angezogen wird“. Der Barockhit ist auf Scholls neuer CD „O Solitude purcell“ mit der Accademia Bizantina unter der Leitung von Stefano Montanari zu hören, ebenso der berühmte sogenannte „Cold Song“ aus der Semi-Oper „King Arthur or The British Worthy“. Semi-Oper ist eine spezielle Form der englischen Barockoper: gesprochenes Drama mit langen gesungenen, getanzten und instrumentalen Szenen.

 

Musik-Audiofile: bitte anklicken:

Andreas Scholl – What Power Art Thou – Cold Song – Snippet

© – Alle Rechte vorbehalten – Decca / Universal Music

 

„What power art thou“

„Was bist du nur für eine Macht,
die mühsam mich und wider Willen
von meinem tiefen Bett aus ewigem Schnee emporgebracht?
Sieh‘ doch, dass uralt ich und steifgefroren,
die Kälte kaum noch mag ertragen,
schwer nur noch atme und die Regsamkeit verloren!
Geh, lass mich erfrieren in des Frostes Nacht.“

Wie Andreas Scholl diese Arie interpretiert, ist fulminant. Der kalte Schauer durchläuft den Körper. Diese berühmteste Szene des Werkes will beweisen, wie die Macht der Liebe (Cupido) imstande ist, jedes noch so kalte Herz aufzutauen.

Seine Liebe zur Musik Henry Purcells (1659 bis 1695), den überragenden Barockkomponisten Englands, hat der Sänger während seiner Baseler Studienzeit an der bedeutenden Schola Cantorum Basiliensis entdeckt. Immer wieder hat er Purcells Lieder gesungen, aber erst jetzt erstmals aufgenommen. Zu zwei Gesängen dieser neuen CD hat er den französischen Countertenor Christophe Dumaux eingeladen, mit dem er an der Metropolitain Opera in New York debütierte. Dabei sind auch seine Freunde von der Accademia Bizantina, mit denen er schon lange musiziert.

Vier dieser Musiker begleiteten ihn auch auf der musikalischen Rheingaureise, deren nächste Station das Weindorf Hallgarten war, das zwischen Wiesbaden und Rüdesheim etwas abseits vom Rheinufer, am Fusse der 580 Meter hohen „Hallgartener Zange“ liegt.

Andreas Scholl und Mitglieder des Freundeskreises Mariae Himmelfahrt

Im Kirchhof hatte der Freundeskreis der Katholischen Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt zunächst für das leibliche Wohl der Teilnehmer gesorgt, zu denen sich Michael Herrmann, der vielbeschäftigte Geschäftsführer des Rheingau Musik Festivals, kurze Zeit gesellte und wie immer die Gäste begrüsste.

Die Freunde der Pfarrkirche unterstützen mit dem Verkauf des „Hallgartener Glockeschoppe“, eines mundigen Weines, unter anderem die Pflege des Kircheninventars. Dazu gehört vor allem die Hallgartener Madonna, die sogenannte Schröter-Madonna.

Hallgartener Madonna – auch Schrötermadonna genannt

Die Weinschröter waren angesehene Männer. Sie mussten die weingefüllten Eichenfässer mittels Schrotbaum und Schrotleiter vom Keller zum Fuhrwerk verladen, eine schwere Arbeit. Sie stifteten dieses Kleinod der Legende nach aufgrund wundertätiger Hilfe der Jungfrau Maria. Das Hauptwerk eines unbekannten mittelrheinischen Meisters stammt aus der Zeit um 1415. Die 113 Zentimeter hohe gotische Figur ist aus gebranntem Ton und hat eine „Schwester“ im Louvre, „La belle Allemande“ (Die schöne Deutsche) oder „Vierge de mayence“ (Jungfrau von Mainz) genannt, die 1803 während der Säkularisierung aus dem Kloster Eberbach entführt worden war.

Hallgartener Madonna (Ausschnitt)

Das Jesuskind hält Weintrauben in seiner Hand und die in der Kunstgeschichte als „Madonna mit der Scherbe“ bekannte Maria einen kleinen Weinkrug (mundartlich Scherbe genannt). Sie steht auf einem untergehenden Gesicht (Mond). „Das im Verhältnis zur Plastik ungewöhnlich grosse Männerantlitz könnte als die der Vergänglichkeit (Mond als Symbol der Vergänglichkeit) verfallene Menschheit insgesamt gedeutet werden. Es könnte aber auch das Gesicht Adams sein, der nach der Erlösung durch Christus ausschaut“, so die theologische Deutung im „Kleinen Führer“ der Kirche.

Hallgartener Madonna – Ausschnitt Mond

Die Baugeschichte von Mariae Himmelfahrt, die noch weitere Kleinode besitzt, beginnt im 12. Jahrhundert. Mehrfach wurde sie bis ins 20. Jahrhundert baulich verändert.

Im vorderen Teil des Chorraumes vor den Glasmalereien (1962) in den drei gotischen Masswerkfenstern musizieren Mitglieder der Accademia Bizantina.

Stefano Rossi (Violine und Leitung), Tiziano Bagnati (Laute), Marco Frezzato (Violoncello), Francesco Baroni (Cembalo und Orgel)

Das Quartett spielte italienische Werke aus dem 17. Jahrhundert und begleitete Andreas Scholl bei Purcells Abend-Hymne „Now that the sun hath veiled his light“. Purcells Musik „ist keine Musik für Musikologen, es ist Musik für den Menschen“, so schreibt Andreas Scholl im Textheft zur CD. Und der Künstler singt für die Menschen, die in der Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt dabei sind. So wird es wirklich empfunden.

Andreas Scholl und Mitglieder der Accademia Bizantina

Der 1967 in Eltville geborene Andreas Scholl erhielt seine erste musikalische Ausbildung bei den Kiedricher Chorbuben. Seit 1333 gibt es diese Einrichtung in dem etwa 4000 Einwohner zählenden Rheingauer Weindorf Kiedrich. Der Chor, Jungen und Männer, singt „an erster Stelle Gregorianik, aber hier in einer gotischen Variante des Gregorianischen Chorals im sogenannten Germanischen Dialekt, aufgezeichnet mit gotischen Hufnagelnoten in grossen Folianten, dem Kiedricher Graduale. Melodisch wirkt dieser Gesang, der sich nur noch hier im Proprium (den wechselnden Texten des Gottesdienstes) erhalten hat, durch erhöhte Spitzentöne frischer, an anderen Stellen auch unbekümmerter, lebendiger“ (Homepage der Kiedricher Chorbuben). Aber auch die Mehrstimmigkeit kommt zum Zuge.

Elisabeth Scholl, seine Schwester, war das erste Mädchen, das in den Chor aufgenommen wurde. Sie ist heute auch eine gefragte Interpretin alter Musik. (Die Geschwister gaben einen Tag später ein Konzert in Kloster Eberbach.)

Fünfmal in der Woche proben die Kiedricher Knaben, die Männer zweimal. Etwa einhundert Mal im Jahr tritt der Chor in Aktion. Sonntags kann man ihn im Choralhochamt in der Basilika St. Valentin zu Kiedrich im Rheingau hören – eine der schönsten gotischen Bauwerke dieser Kulturlandschaft. Sie ist dem Heiligen Valentinus und dem Heiligen Dionysius gewidmet und hat eine der ältesten bespielbaren Orgeln der Welt. Besonderheiten sind der Lettner und die fast komplette gotische Innenausstattung.

In dieser Kirche nahm Andreas Scholl 2010 die CD mit Liedern von Oswald von Wolkenstein auf.

Ensemble White Raven und Andreas Scholl

Ein Lied des im Spätmittelalter lebenden Lyrikers, Komponisten, Ritters, Politikers und Botschafters Oswald von Wolkenstein gehörte zum Programm der letzten Station der Rheingaureise. In der Mittelheimer Basilika St. Aegidius, deren Bausubstanz fast unverändert aus dem 12. Jahrhundert stammt, erklang nun ein anderer musikalischer Stil.

Das Ensemble White Raven sang traditionelle irische Lieder, die Kathleen Dineen, Gründerin dieser A-Capella-Formation, meistens arrangiert hat. Wie Andreas Scholl hat die Irin an der Schola Cantorum Basiliensis studiert, wo sie heute lehrt. Mit von der gesanglichen Partie waren der Tenor Robert Getchell und der Bariton Raitis Grigalis. Natürlichkeit und Einfachheit gepaart mit sängerischer Könnerschaft zeichnet das Terzett aus, das durch Andreas Scholl manchmal zum Quartett erweitert wird. Dineens klarer, natürlicher Sopran begeistert. Die Stimmung der Künstler übertrug sich auf die Zuhörer. Ihnen gefiel der „mühelose Gesang“. „Kunst ist es, wenn es nicht nach Kunst klingt“, scherzte Andreas Scholl.

Ein sonniger Tag verwandelte sich in einen Unwetter ankündigenden Abend. Nibelungenhaft dunkel wurde es nach und nach.

Der Rhein bei Oestrich-Winkel am Abend des 16. Juli 2011

Das Frankfurter Musikpublikum hat am 24. Januar 2012 die Gelegenheit, den Lied-, Oratorien- und Opernsänger Andreas Scholl, der seit Jahren zu den besten Countertenören der Welt gehört und vielfach ausgezeichnet wurde, in der Oper Frankfurt als Liedsänger zu erleben. Tamar Halperin wird ihn am Klavier begleiten.

 

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