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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen II (2)

von © Salias I.

Montag, 2.5.11

Der Morgen schält sich aus der halb schlafend, halb wach durchlebten Nacht heraus, das zahnende Baby bringt mich dahin, das Tagesgrauen als eine Erlösung aufzufassen, aus der plärrenden, hin und her wälzenden Unrast des Seins die Ruhe zu suchen im Gewohnten und Berechenbaren des Berufsalltags.
Die Bahn ist pünktlich, mein Schlafplatz unbehelligt, ich schmiege mein Ohr an die Kopfstütze der gepolsterten Bank, tauche für zwanzig Minuten in tiefen Schlummer.
Kraftlos dem Zug entstiegen, lasse ich mich bergab rollen, da mein Unterricht in unserer Aussenstelle „Talsohle“ beginnt – eine geographische Ortsbezeichnung und zugleich eine Metapher, die so halb auf unsere Bildungspolitik zutrifft: Es geht abwärts, aber wird eine Talsohle erreicht werden? Ich glaube nicht, dass ich das Durchschreiten der Talsohle in der hessischen Bildung noch erleben werde.

Angekommen, schleppe ich mein Fahrrad die Treppe hoch ins Gebäude, da es keine Fahrradgarage gibt; früher stellte ich es auf dem offenen Schulparkplatz ab, doch nach ein paar Tagen wurde es plattgestochen – bezahlt hat es keine Versicherung, und unsere Schulleitung zeigte keinerlei Reaktion. Also schliesse ich das Rad in einem Nebenraum ein.

1.+2.  Std. 12 FO IT (Chemie in der Fachoberschule)

Als ich um 8.00 Uhr den altertümlichen Hörsaal aufschliesse, ist kein Schüler da. Ich halte Ausschau in den langen Gang. Öde, dumm, kasernenartig. Ein passender Ersatz für unser Hauptgebäude, dessen Fassade saniert wird.
Kollege A, der Abteilungsleiter, schlurft daher, ich frage ihn gleich nach meiner Klasse. Er weiss natürlich von nichts. Zapft sich Cappuccino, fragt mich, wie meine Versetzung gedeihe? – Gar nicht, sage ich, hast du meinen E-Mail-Bericht nicht gelesen? – Hat er nicht.
Du bist das rechte Vorbild für unsere Schüler, dass du nichts liest, tadle ich.
Dafür brauchen die kein Vorbild, kontert er.
Recht hat er. Ich erkläre ihm, dass ich mich aus Gewissensgründen nicht versetzen lassen könne. Es tut mir gut, mit A zu reden, er versteht mich – obwohl er nichts liest!
Schliesslich trudelt einer meiner Schüler ein. Weitere Schüler werden avisiert. Es wird klar, warum sie zu spät kommen: Unterwegs mit dem Auto! haben sie natürlich nicht einkalkuliert, dass wir da seit Monaten die Baustelle vor der Tür haben, so dass man im Auto nicht – usw. usf., will ich denn gleich schimpfen? Nein, sie sind eben so.
Fange mal an mit dem Notenspiegel: „Ist nicht so schlecht ausgefallen, habe die Klausur kräftig aufgewertet, damit sie nicht wiederholt werden muss.“ Durchschnitt: 4,24.
Trotzdem murren manche Schüler.
Ich führe ihnen vor Augen, dass viele der Klausuraufgaben schon im Unterricht drankamen, sogar ein Ankreuz-Test über die Definitionen von Oxidation und Reduktion, den wir ein paar Wochen vorher geschrieben hatten, kam unverändert wieder in der Klausur dran – mit niederschmetterndem Ergebnis. Aufgabe für Aufgabe zeige ich, mit wie wenig Wissen und Verstand sie hätten gelöst werden können. Aber die Klasse kann sich damit entschuldigen, dass sie vorher beim Dr.R Chemie hatte, und der Unterricht bei Dr.R ist bekanntlich für die Katz.
Andrerseits mache ich ihnen deutlich, dass der Stoff, den wir in diesem Halbjahr durchgenommen haben, in der Hochschule in ein, zwei Vorlesungen abgehandelt würde. Wer da nicht zuhause nacharbeitet, ist verloren. Das selbständige Lernen und Üben müssen sie lernen – viele wollen im nächsten Semester schon studieren! Vor allem die fehlende Übung hat die Noten so heruntergezogen.
Nach der Besprechung der Aufgaben und der mündlichen Noten gibt es zum Glück keine grösseren Reklamationen.
Als die Schüler den Saal verlassen, kommt noch der U zu mir. Ach, der U, richtig, der hat die Klausur nicht mitgeschrieben.
Jetzt legt er ein Attest vor, das genau für einen Tag gilt, nämlich für den Klausurtag. Klarer Fall. Aber ich darf meine Meinung nicht aussprechen, da auch klar ist, dass ich nichts beweisen kann. Gar nicht so klar ist mir, was ich mit diesem Fall machen soll? Eine Nachschreibearbeit zu organisieren habe ich absolut keine Lust.
U ist ein Wiederholer, er war im letzten Schuljahr in meiner Klasse, versuchte sich durchzumogeln, wachsende Fehlzeiten, hin und wieder Täuschungsversuche, dann durchgefallen. In diesem Schuljahr nichts Besseres. Schule ist für ihn Nebensache, die Hauptsache der türkische Lebensmittelladen seiner Familie, von dem er sich ab und zu im Taxi in die Schule bringen lässt. Mündlich eine schlechte 4, schriftlich habe ich für ihn die 6 einkalkuliert, sodass er auf eine realistische 5 käme. Jetzt soll die 6 nicht gelten? Und ich soll ihm die 4 geben? Nein. Möglichst ohne saure Miene verkünde ich: „Nun, dann müssen Sie die Klausur nachschreiben!“
U will es genauer wissen: „Und wenn ich jetzt im Halbjahr eine 5 von Ihnen bekomme, reicht es dann nicht trotzdem für die 4 als Endnote?“
In meiner Liste sehe ich entsetzt, dass er beim Dr.R eine 3 hatte. Die muss ich gleichberechtigt mitzählen. „Ja, Ihre 4 ist Ihnen als Vornote sicher“, muss ich zugeben.
„Gut, wann muss ich die Klausur nachschreiben?“
„Weiss ich noch nicht. Sie müssen sich ab sofort bereithalten!“
„Ja, okay, aber bitte, warten Sie doch wenigstens bis Mittwoch. Morgen wäre es ganz schlecht für mich.“
Das kann ich mir vorstellen. „Ich muss das noch planen und kann Ihnen nichts versprechen. Im Laufe einer Woche finde ich einen Termin.“

Pause

Keine Pause, schnell das Rad freischliessen, in die Pedalen treten, bergauf in die Hauptstelle, wo in 15 Minuten die nächste Klasse auf mich wartet. In dieser Hetze komme ich ins Schwitzen – und, mal wieder, ins Ärgern, denn schon mehrfach habe ich bei der Schulleitung angeregt, für diese Dienstfahrten bei der Stadt eine Flotte von elektrobetriebenen Dienstfahrrädern anzufordern, damit wir Kollegen ohne Zeitverzug die Einsatzorte wechseln können; mein Vorschlag wurde angesichts des kommunalen Beinahe-Bankerotts nur belächelt. Umso mehr ärgert mich, dass der selbstherrliche Schulverwaltungsamtsleiter ebendieser erbärmlichen Stadt unsere Chemikaliensammlung komplett entsorgen und neu beschaffen lassen will, nur weil auf den alten Flaschen Etiketten mit Sicherheitshinweisen fehlen – eine unnötige, umweltschädliche Massnahme, die über zehntausend Euro verschlingt, da man die Aufkleber einfach hätte selber machen können. Aber wir FachkollegInnen werden nicht mal gefragt. Die Chemikalien, die wir am dringendsten brauchen, werden wir rechtzeitig retten, d. h. verstecken müssen.

In der Hauptstelle angekommen, gibt’s wieder das Abstellproblem: Seit die Bauarbeiten begonnen haben, ist der grösste Teil unseres Aussengeländes gesperrt, und damit auch die Fahrradgarage. Ich schliesse mein Rad an einem etwas entfernteren öffentlichen Parkplatz fest, was die Sicherheit etwas erhöht, aber dafür drei, vier Minuten zusätzlichen Fussweg kostet. Eilig laufe ich über die Baustelle, um den Weg abzukürzen. Die Energie-Sanierung der Schule an sich ist erfreulich, nicht aber, wie es dazu gekommen ist: Das ist eher Zufall, da die Bundesregierung in Folge der Finanzkrise nach Möglichkeiten suchte, ihre Milliarden zur Unterstützung der Bauindustrie (nicht eigentlich Schulen) unterzubringen („Konjunkturpaket II“).

3.+4. Std. 11 IT (PoWi für’S zweite Lehrjahr der IT-Techniker)

Nur fünf Minuten zu spät, das Unterhemd nassgeschwitzt – um das zu schaffen, habe ich sogar aufs Trinken verzichtet. Noch ausser Atem lasse ich die IT-Berufsschüler in den Klassenraum; gerade haben wir uns niedergelassen, da stellt sich heraus, dass S und M, zwei Schüler, die zur Präsentation bereit sind, beamen wollen – also alle wieder raus aus diesem ausgedienten Elektriker-Lehrraum (mit riesigen Schaltkästen wie im Raumschiff Orion – und ebenso funktionsuntüchtig!) – und umziehen in den Chemieraum, von dem ich weiss, dass ein Beamer an der Decke hängt, der funktioniert.

Die Präsentation kommt in Gang: S und M haben ein paar Versatzstücke aus dem Internet gezogen, als PowerPoint zusammengeklatscht und mit Rechtschreibfehlern garniert.
„Können Sie das falsche Wort in Ihrer Präsentation korrigieren? Da steht: ‚trasgene Mutationen‚. Wie muss es heissen?“
Sie haben keine Ahnung.
Ich schreibe es richtig an: „Transgene Mutationen“, frage: „Können Sie diesen Begriff erklären?“
S: „Das sind genetische Fachbegriffe, die sich auf die Gentechnik beziehen.“
Ich hake nach: „Was ist der Unterschied zwischen der Mendelschen Vererbung und der Gentechnik?“
Mendel habe nicht soviel gekonnt wie die moderne Wissenschaft.
Das war’s als Erklärung? Mehr wissen sie nicht. B, ein Schüler aus dem Publikum, erklärt es richtig.
S und M geben vier, fünf Flyer vom Umweltinstitut zur Ansicht herum, die ich ihnen letztes Mal geschenkt hatte. S: „Das sind Infos von verschiedenen Organisationen, die für oder gegen Gentechnik sind.“
S und M erörtern die Grüne Gentechnik: Dafür spreche, dass die Produkte grösser werden und länger frisch bleiben; dagegen spreche, dass man noch nicht wisse, ob das alles für den Menschen gut wäre. S persönlich findet Gentechnik gut, denn er wolle seine Tomaten ein paar Monate lang lagern können.
Dafür erntet S die Empörung von zwei Mitschülern, die ihm Faulheit unterstellen: Er könne doch öfter einkaufen gehen, dann brauche er keine Gentomaten.
Ich verteidige S, denn er wird mit falschen Gegenargumenten angegriffen: Wenn S eine Vorratshaltung haben will und dafür das Risiko des Genfutters in Kauf nimmt, ist das seine persönliche Entscheidung, die wir zu respektieren haben. Ich frage, ob es stattdessen andere Gründe gibt, das Referat zu kritisieren?
Usw. usw., ich habe keine Lust, dies mühsame Geschäft hier wiederzugeben, bei dem nur der B mich stützt, da er über ein solides Zeitungswissen verfügt (obwohl er bei der Bundeswehr war – hier lernt man Vorurteile abzulegen).
Die Note fürs Referat: eine 3 – weil’s das erste gewesen ist, es gibt keine Einwände.
Da das Referat viel zu früh fertig ist, mache ich mir den Umstand zunutze, dass wir im Chemieraum sind: Aus dem Wandschrank ziehe ich einen Stapel Infoflyer zur Gentechnik, verteile sie. Meine Lernziele, die mir während des Referats klar wurden: Erstens Quellen bewerten, zweitens Infos entnehmen.
Mit dem ersten Ziel komme ich weit: Die Schüler sollen einschätzen, ob die Infos im vorliegenden Flyer vertrauenswürdig sind? Wer hat die Flyer denn herausgegeben, und wer hat sie bezahlt? Das Umweltinstitut München e.V. – was sind das für Leute?
Der Frontalunterricht führt zu brauchbaren Antworten, die Schüler lernen etwas über PR-Arbeit von Vereinen, Verbänden, Firmen.
Und wie ist die Qualität von Wikipedia einzuschätzen?
Die Schüler haben eine hohe Meinung darüber. Doch erzähle ich ihnen die Wiki-Mär von „Stalins Badezimmer“ in Ostberlin: So habe der Volksmund die Karl-Marx-Allee getauft – wegen der von aussen verkachelten Hochhäuser. Der Urheber dieses falschen Eintrags hatte sich damit einen Scherz erlaubt; später aber konnte er ihn nicht mehr aus dem Wiki löschen oder verändern, da die Redaktion ihm den Segen der Richtigkeit verliehen und den Artikel mit einem Überschreibschutz versehen hatte. Heute, nachdem die Zeitungen darüber berichtet haben, dokumentiert Wikipedia selber diesen Irrtum.
Solche Geschichten mögen die IT-Schüler, denn sie zeigen Schwächen auf, ohne alles zu verwerfen. Da bin ich mit ihnen mal einer Meinung.
Nun zur Gentechnik. Im Flyer findet sich eine kleine Illustration: Werbung aus den 50er Jahren mit dem Slogan: „DDT is good for me“. Das Umweltinstitut behauptet, hier liege eine Parallele vor.
Da die Schüler das DDT allenfalls mit der Muttermilch getrunken, aber keine Ahnung haben, kläre ich sie darüber auf, und so geht die Stunde zu Ende.

Pause

Auf dem Weg ins Lehrerzimmer sinne ich der Präsentation hinterher: Welch ein Schrott! Die Referenten hatten null Ahnung. Warum, zum Teufel, gab‘s dafür eine 3? Doch wohl nur, weil es als PowerPoint dargeboten wurde, was per se einen guten Eindruck macht. Die Reue peitscht mich!

Gnadenlose Stemmarbeiten füllen die Lehrerzimmer mit furchtbarem Dröhnen, so dass ich nur aufs Klo und gleich wieder weg will. Trotzdem brüllt mich der Kollege L an, warnt, dass der B und der T sich verprügelt hätten und immer noch aggressiv seien, und ich hätte die 10 BF 1 ja jetzt im Unterricht. Ich nicke nur, will nicht schreien, und flüchte ins Klo, dann zurück in den Chemieraum.
In diesem Exil treffe ich die Kollegin K.
„Hallo, K, wie sind denn die Chemie-Klausuren bei dir ausgefallen?“
„Welche? In der 12 FOS?“
„Ja, bei mir waren die so schlecht wie immer. Und hast du‘s besser hingekriegt?“
„Ach, du weisst ja. Von Studienreife können wir da schon lange nicht mehr reden. Die Zeiten sind lange vorbei. Ich habe die Noten entsprechend angehoben.“
„Hab ich auch. Das Wiederholen macht ja auch keinen Sinn, sondern nur mehr Arbeit.“
Für den Rest der Pause unterhalten wir uns über unsere Kinder.

5.+6. Std. 10 BFS (Deutsch in der Berufsfachschule)

Heute geht es gut. Die Aggressionen halten sich an Worte, die ich stets zurückweisen kann; immerhin haben ein halbes Dutzend Schüler Arbeitsergebnisse vorzuweisen, sodass wir Ergebnisse vergleichen können – damit meine ich keine Hausaufgaben, sondern die Aufgabe, die in der letzten Stunde bearbeitet werden sollte. Überhaupt lässt es sich immer besser arbeiten, seit immer mehr Schüler nicht mehr kommen – die Anwesenheit pendelt sich bei 60% ein. Die meisten Schwänzer sind eben Realisten, sie wissen: mit ihrer Arbeitshaltung könnten sie es ohnehin nicht schaffen. P allerdings wäre trotz aller Faulheit zu intelligent zum Sitzenbleiben, aber er ist spielsüchtig; die Klassenlehrerin hat beobachtet, dass er, vom Grossvater mit dem Auto vor der Schule abgesetzt, tatsächlich durchs Gebäude läuft; da war er ihr kürzlich begegnet, sie wollte ihn weiterlotsen in den Unterricht, aber er kam ihr durch den Hinterausgang abhanden.
P ist ein typischer Fall von scheiternden Schülern: Die allermeisten sind nicht zu dumm, sondern ihnen fehlt das Mindestmass an Selbst-Disziplin. Auch der C ist so einer, um den es jammerschade ist: Wenn er in den Unterricht kommt und Lust hat, mitzuarbeiten, zeigt er eine erfreuliche Leistung. Aber er kommt zu selten, und noch seltener hat er Lust. Jetzt wiederholt er die 10, und wenn er diesmal nicht die Kurve kriegt, ist er erledigt. Es wären Sozialarbeiter oder Psychologen nötig – teuer, teuer! Noch teurer ist natürlich die Heranzucht von HARTZ-IV-Empfängern. Da aber unsere hässliche Landes-Regierung die Bildung immer weiter kaputtspart, sollte sie, gemeinsam mit der Bundesregierung, konsequenterweise verbieten, dass unfähige, verantwortungslose Möchtegern-Eltern überhaupt Kinder kriegen, am besten sollten diejenigen, die ein unterdurchschnittliches Einkommen haben, gleich sterilisiert werden, das wäre doch wirklich am billigsten …
Diese politisch gewollte Erosion von Chancengerechtigkeit können wir Lehrkräfte kaum aufhalten. Natürlich mahnt die Klassenlehrerin wieder und wieder, wenn sich Fehlzeiten häufen, führt mit den Schülern Einzelgespräche, berät sich mit KollegInnen und dem Abteilungsleiter, lädt die Eltern zu Gesprächen ein – all das bleibt überwiegend fruchtlos. (Kollegin I kann sich dieses Engagement nur deshalb leisten, weil sie ihre Stelle auf die halbe Pflichtstundenzahl reduziert hat, aber trotzdem fast in vollem Umfang arbeitet – wie das Frauen so häufiger machen.)
Die Anwesenheit von fünf Schülerinnen stellt eine zusätzliche Erleichterung dar: Da vier dieser Mädchen beflissen sind, wollen manche Jungs mithalten. Allerdings birgt dann die Bewertung neue Klippen: Die A wollte nicht wahrhaben, dass der B eine 1 kriegte: Das sei total ungerecht! – Dabei bekam A auch ihre 1. – Trotzdem: Der B sei viel schlechter, A bricht vor Empörung in Tränen aus …
Eine neue Aufgabe soll bearbeitet werden, in zwei Schwierigkeitsstufen, weil ich doch weiss, wie gross das Leistungsgefälle hier ist. Aber die schwachen Schüler wollen auch die leichtere Aufgabe nicht annehmen, weil sie allgemein mit schriftlichen Sachen nichts zu tun haben wollen. Tja, daran kann ich nicht viel ändern, ich muss nur aufpassen, dass sie nicht zu sehr rumflippen …

Mittagspause 13.00-13.30

Mit dem Spinatkuchen von gestern im Lehrerzimmer. Unser Schulleiter gesellt sich zu uns.
„Müssen wir denn fürchten, dass Sie bald in Pension gehen, Herr A?“
In zwei Jahren wolle er in die passive Altersteilzeit.
„Dann werden Sie bis dahin ja auch nochmal eine Schulinspektion überstehen müssen?“
„Doch wohl hoffentlich nicht!“
„Aber die ersten Schulen haben schon ihre zweite Inspektion bekommen.“
„Die Berufsschulen nicht. Da gibt es immer noch welche, die noch nicht mal ihre erste hatten. So ein Affentheater will ich auch nie mehr mitmachen!“
Wir kichern nur, ohne Worte geben wir ihm recht: „Affentheater“ trifft es punktgenau: Wir machen das Theater für die Affen des IQ (IQ = Institut für Qualitätssicherung, in Hessen zuständig für Schulentwicklung und Schulinspektionen), die es sehen wollen. Das war ungeheuer nervig, all die bürokratische Zusatzarbeit zu bewältigen, Berge von Papieren zu präparieren, alles nur für die Affen, aber immerhin klappte unser Theater des Vorführunterrichts so gut, dass die Affenbande uns ein respektables Zeugnis ausstellte; kritisiert wurde vor allem, dass das Schulgebäude arg marode ist – wer hätte das gedacht!

7.+8. Std. 11 FO IT (Deutsch)

Je leistungsschwächer die Klasse, desto weniger geht‘s noch am Nachmittag. Die Schule aber tut so, als sei jeder von 8 bis 15 Uhr voll konzentrationsfähig; die halbstündige Mittagspause hilft da nichts, weil man allenfalls nur essen kann, aber beim Mittagstisch sitzen fast nur LehrerInnen, die Schüler latschen zum Supermarkt, von dem sie sich den ganzen Tag lang ernähren, und lungern dann auf dem Rest-Schulhof neben der Baustelle und auf einem schmalen Bürgersteig herum, wo es nichts gibt als Asphalt, Zigarettenkippen und Dreck, der mit Spucke eine Suspension bildet.
Diese Fachoberschüler sind von Anfang an eher lethargisch gewesen, aber seit wir die Lektüre haben, geht es immer schlechter. Dabei habe ich mir Mühe gegeben, ihnen Lektüre-Themen anzubieten, die ihrer KFZ-Fachrichtung nahekommt: So hat sich eine grosse Mehrheit auch für den Roman „Lohn der Angst“ entschieden. Und, motiviert sie das?
Wieder hat nur einer das Buch weiter gelesen. So wird der dritte Test (zur Überprüfung der Lese-Hausaufgabe) auch ein Flop. Und wie soll man da unterrichten?
Wir haben schon vier Stunden damit verbraucht, die ersten Abschnitte gemeinsam zu lesen und zu interpretieren. Ich dachte, dadurch seien sie in die Geschichte hineingekommen und würden gerne zuhause weiter lesen. So kommen wir nicht voran.
Nun, ich atme tief durch und lasse eine Seite vorlesen. Dann fordere ich auf, O’Brian, eine der Figuren, zu charakterisieren. Nach ein paar Minuten Bedenkzeit kommt als Ergebnis nur: „nett“.
Ich fordere mehr Differenzierung.
Niemand meldet sich.
Ich muss massiv werden, bleibe aber noch ruhig, indem ich aus dem Buch zitiere:
„Mit einem Satz stürzte sich O’Brian auf ihn. Er war immer brutal, aber niemand hatte ihn mit solcher Wut gesehen … Er packte den Burschen mit der linken Hand und zerrte ihn aus dem Sessel. Eine Zornesader stand prall auf seiner Stirn. Seine Augen waren rot unterlaufen. Er schnaubte wie ein Tier, bevor er sprach: ‚You rascal, you fucking rascal!‚ “ Ich springe auf, renne zum nächstbesten niedergebeugten Schläfer, fasse ihn an den Schultern, schüttle ihn auf und schreie gurgelnd: „You fucking rascal, you fucking rascal!
Alle wachen auf. Was war denn das?
„Und?“ rufe ich, „war das nett? Ist der O’Brian wirklich nett?!“
Ein Schüler protestiert: „Sie haben einen Schüler angegriffen! Das dürfen Sie doch gar nicht!“
„Was darf ich nicht! Ich versuche euch hier was beizubringen! Darf ich euch nichts beibringen?“
„Aber Sie dürfen uns nicht so anfassen!“
„Ja, wie kann ich euch denn anders etwas lehren?“
Sie müssen doch mal mitkriegen, dass dieser Unterricht hier real ist! Keine Bildschirm-Unterhaltung, die man auch so im Hintergrund dahin laufen lassen oder abschalten kann, sondern man wird konfrontiert mit einem Lehrer, einem lebenden Menschen aus Fleisch und Blut.
Die Sache mit dem Anfassen wird schnell entschuldigt: Es war ein Rollenspiel, wenn auch der Schüler unfreiwillig „mitspielen“ musste.

Meine schauspielerischen Einlage erweist sich als Strohfeuer: Die Schüler sollen nun in Partnerarbeit eine Charakterisierung verfassen, können aber kaum ihre Stifte halten.

Selber habe ich für heute aufgegeben, hocke an meinem Pult und lasse nach.

Müde gucke ich mal auf, sehe ein schönes Bild: wie der Ü seinen Kopf auf ein grosses, dickes Buch stützt. Dafür ist so ein Wälzer ihm wohl doch nütze?
Aber was ist denn das für ein Buch? Und arbeitet er etwa damit?
Neugierig stehe ich auf, schlendere nach hinten.
Ü ist auf der Schwarte dauergestützt, keinerlei Anzeichen geistiger Tätigkeit.
„Was haben Sie denn da!“
Er zeigt es mir: „Langenscheidt: Englisch-Deutsch. Enzyklopädie, Band 1“
„Woher ist das?“
Ü deutet auf den Wandschrank hinter sich.
Ach so, er hat einfach das Buch als Hilfsmittel aus dem Schrank benutzt. Eigentlich handelt es sich hier um keine Schülerhandbibliothek, sondern um einen Lernmittel-Schrank, der abgeschlossen sein müsste, da diese Schulbücher an die Schüler nur verliehen werden, wenn sie dafür unterschreiben und haften. Aber alle Schranktüren wurden schon vor wer-weiss-wie-vielen Wochen aufgebrochen, und der Hausmeister repariert nichts mehr, weil alle unsere Schränke in ein paar Jahren im Zuge der Schul-Innensanierung herausgerissen werden sollen.

Mir tut es weh, wenn ich sehe, dass die Bücher zum Freiwild geworden sind, aber sie halten sich wacker: Wofür sollte man sie stehlen, zu Hause gibt’s viel bequemere Kissen, mit denen man sich stützen kann.
Der Ertrag am Ende der Partnerarbeit: Wer in der Viertelstunde zwei Sätze hingekriegt hat, zählt zur Leistungsspitze.

So eindrücklich meine Schüler-Rüttel-Aktion auch gewesen ist, ich bereue sie, denn jetzt kämpfe ich mit Heiserkeit. Und wofür?
Für mein Gewissen, weil ich mal wieder wähnte, mit einer Bildungsmassnahme die Welt retten zu können.

frei

Abends am PC, erhalte ich per E-Mail die Antwort von Frau A, der Humboldt-Fachbereichsleiterin des Aufgabenfelds III, die beim humanistischen Vorstellungsgespräch beteiligt war:

Sehr geehrter Herr I,

auch im Namen von Herrn D möchte ich mich ganz herzlich für Ihre aufrichtige Rückmeldung zu unserem Gespräch bedanken. Selbstverständlich haben wir Verständnis für Ihre Entscheidung und respektieren diese.

Mit herzlichen Grüßen

A

So ist ein Kapitel geschlossen in Güte.

Dienstag, 3.5.11

Kurz vor acht in der Schule, noch genug Zeit, um schnell noch Materialien für die PoWi-Stunden zu kopieren, zum Glück warten nicht mehr viele Kollegen vor den Kopierern, das ist ein Vorteil: seit wir die Talsohle haben, haben wir einen dritten Kopierer für die Aussenstelle bekommen. Und die beiden schnellen Maschinen sind in der Hauptstelle verblieben, dagegen aber deutlich weniger Kollegen.
Leider bleiben meine Kopien im Gerät stecken, nichts geht mehr, am zweiten Kopierer züchtet ein Kollege dicke Lehrskripte: „Was hast du denn da? Ach, Elektrotechnik, kann man dafür so viel kopieren, wie langweilig!“ – Der Kollege lächelt milde.
Es ist 8.00, ich gebe das Kopieren auf und eile in den Unterricht.

1.+2.  Std. 12 Zi-2 (PoWi fürs 3. Lehrjahr der Zimmerer)

Wir fliehen den Baulärm, trotten in einen ruhigeren Raum, den zu finden bei den wenigen SchülerInnen zum Glück kein Problem ist, da ein kleiner Klassenraum meistens frei ist.
Allerdings müssen wir in Kauf nehmen, dass es in dem kleinen Raum keine Jalousien gibt, auch die Vorhänge, die es früher gab, sind abgerissen und grösstenteils verschwunden, so dass den Schülern die tiefe Morgensonne ins Gesicht scheint. So müssen wir erstmal umräumen, damit man sich auch sehen kann.
Ein halbwegs befriedigender Zustand wird erreicht, sodass es langsam beginnen kann: Politik-Wirtschaft, Vorbereitung der Gesellenprüfung, die in vier Wochen erfolgen soll und auch dieses Fach betrifft. Es geht um die „Schuldenbremse“, von da zur Inflation, zur Gewerkschaft, alles plätschert hin in sanftem Unterrichtsgespräch. Die hessische Landesregierung macht den Unterricht langweilig, da sie eine ernsthafte Diskussion unmöglich macht: Alle sind wir uns einig über den Skandal, dass wegen der „Schuldenbremse“ weitere 68 Millionen Euro in der Bildung eingespart werden sollen. Allein, die Kritik reicht allenfalls zur gemächlichen Schelte, niemanden reisst es empört vom Stuhl, dass dann der LehrerInnenmangel in ein paar Jahren nicht kleiner, sondern grösser sein wird, wenn Hessen 1ooo Lehrer weniger ausbildet. Auch haben wir uns verloren: Diese Kritik ist nicht prüfungsrelevant.

Pause

Auf dem Weg ins Lehrerzimmer fällt mir gleich ein, dass ich in den nächsten Stunden die Brennstoffzelle in Betrieb nehmen will. Also laufe ich sogleich zum EIBE-Klassenraum (EIBE ist ein vom Arbeitsamt geförderter einjähriger Bildungsgang zur Berufsvorbereitung, den Schüler mit oder ohne Hauptschulabschluss besuchen), vor dem ein paar Schüler herumlungern; nehme den G mit in den Physikraum, um die Brennstoffzelle aus der Sammlung zu holen. Sie ist dort nicht zu finden. Auch der Kollege im Physikraum kann sich das nicht erklären. Wir suchen noch eine Weile, vergebens. Die Pause ist schon zu Ende.

Ratlos gehe ich mit G in den Chemie-Sammlungsraum, um irgendeinen Ersatz zu suchen, die Zeit drängt, ich nehme einfach mit, was auf einem Wagen steht: eine galvanische Zelle. Wir packen das Zeug zusammen und nehmen es mit in den Klassenraum.

3.+4. Std. Kl. 10 EIBE-6 (Naturwissenschaft im berufsvorbereitenden Bildungsgang)

Wir sind fünf Minuten zu spät, die halbe Klasse ist schon da. Die anderen trudeln in den nächsten zehn Minuten ein, denn sie kommen wiedermal vom REWE und wollen jetzt ihre warmen Wurstbrötchen essen, was ich nicht erlaube. Das übliche Theater folgt, bis alles weggepackt ist.
Die galvanische Zelle erfüllt ihren Zweck anfangs ganz gut, manche Schüler haben Ideen, die verschiedenen Metall-Elektroden zu kombinieren, wir ziehen Schlussfolgerungen, protokollieren alles an der Tafel. Das alles füllt aber den Rest dieser Doppelstunde nicht – wir sind eine Viertelstunde vorher fertig, weil keiner meine Tafelanschriften ins Heft kopieren will. Weil aber viele Schüler mündlich ganz interessiert mitgearbeitet haben und grössere Störungen ausblieben, erlaube ich, dass nach einer kurzen Nachbesprechung die Schüler früher in die Pause gehen. Nicht ohne Grund sind die Unterrichtsstunden in der Sonderschule nur 40 Minuten lang.

Pause

Ja, ich mache jetzt wirklich mal eine Pause. Setze Teewasser auf. Natürlich schlechten Gewissens, ich dürfte die EIBE-Klasse nicht unbeaufsichtigt lassen. Aber der Z, der immer Zoff anzettelt, fehlte, deshalb war’s auch so friedlich. Trotzdem darf ich nicht mehr so früh Schluss machen.
Mit meinem Tee wandere ich durchs Schulgebäude, vergewissere mich, dass meine EIBE friedlich ist; schliesse den kleinen Raum 244 auf, den die Fächer Deutsch, Religion, Englisch, Politik mit der Metalltechnik teilen müssen (dabei hat die Metalltechnik noch viele weitere Nebenräume für sich allein). Der 244 ist allerdings vollgepfropft mit dem Gerümpel der Mechatroniker, denn der Mechatronik-Nebenraum musste für die Sanierungsarbeiten ausgeräumt werden. Egal, Hauptsache ich habe Zugang zu meinen Registerschränken; ich nutze die Pause zum Aufräumen meiner Arbeitsblätter.

5.+6. Std. Vertretungsstunden in der 11 BG-DV (Deutsch im Beruflichen Gymnasium)

Die Koll L hat der Klasse einen Arbeitsauftrag gegeben, den die fünf noch ausharrenden SchülerInnen in aller Stille, teils mit Handys, zu verrichten vorgeben. Ich schaue mal, was es ist: eine Sachtextanalyse. Ich könnte ihnen helfen, aber niemand fordert mich an. So will ich mich nicht aufdrängen und lasse mich ebenso still am Lehrerpult nieder, wo ich im neuen Heft der „Informationen zur politischen Bildung“ über Massenmedien lese.
Eine Schülerin raunt ihrem Nachbarn eine Inhaltsangabe von Lessings Nathan zu, den sie als nächstes kriegen werden. Ich kann mein Glück kaum fassen, dass ich guten Gewissens meine Ruhe haben kann.
Plötzlich höre ich eine Schülerin zum Nachbarn sagen: „Mein Schluckauf ist weg!“
Eine passende Entgegnung liegt mir auf der Zunge: „Das solltest du gleich mal twittern“, aber mein Ruhebedürfnis ist grösser als die Lust zum Sarkasmus.
Noch ein Phänomen in dieser Klasse wundert mich: Wir sitzen unsere Zeit ab bis exakt 13.00 Uhr. Niemand fragt, ob er früher gehen dürfe – obwohl sie hinterher keinen Unterricht mehr haben.

Mittagspause 13.00-13.30

Schnell das Kopieren nachholen: Für die nächsten Stunden brauche ich die Materialien dringend.
Ich ziehe den Klassensatz geheftet und gelocht aus der Maschine, eile in die Küche, hole Geschirr und Erdnussmus, packe meine Brote aus, setze mich mit meinem Essen ins Lehrerzimmer, schmiere das Brot.

„Isst du immer Erdnussbutter?“ fragt ein Kollege höflich.
„Das ist so praktisch, da brauche ich nur die Brotscheiben mitzubringen, alles andere habe ich hier. Früher habe ich jeden Tag mein Schulbrot mit Erdnussbutter gegessen. Dreizehn Jahre lang. Heute nur ein-, zweimal in der Woche.“

„Dreizehn Jahre lang dasselbe! Da war ja schon früh klar, dass du Beamter werden musstest!“
„Naja, ich habe nichts gegen die Wiederholung des Guten.“
Die EIBE-6-Schüler fallen auf, weil sie die ganze Zeit auf der Baustelle („Betreten verboten“) herumlaufen. Kollege M öffnet das Fenster; er pfeift sie zurück. Dabei arbeitet dort gerade gar keiner.
Ich werfe verstohlen ein: „Früher habe ich mit Vorliebe auf Baustellen gespielt.“
Niemand geht darauf ein. Es ist ja klar: Der kindliche Spass ist vergangen. Wir stehen hier auf der Seite der Exekutive, der Spielverderber.
Immerhin bin ich erleichtert, dass die Baustellen-Übertretung meiner EIBE-Klasse nicht passiert ist, nachdem ich sie früher entlassen hatte.
So lasse ich mir mein Erdnussbrot schmecken – froh, dass ich im Herzen doch nicht ganz Beamter geworden bin.

7.+8. Std. 12 Zi-1 (PoWi fürs 3. Lehrjahr der Zimmerer, Parallelklasse)

Der M nervt wieder: Jetzt will er seinen Deutsch-Test zurückhaben, den er letztes Mal nachschreiben durfte – schon widerwillig hatte ich ihm das Nachschreiben gewährt. Warum widerwillig? Das war eine Spätfolge so einer Marterstunde, an die ich mich höchst ungern erinnern lasse:
Diese Zimmerer der 12 Zi-2 sind eine der Klassen, die man lieber nicht hätte. Am allerunliebsten natürlich nachmittags. Was sollte ich machen? Ich versuchte, den Auftrag zu erfüllen: Unterricht abzuhalten. Der Versuch, mit dieser Klasse Literatur zu lesen, war schnell am meinungsführenden BILD-Niveau aufgelaufen: selbstbewusste BILD-Leser vergällten mir meine Weltliteratur mit unflätigen, dummdreisten Bemerkungen, die zu bekämpfen ich in der Klasse keine Verbündeten fand. Stattdessen klingelte bei einem Schüler das Handy, mitten im Unterrichtsgespräch. Auf meine Aufforderung, das abzustellen, holte der M sein Handy heraus und telefonierte völlig ungeniert. Nachdem ich den Druck erhöhte, beendete er das Gespräch und rechtfertigte sich:
„Das war mein Chef. Ich musste mit ihm telefonieren. Mein Chef verlangt von mir, dass ich immer erreichbar sein muss.“

„Jetzt ist das Mass aber voll“, schimpfte ich, „erst stören Sie den Unterricht mit ihrem unerlaubten Gespräch, dann behaupten Sie auch noch so einen Unsinn! Damit ist für Sie heute Schluss. Sie müssen jetzt den Unterricht verlassen!“
M weigerte sich, zu gehen, da ihm Unrecht geschehe; ich musste nachdrücklich, gegen viel Protest, Geschimpfe und Drohungen durchsetzen, dass er ging.
Nach diesem über fünf Minuten währenden Ärgernis traf ich eine Entscheidung:
„So, wir machen jetzt Schluss mit der Literatur. Das macht in dieser Klasse keinen Sinn. Sie bekommen gleich eine Übung zur Grammatik oder Rechtschreibung, die ich dann einsammle und benote.“
Flugs suchte ich im 244 nach Arbeitsblättern, wählte eine Grammatik mit dem Niveau von Klasse 5/6, mit der ich, wie ich gleich sah, ins Schwarze traf: Die Schüler verstanden die Aufgabe, und sie schrieben alle brav die konjugierten Formen in den Lückentext ein. Ich brauchte dabei nur Aufsicht zu führen, hatte meine Ruhe und wunderte mich still, dass die Schüler diese stumpfsinnige Arbeit nicht als Strafe empfanden. Ich jedenfalls, so erleichtert ich im ersten Moment auch war, empfand es sehr wohl als Strafe, sobald der Klassensatz zur Korrektur vor mir lag.

Indes hatte M das Arbeitsblatt infolge seines Ausschlusses nicht bearbeiten können. Dummerweise beharrte ich nicht auf der Note 6 als Konsequenz seines Rausschmisses, sondern liess ihn im leeren Nebenraum denselben Test nachschreiben, den ich der übrigen Klasse schon vorher korrigiert zurückgegeben hatte. Und ich beachtete nicht, dass dieser Nebenraum drei Türen hat, die von innen geöffnet werden konnten. Das zog wiederum ungehörige Ereignisse nach sich, unter die ich jetzt endlich einen Schlussstrich ziehen will! Ich will M‘s Test am liebsten einstampfen. Aber ich fange mal ganz vorsichtig an:
„Ihren Test kann ich Ihnen zurückgeben, aber ich habe ihn nicht bewertet.“
„Warum nicht?“
„Wegen einer Unregelmässigkeit: Als ich letzte Woche in den Nebenraum ging, um den Test von Ihnen abzuholen, bemerkte ich, dass einer unbefugt bei Ihnen war; der flüchtete gerade aus der Tür zum Gang und schlug die Tür hinter sich zu. Ich stellte ihm nach, aber der rannte so schnell um die Ecke, wie ein Hase auf der Flucht, sodass ich nur noch seine Ferse sah.“
„Was hat das denn mit mir zu tun?“
„Das sieht nach einem Täuschungsversuch aus. Warum flüchtet der denn sonst? Wie ein Hase?!“ Ich hoffe, der M packt mich nicht bei einer Schwachstelle: dass ich seinen Test angesichts der vorliegenden Unregelmäßigkeit überhaupt zur Korrektur annahm. Erst zuhause, als ich mich wunderte, dass M das ganze Blatt fehlerlos ausgefüllt hat, kam ich darauf, dass eine Täuschung vorliegen müsste.
Ich habe Glück, denn M wendet eine andere Verteidigungsstrategie ein: „Sie können nichts beweisen. Ich habe keine Hilfe bekommen. Sie müssen meinen Test bewerten!“
Nun hebe ich die Stimme: „Ich werde Ihren Test keinesfalls bewerten. Bei Unregelmässigkeiten keine Bewertung! Solche Hasenfüsse im Haus sind eindeutig eine Unregelmässigkeit. Es wäre unfair den anderen gegenüber, einem Schüler wo etwas durchgehen zu lassen.“
M gibt sich nicht geschlagen: Er fragt nach seiner Deutschnote.
Ich schaue in meine Tabelle und überschlage: Es ist egal, ob er in dem Test eine 6 oder ein 1 hat – seine 3 in Deutsch ist stabil.
Diese Aussage beschwichtigt den M, obwohl er nochmal nachlegt, dass ihm Unrecht getan worden sei: Es sei erlaubt, in der Schule so herumzulaufen wie man wolle, egal ob man rennt oder trottet.“Eine Klausursituation zu verletzen, ist nicht erlaubt“, halte ich dagegen, aber M meint, er hätte als Zeugnisnote eine 2 verdient. Auch ich meine, dass hier Unrecht geschieht, denn diesem Nervbolzen und Nörgler will ich eigentlich keine 3 geben. Aber leider ist der M intelligent, so dass er, wenn er mal Leistungen erbringt, keine schlechten Ergebnisse zeitigt. Auch andere Schüler werden aufmerksam: Wenn der M eine 3 kriegt, da …
Ich wende das leidige Thema ab mit der Begründung, dass wir heute kein Deutsch, sondern PoWi haben. Das Thema der Stunde ist dasselbe wie in der Parallelklasse, aber jetzt, am Nachmittag, ist die Arbeitsatmosphäre so desolat, dass mit der Klasse kaum etwas anzufangen ist.
Eine Erleichterung ist mir, dass mehrere Schüler in den CAD-Raum dürfen, um die Zeichnungen ihrer Gesellenstücke auszudrucken – der Abteilungsleiter hat mich um Freistellung gebeten, und so läuft mir fast die halbe Klasse davon.
Die Zurückgebliebenen haben erst recht keine Lust.
Ich moralisiere: „Leute, egal ob ihr Lust habt oder nicht: Ihr habt bald eure Gesellenprüfung, dafür müsst ihr etwas tun!“
„Genau, warum sitzen wir dann noch hier? Wir haben Wichtigeres zu tun!“
„Wichtigeres? Ist denn der Prüfungsstoff nicht wichtig? Ihr habt doch auch eine Prüfung in Politik-Wirtschaft! Genau diesen Stoff sollt ihr jetzt lernen!“
„Sie wissen doch gar nicht, was in der Prüfung drankommt.“
„Das stimmt, die Prüfungsklausur stellt ja die Handwerkskammer. Aber es ist doch klar, was der Prüfungsstoff ist!“
Vergebliche Mühe: In dieser Klasse nützt es nichts, sich als Lernhelfer zu präsentieren. Wer nichts lernen will, will auch keine Hilfe dafür haben.
Ich erzähle das Beispiel eines Schülers, der vor der Gesellenprüfung jedes Lernen ablehnte mit der Begründung, er habe sich dafür den Tag vor der Prüfung Urlaub genommen – die Prüfung verlief nicht zu seiner Zufriedenheit.
Meine Geschichte fruchtet nichts. Obendrein läuft nun vor den Fenstern ein Arbeiter auf dem Gerüst herum; er will eine Jalousie anbringen. Die Schüler lassen sich in Bann nehmen von dem bewegten Körper, dessen Kopf man nicht sieht, und feixen herum. Nicht auszudenken, wie sie mir durchgehen würden, wenn‘s ein weiblicher Körper wäre!
Ich gebe diese Stunde für verloren. Um wenigstens der Form Genüge zu tun, teile ich die Arbeitsblätter aus, gebe den Auftrag, die Aufgaben zu erledigen.

Im Grunde gibt es in dieser Klasse nur einen Schüler, der ein Zimmermann ist, nämlich S – er ist reif; die anderen sind bestenfalls Zimmerer, sozusagen unerwachsen. Sie schlunzen herum, arbeiten nichts, das einzige, was man von ihnen erwarten kann, sind Beschwerden. Welch ein Kontrast zur Zi-2, der Parallelklasse, in der fast ausschliesslich Zimmermänner und Zimmerfrauen lernen.
Warum ist jene Klasse so viel besser? Weil die meisten SchülerInnen der Zi-2 in der gemeinnützigen „Jugendschmiede“ ihre Lehre machen, wo sie von Sozialpädagogen eng betreut werden. Leider hat das Land Hessen seine Zuschüsse für diese Einrichtungen zur Jugendförderung gestrichen, sodass keine dieser guten SchülerInnen mehr nachkommen können („Generationengerechtigkeit“ der hessischen „Schuldenbremse“).

Als S schon längst mit einem Arbeitsblatt fertig ist, unterhalte ich mich ein bisschen mit ihm, erfahre, dass er als Kind eines US-Soldaten zweisprachig aufgewachsen sei.
Ich bin begeistert. „Wie ich Sie darum beneide! Können Sie denn auch englisch lesen?“
Er bejaht.
Da hole ich einen amerikanischen Roman, den ich zufällig in der Tasche habe, heraus: Charles Bukowski: Factotum. Habe daraus ein paar Seiten kopiert, um sie zwei EnglischkollegInnen zu geben – in der Meinung, dass das ein Stoff sei, der bei unseren Schülern ankäme. Gebe ich S zu lesen.
Für den Rest der Stunde liest der S darin.
Dieses Bild des lesenden S versöhnt mich für alle Nerven, die ich in dieser Klasse einbüssen musste, und es nährt mich, als der S mir den Bukowski am Ende zurückgibt mit dem Kommentar: „Das Buch ist gut.“

Als alle draussen sind, bemerke ich auf den Tischen drei liegengelassene Arbeitsblätter, natürlich unberührt. (Dabei hatte ich sie sogar gelocht.) Ich nehme sie mit.

Nachmittag: Fachkonferenz Deutsch

Kurz nach 15 Uhr schliesse ich, zufrieden, den Klassenraum ab, schlendere ins Lehrerzimmer, habe es nicht eilig, da ich mich ja nur für die Fachkonferenz verspäte, zu der ich ohnehin zu spät kommen muss, da sie in der „Talsohle“ stattfindet und schon um 15.10 beginnen soll. Immerhin bewirkt die Bergabfahrt, dass ich schon um 15.20 dort eintreffe. Habe aber Durst, es gibt in der Talsohle nur Nestlé-Automaten mit Plastik-Getränken, und so vertrocknet bin ich noch nicht, als dass ich dieses Zeug abnähme.

Die KollegInnen konferieren über den Einsatzplan fürs nächste Schuljahr. Es sieht so aus, als wäre das BG (berufliche Gymnasium) schon vergeben.
Ich melde mich zu Wort, trage beherzt mein Anliegen vor: „Es tut mir Leid, wenn ich jetzt den Plan durcheinander bringe, aber ich muss einfach auch mal ins BG. Ich brauche das, mir fehlt eine intellektuelle Herausforderung.“
Kollegin L will mich desillusionieren: „Du kennst unser BG nicht – da gibt’s nichts Intellektuelles. Wenn du schon siehst, wie die lethargisch herumsitzen. Kein Funken Geist.“
„Jaja, ich ahne, wie’s bestellt ist, war ja heute als Vertretung in der 11 DV. Sei’s drum, ich brauche mal eine Abwechslung. Allein, dass dort klassische Lektüren gelesen werden, wäre für mich mal eine wichtige Neuerung.“
Die Konferenz willfahrt mir. Ich freue mich über die netten KollegInnen und will trinken.
Neidisch schaue ich auf den Kaffee-Becher meiner Nachbarin. Seufzend akzeptiere ich, dass, wer ein richtiges Leben im falschen führen will, das Unmögliche versucht. Ich stehe auf, gehe in den Snack-Verkaufsraum, finde weder Gläser noch Tassen, stehle einen Nestlé-Pappbecher, fülle ihn in der Toilette mit Leitungswasser, stille meinen Durst, nehme noch einen Becher voll mit in die Konferenz.
Als der vorletzte Punkt, „Anschaffungswünsche“, drankommt, bitte ich: „Ich habe nur den Wunsch, meinen Zug zu bekommen.“
Das wird mir gewährt.
Ich strample den Berg hinauf, was länger dauert als ich dachte, sodass ich verschwitzt um 16.53 h am Bahnsteig ankomme. Kurz darauf läuft der Zug ein, ich kauere meinen heissen Kopf zwischen Sitz und Fenster, die Augen fallen mir zu, eigentlich sollte ich mir noch Vermerke über die mündlichen Leistungen machen, aber die Natur setzt sich durch.

⇒⇒⇒  Pisa von innen II (1)

⇒⇒⇒  Pisa von innen II (3)

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