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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen II (1)

von © Salias I.

Vorwort des Herausgebers: Als wir vor ziemlich genau einem Jahr – zum Beginn des neuen Schuljahrs – die erste Folge einer Schulerzählung „Pisa von innen“ publizierten, betraten wir – nicht nur als Nichtpädagoge – Neuland. Nach der abschliessenden 23. Folge hatten wir mit der Erzählung ein interessiertes grösseres Publikum erreicht. Nun hat der uns persönlich bekannte Autor – der als in Hessen tätiger Studienrat authentisch, aus verständlichen Gründen jedoch unter Pseudonym schreibt – eine in fünf Kapitel gegliederte Folgeerzählung verfasst, die wir, wiederum zum Beginn eines Schuljahrs, das Licht der Welt erblicken lassen. Ein jeder möge sich sein eigenes Urteil über den Zustand der hessischen Berufsschulpolitik und die damit einhergehenden absehbaren Folgen für unsere Gesellschaft bilden. Und damit überlassen wir Salias I. erneut das Wort.

Im April 11

Die Osterferien beginnen mit steigender Temperatur: Freitag, Abend, es sind 38,0° C Fieber. Brav durchgehalten im Dienst, bis zum letzten Schultag. Ich weiss, woher das Fieber kommt: Es ist Psycho – die Entscheidungs-Krise.

Warum, ich wollte ans Gymnasium wechseln, stellte einen Versetzungsantrag, mit der Begründung, dass ich nicht mehr so weit pendeln will. Von meiner Schule wurde ich freigegeben. Und ein humanistisches Gymnasium, nennen wir es Humboldt-Gymnasium, hat Bedarf in meinen Fächern, keine fünf Fahrradminuten von meiner Wohnung entfernt! Aber will ich wirklich dorthin?

Um die mir fremde Schulform kennenzulernen, hospitierte ich in verschiedenen Jahrgangsstufen des Humboldt-Gymnasiums:

Klasse 5 – das waren so viele kleine Wesen, süss und aufgeweckt, standen bei ihrer altehrwürdigen Lehrerin an, um für ihre schön geschriebene Hausaufgabe einen farbigen Stempelabdruck ins Heft zu bekommen. Kein Problem, neunzig Minuten lang aufzupassen, sie ermahnten sich gegenseitig schon bei Kleinigkeiten, über die ich hinwegsehen würde.

Klasse 7, die als schwierig gilt: Was habe ich da Böses gesehen? Manche Schülerinnen langweilten sich: eine schaute still aus dem Fenster, eine andere las, ohne Auftrag, in ihrem Schulheft. Ein Schüler, Ö, türkeistämmig, lauerte seinem Physiklehrer an der Tür auf, um ihn zu erschrecken; auch machte er öfter dumme Bemerkungen. Dafür wurde er hin und wieder mit zahmen Worten ermahnt; seine Kameraden ignorierten ihn meistens. Ö war gar nicht böse, einfach ein Zappeltyp, der irgendeine Anerkennung suchte, die er nicht fand, weil er nichts leistete.

Nach der Stunde fragte ich den Humboldt-Kollegen, ob sie in diesem Fall keine pädagogischen Massnahmen ergreifen würden?

Er wisse nicht, ob die Klassenlehrerin so etwas plane. Seiner Einschätzung nach könne sich dieser Schüler höchstens noch zwei, drei Monate im Gymnasium halten.

Meine Erschütterung zeigte ich nicht: dass ein junger Mensch hier keine Zuwendung erhält ausser ein paar Monate tote Zeit, in denen er beweisen muss, dass er Leistungen zustande bringt. Trotzdem glaubte ich, dass ich, wenn ich dort Kollege wäre, mich pädagogisch engagieren und versuchen würde, so einen Schüler zu retten.

Die Vorteile einer Versetzung schienen mir unschlagbar: Kein Zeitverlust mehr beim Schulweg, Ersparnis von 1.250 Euro für die DB-Jahreskarte. Keine Mühe mehr, den Stoff rüberzubringen. Dafür hätte ich die erforderliche Mehrarbeit (mehr Korrekturen, erst mal auch mehr Vorbereitung) in Kauf genommen. Ich unterrichte einfach gern, ich liebe meinen Beruf, wenn Schüler etwas verstehen und lernen. Mehr noch, ich schmachte nach intelligenten Schülern, die nicht nur schnell verstehen, sondern auch nachfragen und diskutieren. So wie in der Humboldt-Zehn, in der ich auch hospitierte: aufmerksame Gymnasiasten, die eifrig in ihre Hefte protokollierten, wenn die Lehrerin nur sagte: „Als nächstes beschäftigen wir uns mit der Föderalismusreform“: die diesen sperrigen, blutleeren Begriff als Überschrift schon unterstrichen, kaum dass sie zu Ende gesprochen hatte. Oder in der Dreizehn, Chemie-Grundkurs: Der Lehrer an der Tafel macht scheinbar einen Fehler, ein Schüler merkt es, moniert den Fehler, der Lehrer korrigiert, wird wieder unsicher, fragt die Klasse, wie ist es denn nun richtig? Und die Klasse fängt an zu disputieren, der Lehrer argumentiert gegen gute Schüler, und die Vernunft setzt sich schliesslich durch, die Vernunft, die richtigen Argumente! Ich könnte heulen vor Sehnsucht, nach all den langen langen Jahren der Entbehrung – fast schon vergessen, die glücklichen Jahre des Studiums, der intellektuellen Herausforderung, der Freude am Disputieren …

So von Verheissung aufgepeitscht gelangte ich ins Bewerbungsgespräch mit dem Humboldt-Schulleiter und seiner Aufgabenfeldleiterin, die für Chemie zuständig ist.

Das verlief ganz positiv, da ich deutlich machen konnte, dass mir in den beruflichen Schulen auf Dauer die intellektuelle Herausforderung fehlt. Ich lobte die erfreuliche Arbeitshaltung der Gymnasiasten, die ich in den Hospitationen beobachtete. Jedoch beklagte ich im Vorstellungsgespräch, dass gerade diese SchülerInnen in den anderen Schulformen als Vorbilder und HelferInnen fehlen, und dass umgekehrt den Gymnasiasten die „niederen“ Schüler fehlen, um ihnen mehr Bodenhaftung zu verschaffen; ich plädierte für eine Gemeinschaftsschule.

Der Schulleiter indes war davon nicht so angetan – aber das war noch nicht der kritische Punkt.

Ganz naiv schwärmte ich über ein Zusatz-Angebot, über das ich auf der Homepage des Humboldt-Gymnasiums gelesen hatte:

„Die Fachschaft Chemie bietet für Schüler der Quinta die AG Chemie für Jungchemiker an. Zielsetzung dieser AG ist es, Schüler möglichst früh an das Beobachten, Examinieren und Protokollieren von Naturphänomenen heranzuführen. Die Erfolge, die das Fach Chemie hier aufweist, werden durch Evaluationen zahlreicher AG-Jahrgänge bestätigt.“

Im Bewerbungsgespräch nun lobte ich also diese AG, in der ich, so gab ich an, auch gerne unterrichten würde, denn mir schien es ein pädagogisch guter Ansatz, besonders schwächere Schüler bereits in Klasse 6 für dieses Fach, dessen regulärer Unterricht in Klasse 7 beginnt, ohne Leistungsdruck zu motivieren und ihr Interesse zu wecken, ihnen gar einen kleinen Vorsprung zu verschaffen – gibt es doch viele Schüler, die in Chemie die Lust verlieren, weil es ab der Einführung der Atommodelle so theorielastig wird und Schülerexperimente zu kurz kommen. Ja, ich hegte schon die Phantasie, dass ich die Sechstklässler mit harmlosen Chemikalien frei experimentieren liesse, ohne Anleitung, ohne Leistungsbewertung, ohne Kritik sie junge Forscher sein lasse, ohne Anspruch, etwas offiziell Preisverdächtiges herauszufinden, sondern einfach, um Spass zu haben, von den Stoffen etwas zu lernen – vielleicht mit einfachen Angeboten zum Kristallezüchten oder für Kerzenversuche, so dass gerade die Schwächeren den sinnlichen Zugang zur Chemie finden, im Spielerischen Meister werden können, Selbstvertrauen aufbauen, praktische Grundlagen erfahren und so motiviert dann den normalen Unterricht ab Klasse 7 beginnen…

Der humanistische Schulleiter entgegnete mir: „Nun sollten Sie wissen, Herr I, dass unsere Chemie-AG der Elitebildung dient. Dafür wählen wir nur die leistungsstärksten Schüler aus.“

Diese Worte wirken bei mir wie Gift. Das innere Stechen trat nicht sofort ein, sondern erst auf dem Nachhauseweg, und unwillkürlich spielen Phantasien in meinem Hirn über „Jungchemiker“, diese hochintelligenten oder superfleissigen Schüler auf der Überholspur: wie sie schon in der Sexta zur Elite gemacht werden und ab der Quinta mit ihren zurückgebliebenen Mitschülern im regulären Chemieunterricht zusammensitzen, wo die Nichtchemiker mit ihrem Nichtwissen und ihrem Unverstand hoffnungslos unterlegen vom Unterrichtsgeschehen abgehängt werden und den genialen Jungchemikern nur noch Bewunderung, Neid und Hass zu zollen imstande sind.

Warum nur bringt man nach der Selektion die Guten und die Schlechteren wieder zusammen? Damit die Guten, im Glanze ihrer Spitzenleistungen, abheben, im Bewusstsein, die künftige Elite zu sein? Damit die Durchschnittlichen plötzlich schlecht dastehen? Damit die Schwachen, ganz in den Staub getreten, nur noch würgen können?!

Würgen muss auch ich, als empfindsame Seele, die doch glaubte, dass Chancengleichheit zum heiligen Ethos eines Pädagogen gehöre.

Ade, du holder Glaube, unschuldig und naiv, lass dich begraben von der professionellen, wohl organisierten und planmäßig durchgeführten deutschen Verschärfung der Ungleichheit, Zucht der Elite und der Auslösung niederer Gefühle für die Unteren.

Einen Tag lang wälze ich mich in Fieberschreckensbildern. In einem klaren Moment fasse ich den Entschluss: Die einzige Arznei gegen diese Vergiftung wäre es, einen Brief an die Humanisten zu schreiben, und sogleich formuliert mein ungezügelter Verstand die zentralen Sätze des erforderlichen Schreibens. Sobald meine Kräfte es zulassen, setze ich mich an den PC, und der heilsame Brief fliesst mir, im Geist bereits vollendet, aus den Fingern:

Sehr geehrte Frau A, sehr geehrter Herr D,

in unserem Gespräch gab es eine Einlassung des Herrn xxx, die bei mir eine betrübliche Nachwirkung entfaltet hat. Es handelt sich um Ihre Kennzeichnung des Chemie-Vorbereitungs-Kurses in Jgst.6 als eine Maßnahme zur „Eliteförderung“.

Ganz gewiss habe ich nichts gegen eine Hochbegabtenförderung – ich halte diese für sehr wichtig und humanistisch geboten! Doch kann ich mich nicht damit anfreunden, ausgerechnet besonders Begabten einen Vorsprung für den normalen Unterricht zu verschaffen. Vielmehr würde ich, wie ich Ihnen bereits erklärt habe, dafürhalten, leistungsschwächeren SchülerInnen zu einer besseren Ausgangsbasis für naturwissenschaftliche Methodik zu verhelfen. Hochbegabtenförderung sollte m. E. Zusatz-, Vertiefungs- und Überspringungsangebote unterbreiten anstatt zu bewirken, die übrigen Schüler noch „schlechter“ aussehen zu lassen.

Leider habe ich Ihre Bemerkung zur „Eliteförderung“, die wohl zu meiner Desillusionierung gedacht war, nicht gleich an mich herangelassen. Erst mit etwas Abstand habe ich gefühlt, wie sie mich trifft.

Nun wäre es charakterlos, wenn ich daraus keine Konsequenz zöge, bzw. töricht, Ihre in Ihrer Klarstellung implizierte Botschaft zu ignorieren. So möchte ich Ihnen mittteilen, dass ich, vor die Wahl gestellt, mit Elitebildungskandidaten oder Sonderschülern zu arbeiten, doch die EIBE-oder BGJ-Klassen bevorzuge (und sogar die Fahrt nach Gießen noch in Kauf nehme).

Mit freundlichen Grüßen

I

Damit ist Frieden. So kann ich die Ferien geniessen. Ja, ich merke sogar, dass ich mich auf meine alte Schule freue.

Selbst zum Ferienende hält die gute Laune an: Ich mag meine verkommene Berufsschule plötzlich viel lieber – ist es doch besser und erfüllender, mit geringerem Erfolg das Richtige zu tun als mit grossem Erfolg das Falsche.

Wie ich vom Schulamt höre, ist meine Versetzung abgewendet worden. Gutgut.

So lasse ich den ersten Schultag erwartungsvoll auf mich zukommen.

⇒⇒⇒  Pisa von innen II (2)

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