Stéphane Hessel: Widerstandskämpfer, Diplomat, Schriftsteller
Eine Begegnung in Frankfurt
von Renate Feyerbacher
Fotografien: Renate Feyerbacher und Schauspiel Frankfurt
Ein kleines Buch hat Stéphane Hessel zum Medienstar gemacht. Sein Titel: „Empört Euch!“ Über 1,7 Millionen Mal wurde es bereits auf der ganzen Welt verkauft. Kultstatus hat es erreicht. Soeben ist das notwendige Folgebuch erschienen: „Engagiert Euch!“
Stéphane Hessel am 15. Mai 2011 im Schauspiel Frankfurt; Foto: Renate Feyerbacher
Der Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit hatte in der vergangenen Spielzeit am Schauspiel Frankfurt eine Gesprächsreihe, in der er Künstler, Wissenschaftler und Politiker miteinander konfrontierte. Sie fanden stets am Sonntagmorgen statt. Dieses Mal, am 15. Mai 2011, war das anders: die Veranstaltung begann erst um 18 Uhr mit Verspätung, denn an den Kassen hofften noch viele Menschen, vor allem junge, auf eine Eintrittskarte.
Hochkarätig war die Runde besetzt. Moderator Daniel Cohn-Bendit hatte den französischen Diplomaten Stéphane Hessel und den ehemaligen deutschen Aussenminister Joschka Fischer zur Diskussion eingeladen. Bevor sie sich in das Thema „Realpolitik gestern – heute – morgen. Kann es so weitergehen?“ vertieften, skizzierte Cohn-Bendit wichtige Lebensphasen des französischen Gastes. Dankbar erinnerte er daran, dass Stéphane Hessel 2009 erstmals nicht sozialistisch gewählt habe, sondern die Partei „Europe Écologie – LesVerts“, deren Spitzenkandidat Cohn-Bendit war.
„Joschka Fischer war schon mal stark empört, dann wurde er Diplomat“ – so stellte er seinen Freund vor.
Die Vitalität Stéphane Hessels, der am 20. Oktober 1917 in Berlin geboren wurde, begeistert das Publikum. Lebhaft, in einwandfreiem Deutsch, erzählt der vornehme Monsieur Hessel von seinem Leben, nicht prahlend, aber stolz. Seine Eltern waren der Schriftsteller und Übersetzer Franz Hessel (1880 bis 1941) und die Journalistin Helen Grund (1886 bis 1982). Die Ehe verlief zeitweise turbulent. Die Eltern waren die Blaupause, so nennt es Cohn-Bendit, für den Film „Jules und Jim“. Darin geht es um eine Dreiecksbeziehung: Zwei Männer lieben eine Frau. Stéphanes Mutter hatte sich dem französischen Schriftsteller Henri-Pierre Roché (1879-1959), einem langjährigen Freund seines Vaters, zugewandt, der das jedoch akzeptierte. Der Vater habe erkannt, wie wichtig diese Beziehung für seine Frau gewesen sei. Die Drei seien Freunde gewesen, erzählt der Sohn in einem SPIEGEL-Interview. In dem von François Truffaut 1962 gedrehten Streifen spielt Jeanne Moreau die Mutter und Oskar Werner den Vater von Stéphane, Henri Serre den Jim alias Henri-Pierre Roché. Er schrieb den gleichnamigen Roman erst mit 73 Jahren. Er ist ein Manifest der freien Liebe. „Stéphane war schon bekannt, als er noch nicht bekannt war“ frotzelt Daniel Cohn-Bendit. Man könne zwei Frauen gleichzeitig lieben, so wird Stéphane Hessel in SPIEGEL Online vom 7. Mai 2009 zitiert.
Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Stéphane Hessel; Foto: Schauspiel Frankfurt, Birgit Hupfeld
Stéphane Hessel hat ein Buch mit 88 Gedichten in seinen drei Muttersprachen veröffentlicht: „Ô ma mémoire. Gedichte, die mir unentbehrlich sind.“ Übersetzt von Michael Kogon, dem Sohn von Eugen Kogon, erschienen im Grupello Verlag, 2010.
Hessel lässt sich nicht zweimal bitten und zitiert auswendig ein Hölderlin-Gedicht:
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Frenetischer Beifall belohnt den Rezitator.
Als er 20 Jahre alt ist, wird Hessel, der jüdische Wurzeln hat, Franzose. Zwei Jahre später, es ist das Jahr des Kriegsbeginns 1939, flieht er nach London und schliesst sich dem französischen Widerstand um General Charles de Gaulle (1890 bis 1970) an, der 1940 nach dort geflohen war. Viele Franzosen hätten Philippe Pétain gern gemocht und zu wenige hätten Widerstand geleistet. Die meisten Staaten haben damals das Vichy-Regime des Marschalls anerkannt.
1944 wird Stéphane Hessel nach Frankreich geschickt, um dort das Funknetz der Résistance zu organisieren. Ein Mitstreiter verrät ihn unter der Folter, er wird von der Gestapo verhaftet, kommt nach Buchenwald, er wird zum Tode verurteilt. „Es ist schön, wenn man zum Tode verurteilt wird und immer noch lebt“ – humorvoll, mit feinem Lächeln auf den Gesichtszügen sagt er das.
Im Konzentrationslager Buchenwald trifft er Häftling Nummer 9093, Eugen Kogon, der sechs Jahre seines Lebens dort verbrachte und auf einer Exekutionsliste stand, die kurz vor der Befreiung des Lagers vollstreckt werden sollte.
An diesem 15. Mai 2011 erinnert Stéphane Hessel an diesen deutschen Widerstandskämpfer, der ihm das Leben gerettet hat.
Der Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler Eugen Kogon (1903 bis 1987) war einer der geistigen und moralischen Väter der Bundesrepublik Deutschland. Zusammen mit Walter Dirks gründete er die „Frankfurter Hefte“, eine linkskatholisch geprägte Zeitschrift für Kultur und Politik. Später wird Kogon Professor für Politikwissenschaften an der Technischen Hochschule Darmstadt, er ist Moderator und Leiter des ARD-Politikmagazins „Panorama“.
Für mich unvergesslich ist die Begegnung mit Eugen Kogon, der die letzten Lebensjahre in Königstein wohnte, anlässlich einer Vernissagefeier in meinem Haus. In meiner Erinnerung war das 1973, anlässlich einer A. Paul Weber-Ausstellung in der Galerie im Amtsgericht Bad Vilbel, wo Kogon die Rede hielt. (Kogon hatte 1960 in A. Paul Webers Werk „Mit allen Wassern. Neue Geschichten vom alten Fuchs“ das Vorwort geschrieben.)
Wie es komme, dass Hessel nach dem Krieg sofort für die deutsch-französische Versöhnung eingetreten ist, fragt Moderator Daniel Cohn-Bendit. „Es kam direkt aus der Erfahrung der KZs. In den Konzentrationslagern fühlte man sich als Europäer.“ Er erinnert daran, dass zuerst Deutsche wie Eugen Kogon interniert waren, dann kamen die Ausländer dazu, und sie alle waren gewillt, das freie Europa zu bauen.
Alfred Grosser am 16. September 2010 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt; Foto: Renate Feyerbacher
Stéphane Hessel zählt – wie der 1925 in Frankfurt geborene französische Publizist und Politologe Alfred Grosser – den Freund Eugen Kogon zu den drei eigentlichen „Schöpfern Europas“. Das ist an erster Stelle wohl Jean Monnet (1888 bis 1979), der erste Präsident der Montanunion und erster Ehrenbürger von Europa, auch „Vater Europas“ genannt; dazu gehören auch der französische Aussenminister Robert Schuman und eben Eugen Kogon. Kogon war aktiv in der Union Europäischer Föderalisten, in der Europa-Union Deutschland und Präsident des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung.
Erweitert werde könnte der Kreis um Carlo Schmid (1896 bis 1979), Professor für Politische Wissenschaften unter anderem an der Frankfurter Goethe-Universität und SPD Politiker.
Stéphane Hessel nennt sich einen „falschen“ Diplomaten. Er habe nicht wie die „echten“, die solches sein müssen, beliebt sein wollen und das Metier auch nicht gelernt.
Nachdem er 1945 aus einem Zug ins KZ Bergen-Belsen fliehen konnte, arbeitete er, zurückgekehrt nach Paris, bald in dem UNO-Ausschuss mit, der die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erarbeitete. Sie wurden am 10. Dezember 1948 – dem Geburtsjahr von Joschka Fischer, wie Cohn Bendit bemerkte – verkündet. Der wichtigste Tag im Leben des „Ambassadeur de France“, ein Titel, den ihm sein Land später verlieh.
Hessels Manifest „Empört Euch“ hat ein Journalistenkollege „als energischen Gruss vom Grabesrand“ bezeichnet. Es wiegele nicht auf, es berühre. Ich denke, es tut beides, und es bringt zum Nachdenken. Sicher es ist kein intellektuelles Büchlein, aber eines, das gegen die Gleichgültigkeit, die der Autor als das Schlimmste bezeichnet, angeht. Den jungen Menschen ruft er zu: „Seht Euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt – die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestossenen, der Sinti und Roma … Suchet, ihr werdet finden!“ Er prangert die Macht des Geldes an: „… niemals (war) sie so gross, so egoistisch wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates.“ Von Wutbürgern wird nicht geredet.
Er empört sich über die Situation im Gaza-Streifen, im Westjordanland, und kritisiert die uneinsichtige Haltung Israels. Mit dieser Kritik steht er nicht allein. Alfred Grossers israel-kritische Haltung führte sogar zu einem Eklat in Frankfurt, als die jüdische Gemeinde von der Oberbürgermeisterin dessen Ausladung als Redner verlangte. Er hielt am 9. November 2010 zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 seine Ansprache in der Paulskirche. Die jüdische Familie Grosser musste 1933 Frankfurt verlassen. Daniel Cohn-Bendit: „Meine Sicherheit kann nicht bedeuten, dass ich die andern zerstöre.“
Hessel hat zusammen mit dem Philosophen und Schriftsteller Régis Debray (*1940), ehemals Mitstreiter Che Guevaras, im Oktober 2010 den Gaza-Streifen besucht. Er ist im Gegensatz zu Joschka Fischer davon überzeugt, dass sich Fatah und Hamas in Person von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und des Hamas-Führers Ismail Hanija einigen werden. Fischer: „Wie belastbar ist das?“
Ob er die Intervention in Libyen billige, beantwortet Stéphane Hessel mit einem „Ja“. Die Bevölkerung müsse gegen Tyrannei geschützt werden. Artikel 2 Ziffer 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte rechtfertige das. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstösst, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.“
Die Mehrheit der Franzosen argumentieren so, anders viele Deutsche, die im Einsatz der NATO eine völkerrechtswidrige Handlung sehen. Auch Völkerrechtler sind sich uneins. Mehr als 700 Zivilisten wurden bereits getötet. Warum wird Libyen bombadiert und nicht auch Syrien, wo es ebenfalls einen Diktator gibt? Sind es doch wieder hauptsächlich wirtschaftliche Interessen, weniger die Menschenrechte, die den Westen bewegen?
Angesprochen auf den NATO-Einsatz im Kosovo-Krieg 1999 steht Joschka Fischer, damals Aussenminister, zu diesem Einsatz. Dennoch muss gefragt werden: Was hat er ausser Zerstörung gebracht? Stéphane Hessel: „In Sarajevo sind es drei Gruppen, die sprechen nicht mehr miteinander. Das politische Leben ist zerdrückt.“
„Welche Reform der UN ist möglich?“ Hessels Antwort: „Es ist nicht wichtig, den Sicherheitsrat zu erweitern, sondern einen UN-Sicherheitsrat für Wirtschaft und Soziales zu gründen.“ Notwendig sei ein Gremium, das wirklich Autorität besitze über die finanziellen Strippenzieher. „Nicht die Finanzmärkte dürfen entscheiden.“
Und nun legt Hessel nach: Es genüge nicht, sich nur zu empören. Es müsse gehandelt werden: „Engagiert Euch!“ – so der Titel seines neuen kleinen Buches. Es dokumentiert ein Gespräch Hessels mit Gilles Vanderpooten, einem jungen französischen Journalisten und Ökoaktivisten. In diesem Diskurs fordert der Weltbürger, so nennt sich Hessel selbst, entschiedenes Handeln für die Ökologie.
Stéphane Hessel am 15. Mai 2011 im Schauspiel Frankfurt; Foto: Renate Feyerbacher
Zum Abschluss der Diskussion in Frankfurt gab Daniel Cohn-Bendit dem lebenslangen Widerstandskämpfer die Gelegenheit, das Publikum mit einem französischen Gedicht zu verabschieden. Er wählte „Le Pont Mirabeau“ von Guillaume Apollinaire (1880 bis 1918).
Le Pont Mirabeau
Sous le pont Mirabeau coule la Seine
Et nos amours
Faut-il qu’il m’en souvienne
La joie venait toujours après la peine
Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure
Les mains dans les mains restons face à face
Tandis que sous
Le pont de nos bras passe
Des éternels regards l’onde si lasse
Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure
L’amour s’en va comme cette eau courante
L’amour s’en va
Comme la vie est lente
Et comme l’Espérance est violente
Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure
Passent les jours et passent les semaines
Ni temps passé
Ni les amours reviennent
Sous le pont Mirabeau coule la Seine
Vienne la nuit sonne l’heure
Les jours s’en vont je demeure
Stéphane Hessel: „Empört Euch!“, Ullstein 2010, und „Engagiert Euch!“, Ullstein 2011