Pisa von innen (22)
Pisa von innen
Eine authentische Erzählung
von © Salias I.
Dritter Teil (22)
Besinnung
Anderen etwas beizubringen, sie ein Stück auf den Wegen der Bildung führen dürfen, ist eine der vornehmsten und bedeutendsten Aufgaben, die das Universum für einen Menschen bereit hält. Nur manchmal stehe ich vor dieser Aufgabe und staune. Ich staune, dass Menschen etwas lernen, ich staune, wie schnell sie Gelerntes vergessen, ich staune, dass Menschen gar nichts mehr dazu lernen, im Gegenteil, dass sie dem Lernen so große Widerstände entgegensetzen. Und ich staune, wie fern mir die didaktischen Ideale gerückt sind, die ich in meiner Studienzeit im Kopf hatte.
Trotzdem bin ich im Grunde optimistisch. Zum Ende der Sommerferien freue ich mich auf das neue Schuljahr. Der Zauber des Anfangs: die meisten Schüler sind guten Willens, die Störer brauchen oft zwei, drei Wochen, bevor sie sich trauen, herauszukommen; nur auf den K aus der X2 war schon in der ersten Stunde Verlass: Mitten in der Stunde holte er ein Fresspaket hervor und mampft Brot, Weintrauben, Cola – nur wenige Minuten zuvor hatte ich erklärt, dass das alles im Unterricht verboten ist. Ich hieß ihn also, einzupacken. K reagierte nicht. Ich fuhr in an, ob er denn nicht hören könne? – Er widerstand. – Ich schrie, was er sich denn einbilde, usw. – Bevor das Zeug, Stückchen für Stückchen, vom Tisch war, waren meine Nerven schon verbraucht. Normalerweise ist die Schule schön, wenn wir uns kennen lernen und sich nach und nach auch Humor entwickelt. In der X2 ist das noch nicht soweit. Vielleicht hätte ich sagen sollen, so, das ganze Essenzeug diene uns mal als Experimentiermaterial, das stampfen wir ein, temperieren es eine Woche lang auf 40° und sehen, was dabei herauskommt?
Im großen und ganzen sind die ersten Schulwochen recht anregend, da wir täglich neue Menschen kennen lernen. Allerdings muss ich nebenbei über zweihundert Namen lernen, weil mir die Schüler von zehn Klassen fremd sind; ich photographiere jeden, blättere dann die Konterfeis auf dem Computer durch, pauke zwei, drei Wochen lang die Namen. Das lohnt sich, da ich unabhängig werde von Sitzplänen, die nicht stimmen, souverän über Namensschildern stehe, die manchmal manipuliert sind, und es imponiert den Schülern, wenn ich im Lernen ein Vorbild gebe.
Doch leider scheinen die meisten Schüler andere Vorbilder zu haben, bei denen es um anderes geht als um Schulstoff. So wird es allmählich beschwerlicher, weil ja immer mehr zu lernen ist, auch Hausaufgaben zu machen sind, und Klassenarbeiten alles überprüfen. Das Halbjahreszeugnis prognostiziert knapp der Hälfte der Schüler, dass sie es nicht schaffen werden: „Versetzung gefährdet“, heißt es da, oder: „Der Abschluss ist gefährdet.“ Bis zur nächsten Serie von Klassenarbeiten halten viele an der Illusion fest, dass sie irgendwie durchkämen; dann schreiben sie wieder schlechte Noten, verlieren die Hoffnung. Dabei versuche ich, ihnen von Anfang an die Hoffnung zu nehmen. Hoffnung hilft nichts! Sie sollen lernen! Aber das machen sie nicht. Bestenfalls 10 bis 50% der Schüler machen Hausaufgaben oder lernen für eine Klausur.
Das coole Aussitzen dauert in der BFS bis zur Mitte des Prüfungshalbjahres; mündlich verhalten sich einige Schüler so, als wollten sie sich auch die 5 noch verbauen; und ein paar Wochen vor dem Abschluss kommen manche und wollen noch Referate halten. Nein, sage ich, so viele Stunden haben wir nicht, aber gut, in Zweifelsfällen bzw. Verzweiflungsfällen machen wir eine Unterrichtsprüfung, das kann helfen, wenn man eine gute 5 hat, auf eine 4 zu kommen. Das Thema wird vorher verabredet, aber trotzdem sind viele dieser Verzweiflungsprüflinge erbärmliche Einbrecher, die allenfalls wissen, was sie nicht wissen. Der Krieg gegen die Unbildung geht verloren.
Überhaupt scheint es mir manchmal, als sei ich in diesem Krieg kein Verbündeter der Schüler, sondern die Schüler kollaborieren: Sie sehen mich als ihren Feind an.
Die Schüler aber dürfen nicht zu Feinden werden!
Feinde sind meine Ideale von Bildung. Warum versuche ich immer wieder das Unmögliche, und belaste damit die Beziehungen zu den Schülern? Und ohne eine vertrauensvolle Beziehung zum Lehrer lernen die Schüler sowieso nichts.
Was tun?
In der letzten Fachkonferenz Naturwissenschaft, am 30.10.7, haben wir Kollegen unseren Frust ausgetauscht und festgestellt, dass die Apathie der Schüler alle Schulformen durchdrungen hat. Im Protokoll, das ja von Inspektoren gelesen werden kann, habe ich den Notstand freundlich-euphemistisch angedeutet:
„Eine längere Aussprache über den Leistungsabfall von Schülern führt zu vollkommen harmonierenden Einschätzungen aller Anwesenden.“
Die versuchte Gegenmaßnahme war eine Methoden-Offensive: Wir haben Fortbildungen gemacht, das eine oder andere ausprobiert – ohne durchschlagenden Erfolg. Schüler, die selber Experimente durchführen, wissen hinterher recht gut, welches Handy sie in der Hand hatten, um ihren Versuch zu photographieren. Was aber in dem Becher drin war, wird schon in derselben Stunde wieder vergessen. Und aufschreiben, Protokoll führen? Das führt zu elementaren Fehlern, da werden Namen falsch vom Etikett abgeschrieben oder einfach ganz weggelassen, Gase werden mit Feststoffen verwechselt, Beobachtungen falsch gesehen oder ausgelassen; das alles muss zeitraubend aufgearbeitet werden, und nächstes Mal ist trotzdem fast alles weg. Umso dringender müsste man diese Methoden lernen und üben. Aber da haben wir wieder dasselbe Grundproblem: Man müsste lernen und üben!!!
Wenn Schule Sinn machen soll, dann müssen wir zuallererst realistisch sein. Und die Realität ist, dass wir mit der Lüge leben müssen, dass die neuen Medien das Informieren und Lernen fördern. Schüler, Eltern und Lobbyverbände glauben, dass man nichts anderes mehr zu tun bräuchte als Tasten und Knöpfe zu drücken und dann nur noch zu gucken, allenfalls noch mal in der Schule vorbeizuschauen, und dass dabei Bildung in die Köpfe käme. Wir können uns auf Dauer nicht gegen diesen Glauben stellen, zumal uns die Politik im Stich lässt. Die Politiker fördern die „neuen Medien“, und gleichzeitig verteidigen sie das überkommene dreigliedrige Schulsystem. Hier in der Berufsschule müsste es sogar noch viel besser laufen, weil wir ja mehr als dreigliedrig sind: Die Altersgruppe der Neuntklässler und Zehntklässler wird ja noch viel sorgfältiger aufgespalten, und zwar siebenfach! Die Aufteilung erfolgt in die gymnasiale Oberstufe am normalen Gymnasium, und der Rest kommt zu uns, wo er in sechs weitere Schulformen einsortiert wird: Wer einen Ausbildungsplatz hat, kommt in die Berufsschule, und die anderen begeben sich je nach vorliegendem Schulabschluss oder Nicht-Abschluss in die „EIBE“ (ich weiß nicht, was diese Abkürzung bedeutet, es handelt sich um eine Sonderschulform für Schüler ohne Abschluss), in das „Berufsgrundbildungsjahr“ (Schüler mit schlechtem Hauptschulabschluss), in die „Berufsfachschule“ (Schüler mit besserem Hauptschulabschluss), in die „Höhere Berufsfachschule“ (Schüler mit Mittlerer Reife), in die „Fachoberschule“ (Schüler mit besserer Mittlerer Reife) oder in das „berufliche Gymnasium“ (Schüler mit noch besserer Mittlerer Reife). Diese Siebengliedrigkeit ist sozial vermutlich noch schädlicher als die Dreigliedrigkeit, und leistungsmäßig hat sie den durchschlagenden Erfolg, dass wir Jahr für Jahr für fünf bis sechs dieser Glieder nur noch die fortschreitende Fäulnis dokumentieren können, denn selbst die stolze gymnasiale Oberstufe ist angefault; allein die Berufsschule hält sich noch wacker. Menschenrecht auf Bildung? Wir haben ein Recht auf Selektion, und diese Selektion zementiert die Chancenlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten und wird einmal mit der Amputation enden.
Nach vielen Dienstjahren des Kampfes für Bildung glaube ich nicht mehr an ausnahmsweise schlechte Klausuren, an eine zufällige Häufung schwieriger Klassen, an eine außergewöhnliche Aufeinanderfolge schlechter Jahrgänge. Es liegt im System begründet. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung wurde jahrzehntelang von der Politik vernachlässigt, und die Berufsschule ist ihr Auffangbecken, wo wir sie mit harschen Noten verschlimmbessern.
Natürlich sind Schüler faul. Die Werbung verlangt Konsum, und warum sollten sie lernen? Selbst viele Akademiker vegetieren in Deutschland als Arbeitslose dahin, selbst gute Absolventen müssen sich in unbezahlten Praktika ausbeuten lassen, ohne dass die Fratze des Kapitalismus sie auch nur anlächeln würde. Oh, und wenn, es wäre ein höhnisches Lächeln!
Und was meldet der Gerechtigkeitssinn meiner Schüler? Wenn ich sie frage, ist es gerecht, dass Carlos Slim Helu in einer Sekunde 800 Dollar verdient? Egal, ob er wach ist oder schläft? – Ja, sagen sie, der hat sich das verdient, weil er ja Firmen aufgekauft hat, wo er durch seine Investitionen Arbeitsplätze gerettet hat, und dafür sollen die Leute auch für ihn arbeiten!
sklavensong
ich wehr mich nicht zu sehr
bleib stets ein kleines licht
denn wenn ich allzu sehr mich wehr
dann mag man mich hier nicht
Dieses Gedicht von Jürgen Maruhn trifft den Punkt. Ungerecht finden die Schüler allenfalls, dass HARTZ IV um zwei, drei Euro erhöht wurde: „Die tun ja nichts dafür!“
In solchen Momenten möchte ich in allem Sein vergehen.
In einer Berufsschulklasse ließ ich eine Unterschriftenliste herumgehen, mit der die Schüler ein Grundrecht auf eine Ausbildung hätten fordern können. Keiner unterschrieb. Warum auch, sie hatten ja alle ihren Ausbildungsplatz.
Will ich noch Lehrer sein?
Nach den Jahren schockieren mich solche Perversionen nicht mehr so sehr. Woher sollen die Schüler es denn besser wissen, angesichts der Verdummung durch die Medien?
Ja, ich will Lehrer sein, ich muss versuchen, das Denken anzuregen. Aber auf einem Niveau, auf dem sich etwas ausrichten lässt. Was nützen Reaktionsgleichungen? Nichts, gar nichts. Was nützt es, die Notenpeitsche zu schwingen? Ich diene dem Kapitalismus, indem ich seine Sklaven niedrig halte.
Es hilft nichts, wir müssen den Bildungsbegriff anpassen. Also werde ich der NAT-Fachkonferenz vorschlagen:
1. Der offizielle Lehrplan-Entwurf der Fachoberschule beruht auf der falschen Prämisse, „dass die bundeseinheitlichen Bildungsstandards … für den Mittleren Schulabschluss in der Summe als gesichert vorausgesetzt werden können und dass auf die dort geforderten Kompetenzen aufgebaut werden kann.“
Das ist, glaube ich, eine der typischen euphemistischen Lügen, die so harmlos-vertuschend anfangen wie bei meinem Protokoll und desto deftiger ausfallen, je höher die Position in der Hierarchie ist – bis hin zur politischen Ebene, die diese Lügen anscheinend zum Leben braucht. Wir hier unten aber dürfen nicht unverantwortlich handeln. Ein früherer Kultusminister gestand selbst ein, dass es zum Chaos führen würde, wenn Schulleiter und Lehrer all seine Verordnungen und Erlasse vollkommen ernst nähmen. Die Fachoberschule (FOS) vergibt als Abschluss die Zugangsberechtigung zur Fachhochschule, womit man sich neuerdings auch in Bachelor-Studiengänge an Universitäten einschreiben kann. Also, was bleibt uns in der FOS weiter übrig als die Bildungs-Illusion weiter hochzureichen in die Hochschulen: Alle werden in ihren Anforderungen nachgeben müssen, da helfen auch keine Bildungsstandards.
Für das Fach Chemie hieße eine Konsequenz: Bloß kein chemisches Rechnen mehr! Formeln umstellen? „m = n x M“ nach M auflösen? Geht sowieso schief. Das schaffen wir ab. Die meisten Schüler lassen diese Klausuraufgabe gleich beiseite. Recht haben sie. Sollen doch die Inder rechnen! Oder die Chinesen. Die haben es ja nötig.
2. Der Lehrplan Naturwissenschaft für die Berufsfachschule geht ebenfalls davon aus, dass die Schüler chemische Grundkenntnisse mitbringen. Was sie mitbringen, ist die Grunderkenntnis, dass Chemie ein schreckliches Fach sei. Das war’s. Immer wieder muss ich bei Null anfangen.
Was aber, wenn ich einfach auf die endlose, nutzlose Wiederholung der Grundlagen verzichte? Ich werde es ausprobieren und dem Lehrplan folgen. Methoden sind wichtiger als Inhalte, also weg mit allem, was die meisten Schüler ohnehin nie lernen: Kein Atommodell, keine Bindungslehre, keine Reaktionsgleichung! Lassen wir all das abstrakte Zeug weg. Allerdings sollten wir es nicht mehr naturwissenschaftlichen Unterricht nennen, sondern Sachkunde.
Mit diesen Maßnahmen würden wir der Leitlinie der Obrigkeit folgen, die mahnt, dass wir zu viele Schüler durchfallen lassen. Schule braucht Erfolgsquoten und keine Durchfallquoten! Wer würde dem widersprechen?
Ich nicht. Und so verabschiede ich mich von unrealistischen Erwartungen, die nicht viel mehr einbringen als zerrüttete Beziehungen.
Vorbild ist der Koll. P, der in der Berufsfachschule nicht mehr verlangt als das, was geht: So rechnen sie eben wochenlang nur mit der Dichte-Formel. Irgendwann sitzt es, und dann erst kommt etwas Neues. Die Klassenarbeit bringt keine Katastrophe zutage, und alle sind zufrieden.
Warum glaube ich, dass man viel lernen muss? Lernen kann man nicht erzwingen. Und wo sollten die Schüler, die keine Ausbildungsstelle finden, denn sonst hin?
Viele kommen ja nur noch zur Schule, damit sie Kindergeld kriegen, berichtet der Kollege B, oder kürzlich hatte er einen angehört, der die Schulbescheinigung braucht, um nicht in die Türkei zu müssen, wo ihm der Wehrdienst droht. Oder einer will einfach in einem geheizten Zimmer sitzen, also kommt er in die Schule!
Die Lüge besteht darin, dass wir so tun, als wären unsere Schüler alle scharf auf Bildung. Die traurige Wahrheit ist, dass wir ihnen nichts anderes anzubieten haben.