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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 20

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (20)

6.5.8,  im Lehrerzimmer gibt’s News von der schriftlichen Prüfung der BFS: Der F von der 11 X2 ist in Shorts, dunkelgrünem „Licher Bier“-T-Shirt und Riesen-Sonnenbrille zur Prüfung angetreten, natürlich fünf Minuten zu spät, hatte sonst nichts dabei – und er hat den puren Unsinn geschrieben!
Aber wir können nicht so recht schadenfroh sein: Kollege P hatte zu verstehen gegeben, dass der F „ein armes Heimkind“ sei! Im gleichen Heim sei auch der S von der 11 X1. – Das ist mir neu. Sollen wir also Nachsicht walten lassen? – Kollege D meint, es gebe auch unter Heimkindern solche und solche; er habe schon absolut vorbildliche Heimkinder gehabt.– Im allgemeinen sind Heimkinder nicht unbedingt unglücklicher dran als die Sprösslinge „normaler“ Familien, im Gegenteil, Heimkinder werden nicht geschlagen und erfahren oft zuverlässigere Zuwendung als andere, die zu Hause herumkrebsen. Und beim S hätte sich die Lage beruhigt, seit er im Heim ist, also hätten auch seine Leistungen besser werden können. – Aber Heim ist Heim, das ist ein Handikap. – Wer ist denn bei uns, der nicht in irgendeiner Weise benachteiligt ist? – Also, sollen wir denn alle schonen? – Ja und nein. Wie sollen wir Chancengleichheit herstellen? Wo wollen wir denn die Grenze ziehen? Wer ist benachteiligt und wer ist besonders benachteiligt? Woher sollen wir das wissen? Und wie ausgleichen, wie fördern? Wie kann es Gerechtigkeit und Chancengleichheit geben in einem System der Chancen-Ungleichheit?
All die Verlorenen, wir können sie unmöglich retten. Wir können nur die Hand ausstrecken. – Aber können wir uns damit zufrieden geben, dass nur einige die Kraft haben, sich zu retten, und der Rest? – Der Rest ist verlorener denn je.

Montag, 19.5.8, letzte Stunde Chemie in der 11. Zu meiner Enttäuschung ist es wie immer: Die meisten Schüler sind gekommen, und sie sind laut. Beim Reingehen in den Chemiesaal hörte ich einen raunen: „Film gucken!“ Jaja, ich weiß, viele Kollegen zeigen den Schülern in den letzten Stunden Filme, irgendwelche Spielfilme, über die ich lieber nicht reden will. Warum, die Noten stehen alle fest, d. h. der Notendruck ist weg, und somit ist nicht mehr viel mit Schülern anzufangen.

Ich sitze vorn und warte ab, wozu sollte ich mich aufregen? Keiner erwartet, dass dieser Termin irgendetwas bringt. Aber bin ich so früh aufgestanden, um einen Film zu gucken? Nein, bin ich nicht.
Ich helfe nun doch kräftig nach, dass es langsam ruhig wird. Immerhin gibt es noch die Vornoten zu verkünden. Als endlich einmal alle still sind, spreche ich:
„Die Vornoten setzen sich aus vier Halbjahresnoten zusammen, aus zwei Halbjahren Physik in der 10 und zwei Halbjahren Chemie aus der 11. Ich habe mich also mit Herrn P zusammengesetzt und mit ihm die Vornoten festgelegt. Das ist frappierend: Ich war schockiert, dass Ihre Noten in der 11 sich so enorm verschlechtert haben, ein, zwei Noten haben die meisten abgebaut, manche sind sogar um 3 bis 4 Noten schlechter geworden. Sagen Sie mal, wie kommt das? Sind Sie so abgekackt, oder liegt das am Lehrer?“
Damit ist das Gespräch eröffnet:
– Es liege am Fach! Chemie sei trocken, uninteressant, man kann nicht sehen, wie und warum so eine chemische Reaktion abläuft. In der Physik sei das offensichtlich, da fällt ein Gegenstand, und man kann das berechnen. Chemie sei schwer.
Ich fasse zusammen: Chemie wäre also abstrakter als die Physik? Ist es so?
Das Wort abstrakt finden die Schüler zutreffend: „abstrakt“ haben sie schon öfter gehört, verstehen es aber nicht. Genau wie die Chemie! Also trifft das Wort auf das Fach Chemie genau zu!
– mehr Experimente!
„Schülerexperimente sind verboten, wenn es mehr als 16 Schüler sind“, gebe ich zu bedenken. „Hat denn der Herr P Schüler experimentieren lassen?“
Nein, er habe Versuche vorgemacht.
Das habe ich doch auch, was ist der Unterschied?
Keiner kann es sagen.
– Die Methoden von Herrn P seien motivierender.
„Welche Methoden? Nennen Sie mir ein paar Beispiele, damit ich dazulernen kann!“
Keiner weiß eine Methode zu nennen.
– Herr P sei lockerer, mache mal einen Witz zwischendurch und nehme alles nicht so ernst. Aber wenn nötig, würde auch mal richtig gut erklären.
– Herr P mache öfter mal eine halbe Stunde früher Schluss.
Und dadurch sind Sie motivierter? Nein, das ist kein Vorbild für mich.
– Statt Referate solle man öfter Hausaufgaben-Kontrollen schreiben.
Wie das? Schon die Referate gingen ja nicht gut, weil viele Schüler ihr Referat gar nicht vortrugen, und Hausaufgaben machen Sie doch auch nicht?
Doch, doch, es sei besser, eine Hausaufgabe nicht zu haben als eine Präsentation.
Das alles ist gar nicht gut, wende ich ein.
So, und jetzt bekommen Sie noch Ihr Wunschthema: Was haben Sie bisher in Chemie vermisst? Was wollen Sie noch lernen, bevor Sie vielleicht ein Leben lang kein Chemie mehr haben?
„Säuren und Basen“, wünscht der F.
Sehr wichtig, das sollten wir machen. Gibt es sonst noch Wünsche?
Der K vorne trötet vor sich hin, dass ich das Wort des nächsten Schülers nicht mehr verstehen kann. Ich schelte ihn, dass er die Lautsprecher-Stöpsel aus den Ohren nehmen und still sein soll. Wenn nicht, könne er auch rausgehen, ich könnte hier keine Störer gebrauchen.
Bevor die Unruhe sich überschlägt, fordere ich, die Bücher herauszunehmen – und zum letzten Mal kommt es zum Buchstrich-Spiel. Die Schüler wollen wissen, wer gewonnen hat. Ich lese vor, wer keinen Buchstrich hat, es sind drei, vier Schüler, aber das ist es nicht, was sie mit der Frage meinten: Sie wollen die Rekordhalter wissen. Wer hat die meisten Striche? Na, da zählen auch die unentschuldigten Fehltage dazu, und so nenne ich vier, fünf Schüler, die in jeder Stunde einen Strich bekommen haben.
Nun aber ist der Höhepunkt der Stunde erledigt, und es wird chaotisch, weil ich es mit der Chemie allzu ernst meine: will ich doch erklären, was der pH-Wert ist, wie man ihn misst, usw.
Der K trötet wieder los, diesmal nur ein Stöpsel im Ohr; ich springe auf: „Das reicht jetzt, Herr K, Sie gehen jetzt!“
Nein, der K weigert sich: „Warum sollte ich denn gehen?“
„Weil ich es gesagt habe, darum! Ich hatte Sie ermahnt, Sie hören nicht, und jetzt gehen Sie!“
K bleibt sitzen, ich schreie ihn an, da schaltet sich der L ein: „Sehen Sie, das meinte ich, Sie sollten lockerer sein!“
„Wie, ich soll einen Störer unbehelligt lassen? Ich muss doch konsequent sein, sonst können wir den Unterricht vergessen.“
„Ja, aber warum stört der denn? Weil der Unterricht langweilig ist.“
„Hören Sie mal, der Unterricht ist doch freiwillig. Keiner muss in der elften Klasse sitzen!“
„Von wegen, freiwillig. Wir müssen hier sitzen, sonst gibt es Schläge.“
„Na dann strengen Sie sich eben an. Aber jetzt machen wir noch etwas über Säuren und Basen, und diejenigen, die das nicht interessiert, können gehen. An der Note ändert das jetzt nichts mehr.“
„Ja, aber dann tragen Sie das in den Klassenordner ein!“
„Nein, warum sollte ich das denn eintragen?“
Zwar weiß ich, dass es für polizeiliche Ermittlungen hilfreich wäre, wenn ich die Abwesenheit der Schüler dokumentiere, sonst erhalten sie ein falsches Alibi. Im Kriminalfall aber kann ich in einer Vernehmung das Alibi widerrufen. Also bleibe ich bei meiner Zusage, dass es keine Konsequenzen hätte, wenn die Schüler gehen.
Na dann! Der L, der K, der S stehen auf, und die halbe Klasse verlässt den Saal.

Mit den verbliebenen zehn Schülern verläuft nun das Unterrichtsgespräch völlig ungestört und fruchtbar. Nach zehn Minuten Vorbereitung lasse ich die Schüler mit Säuren und Laugen experimentieren.
Derweil klopfen vier Abtrünnige an: Jeder hat ein halb aufgegessenes Eis am Stiel. Es sei ihnen langweilig, ohne Unterricht. Ob sie zurückkehren dürften?
Essen Sie mal Ihr Eis fertig, ich gucke mal, ob ich noch vier Plätze frei habe.
Dann lasse ich sie ein, und sie nehmen an den Experimenten teil.
– Wo ist eigentlich der F, frage ich die Anwesenden, der F hatte sich doch das Thema Säure-Base gewünscht?!
– Der ist abgehauen! Den F können Sie doch vergessen!
Das ist ein guter Rat. Ich werde den F einfach vergessen. Das ist sogar dienstlich erlaubt. Ich muss nur seine Noten noch eintragen, das war’s.
Was ich in Erinnerung behalten will, ist diese beste Chemiestunde des Jahres.

In die Pause nehme ich eine gute Stimmung mit, und mit wehendem weißem Chemiker-Kittel trete ich im Lehrerzimmer auf. Seit Jahren habe ich mich hier unten nicht mehr in diesem Dress gezeigt, und ich bin ein anderer Mensch: Viele machen mir Komplimente über den zünftigen Schick, allen voran der Kollege B, der sich immer freut, wenn in seiner Schule Autorität ausgestrahlt wird. Damit habe ich in seinen Augen wohl wieder gut gemacht, dass ich letzten Mittwoch in kurzen Hosen meine zwei Stunden abgerissen habe. (Er brauchte mich gar nicht zu tadeln, denn ich hatte selber gemerkt, dass das bei den Schülern nicht gut ankam: Sie waren umso schwerer zu bändigen.)
Dagegen gesteht mir eine andere Kollegin, sie hätte Angst vor mir, wegen des weißen Kittels, die Ärzte in der Kinderklinik hätten sie eingeschüchtert, und ein anderer Kollege stimmt ihr bei. Ich merke, dass ich meinen Beruf verfehlt habe: Wie sehne ich mich nach der Autorität eines Doktors, ich brauche nur den weißen Götter-Kittel zu tragen, und erheische einen Respekt, den ich als Lehrer auch mit größten Mühen nie zugebilligt bekomme.
Ich bemerke, dass es mir schwerfällt, mich zu den Kollegen an den Tisch zu setzen: Wenn ich mich dazu herablasse, ist meine Rolle verspielt. Für ein paar Augenblicke stolziere ich noch herum, dann finde ich mich selber albern und lasse mich nieder. Leider nicht wie ein Arzt, der mit dem Niederlassen viel Geld verdient.

In der nächsten Elf verläuft es nicht ganz so dramatisch, da diese Klasse ruhiger ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich hier von Anfang an den Götter-Kittel trage?
Über meinen Unterricht kommen dieselben Rückmeldungen wie von der ersten Elf. Anschließend bleiben nur fünf Schüler zum Chemie-Unterricht zurück. Mit ihnen ist die Arbeit ebenso erfreulich wie fruchtbar.
Der M, der in der Unterrichtsprüfung in der vorigen Stunde seine gute Fünf leider bestätigt hat, ist der Sinnlichkeit des Experimentierens sehr zugetan. Er spritzt konzentrierte Essigsäure in das Reagenzglas, beobachtet die Farben, Dämpfe, fragt mich warum das warm wird? Ich erkläre es ihm, und gegen Ende des Stunde habe ich eine Idee: Warum sollte ich ihn nicht heimlich nochmals prüfen? Wollen wir mal sehen, ob er nicht doch die Vier verdient?
Ich stelle mich neben ihn, der eifrig am Experimentiertisch Substanzen zusammenmixt, und frage: „Na, Herr M, was haben Sie heute gelernt?“ – „Was ich gelernt habe? Dass es in der Chemie qualmen kann!“ – „Ja, was qualmt denn da?“ – „Im Reagenzglas hat es gequalmt.“ – „Und was haben Sie da zusammengegeben?“ – „So ein paar Säuren oder Basen und den Farbstoff.“ – „Sie meinen den Indikator?“ – „Ja.“ – „Und welche Säuren und Basen?“ – „Das weiß ich nicht. Aus diesen Flaschen da.“ – „Und warum wurde das warm?“ – Da von M nichts kommt, gibt ein anderer die Antwort.
Naja, es ist ein erster Schritt von M auf die Chemie zu, wie kann man da erwarten, dass er gleich Fachliches lernt. Viel ist damit gewonnen, dass er überhaupt etwas Spaß im Fach hat. Soll ich ihm nun als Abschluss für die 11 eine Vier geben?
Ich weiß es nicht. Ich bin der Lehrer, und ich weiß es nicht.

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