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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 19

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (19)

Ausgewählte schwierige Fälle in der 11

Der S kommt vor Beginn der Stunde am 17.3. aufgeregt zu mir: Er könne sein Referat erst in einer Woche halten, er habe verschlafen und dann vergessen, den USB-Stick einzupacken – das Referat habe er ausgearbeitet und zu Hause liegen gelassen. – Nein, Herr S, Sie müssen heute referieren, egal, auch ohne Stick.

S versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich ihm Aufschub gewähren müsste; ich bleibe dabei, dass er halten sollte: Im Buch gibt es zu seinem Thema Abgaskatalysator ja Schaubilder, die könne er benutzen. S sagt, er könne das nicht ohne seine Stichpunkte, die er nicht habe; er könnte doch nach den Ferien referieren, da brauche er nur zehn Minuten, die hätte ich doch übrig. Freundlich erkläre ich, dass die Termine schon alle vergeben sind, gewähre ihm aber noch 60 Minuten Frist – solange kommt ein anderes Referat dran -, und in dieser Zeit könne er nachschauen, wie er die Abbildungen im Chemiebuch einbindet, oder er könne nach Hause fahren und seine Unterlagen holen. – Nein, kann er nicht, sagt S, er wohne in B, einer 30 km entfernten Stadt.
Eine halbe Stunde später hält S abermals den Unterricht auf, indem er lamentiert, dass sein Vortrag verschoben werden müsse. Ich stelle ich ihn vor die Wahl, heute zu halten oder gar nicht. Das ist unfair, beschwert er sich: wenn ich das gewusst hätte, dann hätte mich seit Anfang der Stunde ja schon vorbereiten können! Ich habe es Ihnen gesagt, entgegne ich, und er widerspricht: Das hätte ich nicht gesagt. Nun, also, Schluss, ich diskutiere nicht, sage ich, Sie bekommen in einer halben Stunde Ihre Chance, und die können Sie nutzen oder nicht.
Zwischenzeitlich beobachte ich, wie S mit dem Chemiebuch durch den Klassensaal pirscht und bald einen anderen S, der ein sehr guter Schüler ist, konsultiert. Der gute S erklärt es dem schlechten, und als die Zeit für den schlechten herangekommen ist, stellt er sich vorne hin und sagt, dass er nicht viel vorzutragen hätte, weil er ja zu wenig Zeit bekommen hat, um sich vorzubereiten. Dann beginnt er, von seinem Zettel vorzulesen. Ich fordere ihn auf, die Abbildungen im Buch zu erklären; das kann er nicht. Kann er eine Reaktionsgleichung aufschreiben? Nein, sagt er, das wisse ich doch, deshalb habe er schon eine Sechs in der Arbeit bekommen, also warum sollte er das jetzt können?
Ich frage ihn etwas Einfaches: ob der Katalysator physikalischen oder chemischen Prinzipien folgt?
S antwortet: „Ja.“
„Ja, was, wirkt der nun physikalisch oder chemisch?“
„Chemisch.“
„Warum?“
„Weil chemische Umwandlungen stattfinden.“
Das ist zweifellos richtig. Bohren wir lieber nicht nach. „Also, Herr S, Sie bekommen eine Vierminus.“

Ist das eine pädagogische Vier? Unser Abteilungsleiter gibt das klassische Beispiel: Wenn ein Schüler die Frage nach seinem Namen richtig beantwortet, dann hätte er eine mündliche Leistung vollbracht und die Vier ist begründet. Die „hessische Vier“! Damit winkt man den Schüler durch, der ja sicher nicht besser wird, wenn er das Jahr wiederholt, und andererseits verhindert man mit der Vier, dass er sich noch weiter auf dem Bildungsweg verirrt.
Andererseits, warum sollte man Mitleid haben mit einem, der notorisch nichts tut? Wäre die richtige pädagogische Note eine Sechs gewesen? Oder als Mittelweg die Fünf?
Referate zu bewerten, geht viel näher an die Persönlichkeit als eine Klausur: Man sieht den nervösen Menschen vor sich, wie er bangt und sich bemüht, wenn auch ohne Leistung; so schiebt sich die Faulheit in den Hintergrund, und im Vordergrund steht der nichtwissende Mensch, der sich die Blöße gibt. Nicht das Wissen zählt, geschweige denn, was an Inhalten rüber kommt, sondern die Performance. Schüler lernen sowieso nichts, egal, ob ich Frontalunterricht mache oder gute oder schlechte Referate gehalten werden.
Wie auch immer, letztendlich wird der S trotz dieser Vier auf eine Fünf in der Endnote kommen.

28.4.8. Zur Festlegung der Halbjahresnoten lese ich vor, wer welchen Stand hat, und ich biete Unterrichtsprüfungen für Zweifelsfälle an. Damit meine ich alle, die auf einer guten Sechs oder einer guten Fünf stehen, oder auf einer anderen guten Note. Der S steht auf einer schlechten Fünf; er meckert, weil er doch eine Vier im Referat hatte. Das reicht nicht, sage ich, die Arbeit war eine Sechs, und mündlich war es auch schlecht, zusammen gibt das die Note 5,3.
„Aber ich kann doch etwas“, meint S.
„Na dann, gut“, räume ich ein, „Sie dürfen es auch versuchen, mit einer Unterrichtsprüfung auf eine Vier zu kommen.“
Wann die Prüfung denn sein sollte, fragt S.
Jetzt, sage ich, jetzt sofort.
Nein, lieber nächstes Mal, meint S, aber ich beharre, dass es heute sein müsste.
Als nächstes der W: Er steht der auf einer guten Sechs, könnte aber durch die Unterrichtsprüfung auf die Fünf kommen. – Aggressiv faucht W, das sei das Allerletzte hier, packt seine Sachen, macht sich auf den Weg zur Tür, ich sage ruhig: „Herr W, Sie können jetzt rausgehen, aber bitte überlegen Sie es sich noch mal, Sie können dann zurückkommen.“
W schmettert die Tür hinter sich zu.
Bin ich nicht ein glänzender Pädagoge? – Nein, wenn ich solches geahnt hätte, hätte ich niemals Lehramt studiert.

Ich nehme den S dran; er soll an die Tafel kommen. Er windet sich, will mir nächste Woche sein Heft abgeben, um die Vier zu bekommen, doch ich bestehe auf der Unterrichtsprüfung, und die Schüler wussten, dass sie für heute lernen sollen!
„Auf, Herr S, kommen Sie, jetzt oder nie!“
Der S schlurft nach vorn.
Dort steht er.
„Nun, Herr S, worüber wollen Sie geprüft werden? Jeder, der auf eine Vier geprüft wird, darf sich das Thema aussuchen.“
„Ich weiß jetzt keins.“
“Ja, dann sagen Sie uns mal, was ist die Chemie für eine Wissenschaft?“
„Naturwissenschaft.“
„Ja, Herr S, bitte noch genauer.“
„Ich weiß nicht.“
Dieser Einbruch ging mir zu leicht.
„Also, dann setzen Sie sich wieder hin, Sie bekommen nachher noch eine Chance, solange können Sie sich ein Thema überlegen.“
Zwischenzeitlich prüfe ich andere Schüler, die ebenfalls einbrechen, aber auch eine zweite Chance bekommen.
Indes kommt der W wieder herein, wortlos, setzt sich auf seinen Platz. Eine Minute später schreibe ich „He“ an die Tafel und frage den W: „Was ist das?“
„Helium“, sagt der Nachbar von W.
„Das ist sehr unkameradschaftlich“, rüge ich, und schreibe ein S auf die Tafel. „Jetzt bitte W!“
„Schwefel“, sagt W.
„Danke“, sage ich, „Sie haben die Prüfung bestanden.“
Die Schüler wundern sich, denn von den Viererkandidaten habe ich viel mehr verlangt. Ich erkläre, dass ich einem Schüler, der mit S Schwefel verbindet, keine Sechs geben kann, weil für ihn Hoffnung besteht. Die Note Sechs gibt es nur für hoffnungslose Fälle!
Inzwischen ist auch der S soweit: Er will über Atombau geprüft werden, dasselbe Thema, das wir in der Prüfung vorher dran hatten.
„Schön, Herr S, Sie wollen über Atombau geprüft werden?“
„Ja.“
„Sind Sie fit?“
„Ja, klar.“
„Dann kommen Sie mal nach vorn!“
Da steht er wieder.
„Also, Herr S, was ist denn ein Atom?“
„Ein Atom?!“ Er starrt mich an, als sollte er auf den Mond fliegen.
„Nun, Sie haben sich den Atombau ausgesucht. Was ist denn ein Atom?“
„Ein Atom ist mit Molekülen und anderen Teilchen.“
„Bitte sagen Sie einen vollständigen Satz“, fordere ich, und denke: Schon ist er mit einem Fuß eingebrochen, und er wird nicht mehr herauskommen. Aber wenn ich jetzt die Prüfung abbreche, wir er wieder meckern, dass er nur eine Kleinigkeit nicht gewusst hätte, dass ich ihm keine Chance geben würde – wie im ersten Halbjahr, da hatte er nicht eingesehen, warum er mündlich eine 4 hatte, er hielt sich für besser, dabei schrieb er zwei Sechser – was angeblich meine Schuld war, wie immer. Jetzt soll er eine faire Prüfung haben, und zwar so fair, dass er selbst einsehen muss, dass er taucht!
S bringt nun einen Satz hervor: „Ein Atom ist aus Molekülen zusammengesetzt.“
„Das ist falsch. Es ist umgekehrt: Moleküle sind aus Atomen zusammengesetzt. Bitte geben Sie ein Beispiel für ein Atom.“
„Säure“
Soso, denke, ich, jetzt halte ich ihn mal für ein Weilchen über dem Eis, das eigentlich schon nicht mehr da ist, und ich führe ich ihn mal zu einer Stelle, wo er selbst merken müsste, wenn er ins Eiswasser hinein platscht!
Also: „Säuren sind immer Moleküle, keine Atome. Meinen Sie vielleicht Sauerstoff?“
„Ja, Sauerstoff.“
„Würden Sie uns bitte ein Sauerstoff-Atom an die Tafel zeichnen?“
S zeichnet eine Figur, die aussieht wie ein Mondmännchen.
„Herr S, können Sie erklären, was das ist?“
„Erklären? Nein. Man sieht es doch.“
„Aus welchen Teilchen besteht denn ein Sauerstoff-Atom?“
„Aus Ionen und Positronen.“
„Das ist falsch. Versuchen wir es mit etwas anderem. Was ist eine chemische Reaktion?“
“Ach ja, so entstehen neue Atome.“
„Sie meinen wohl, in einer chemischen Reaktion entstehen neue Stoffe?“
„Ja.“
„Richtig. Können Sie uns dafür ein Beispiel geben?“
„Nein.“
„Woraus besteht ein Stoff?“
„Ein Stoff besteht aus Sauerstoff und Wasserstoff. Und Kohlenstoff.“
„Und Stickstoff?“
„Ja.“
„Also, wie viele Elemente gibt es?“
„Vier.“
Welch ein Bauchplatscher!
„Herr S, Sie haben das Thema Atombau selbst gewählt“, sage ich ernst. „Aber leider wissen Sie nichts darüber. Deshalb bleibt es bei der Fünf.“
„Aber ich habe doch was gewusst!“
„Sie haben gar nichts gewusst.“
„Doch, Sie haben ja gesagt, das war richtig.“
„Was war richtig?“
„Die chemische Reaktion.“
„Sie selbst hatten es falsch gesagt, und ich habe es korrigiert.“
„Aber die vier Elemente!“
„Vor zweieinhalbtausend Jahren dachte man, dass es nur vier Elemente gäbe. Heute kennt die Wissenschaft 100 und mehr Elemente.“
„Das hatten wir nicht.“
„In den ersten Stunden dieses Schuljahres hatten wir das, und die ersten zwanzig Elemente sollten Sie auswendig lernen! Jetzt setzen Sie sich bitte hin.“
Schweigend sucht der Badende seinen Platz auf.
Nun wiederholen zwei weitere Viererkandidaten, ich führe sie über das dünne Eis, hin und wieder wissen sie etwas, mit meiner Hilfe finden sie die richtige Gleichung. Ich schüttele ihnen die Hand, dass sie es geschafft haben.
Wagemutig geworden, wollen zwei andere Kandidaten auf eine Drei geprüft werden. Sie brechen so fürchterlich ein, dass ich sie warne: „Diese Unterrichtsprüfung schadet Ihrer Note jetzt nicht, es bleibt bei der Vier. Aber wenn Sie in einer mündlichen Prüfung so eine Vorstellung geben, könnten Sie auf eine Fünf abrutschen.“

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