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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Stefan Engel im Kunstforum Mainturm

„KörperGehäuse“

von Brigitta Amalia Gonser
Kunstwissenschaftlerin

Um der Entwicklung seines künstlerischen Schaffens der letzten fünfundzwanzig Jahre im Flörsheimer Kunstforum Mainturm zu folgen, sollten Sie mit dem 1960 in Mainz geborenen, bekannten rheinland-pflälzischen Künstlers Stefan Engel quasi vom Himmel her in sein Werk der „KörperGehäuse“ einsteigen und ihn bis zur Erde begleiten: vom obersten Turmstockwerk zum Erdgeschoss führt der Weg unserer Erkundung.

Körperbefindlichkeiten interessierten Stefan Engel in seinen grossen Keramik-Plastiken bis Anfang der 1990er Jahre. Die abstrahierte Figuration weicht danach einer stärkeren formalen Abstraktion der menschlichen Gestalt zu Hüllen und Röhren. Ab 2000 verlagert sich dann sein künstlerisches Interesse auf das den menschlichen Körper umgebende Gehäuse.

Das Abenteuer, mit Erde und Feuer spielerisch umzugehen, das ist Keramik.

Esse percipi (Vorderansicht), 1985, Keramik+Metalloxyde, 185 x 47 x 40 cm, Fotografie: Helmut Sieben

Das Spielerische ist der „Wurzelgrund der Kunst“, sagte Herbert Read, und er bezeichnete die Keramik als abstrakteste Form bildender Kunst.

Die dem Ton innewohnende Expressivität und das taktile Empfinden der Formengenese, die er dem Künstler bietet, bestimmen dessen räumlich-plastisches Denken. Es geht dabei – mit Henri Laurens – um die „totale Besitzergreifung des Raumes“ in seinen drei Dimesionen, wobei alle Ansichten der Plastik gleich interessant sind, und um eine neue Assimilierung der Architektur.

Bei den aus Steinzeug nicht abtragend, sondern aufbauend, von innen nach aussen modellierten und bei 1250°C leicht gesintert und weiss gebrannten Keramik-Plastiken bedient sich Stefan Engel einer selbst entwickelten Tektonik, durch die vertikal verstrebte Schachtelung der Tonplatten zum Ganzen und die gleichzeitige Aufgliederung in transportable Module, mit der, dank sensibler Materialkenntnis, ungewöhnlich grossformatige Arbeiten entstehen. Denn das anfangs weiche Material lässt sich formen. Es gehorcht den Korrekturen des Sehens und Fühlens. Die Nähe zu Hülle und Haut sind dabei ebenso aus den mittels dünner Tonplatten aufgebauten Körpern, mit deren expressiven Oberflächenstrukturen, abzuleiten wie die Volumina von tektonischen Gefässen und architektonischen Räumen.

Glasuren aus Metalloxyden , die farbig, transparent oder deckend, glänzend, halbmatt oder matt sein können und einen zweiten Brand erfordern, aber auch Kaltbemalung sind wesentliche zusätzliche Gestaltungselemente der Keramik-Plastiken, die deren Expressivität steigern.

So vollzog sich seine künstlerische Entwicklung vom Habitus als Erscheinung, Haltung, Gehabe und äusserer Gestalt zum Habitat.

In der ästhetischen Wahrnehmung seiner Umwelt ging es Stefan Engel in den 1980er Jahren um das konkrete Verhalten, also die Performanz von Leib, Körper und Raum.

So stand an seinen Anfängen eine intensive Auseinandersetzung mit der Phänomenologie der Wahrnehmung und der Rolle des Leibes. Als Leib bezeichnet man in Philosophie und Theologie den lebendigen Körper von Menschen oder Tieren.

Leib ist für Maurice Merleau-Ponty die vermittelnde Instanz zwischen Geist und Körper. Er stellt die Alltagsüberzeugung auf den Kopf, die den eigenen Leib als Teil des Raumes wahrnimmt. Der Raum, der uns umgibt, scheint vielmehr Folge unserer ursprünglichen leiblichen Verankerung in der Welt zu sein. Weil wir Leib sind, haben wir Raum.

„Esse percipi“ heisst demnach die grosse Keramik-Skulptur, und sie reckt und wendet sich von Blindheit und Eitelkeit geschlagen als verinselter Leib oben im Turm. Sie erinnert nicht von ungefähr an das Diktum „esse est percipii“ oder „Sein heisst Wahrgenommenwerden“ des idealistischen Bischofs und Wissenschaftlers George Berkeley, der 1710 eigentlich damit meinte, dass es ohne Wahrgenommenwerden kein Sein gibt. Oder anders gesagt: ohne Betrachter gäbe es keine Kunst.

Inspiriert hat Engel dazu „Die Blendung“ von Elias Canetti. Der meint, dass jeder Mensch in seinem Schwanken zwischen Schaulust und selbstverschuldeter Blindheit gefangen sei und dass erst diese Beschränktheit „das Nebeneinander von Dingen erlaubt, die unmöglich wären, wenn sie einander sähen“.

Esse percipi (Rückenansicht), 1985, Keramik+Metalloxyde, 185 x 47 x 40 cm, Fotografie: Vladimir Combre de Sena

Interessant ist nun, dass heute der Bronzeabguss dieser Keramik-Skulptur als Mahnmal in Kusel auf dem kleinen Platz steht, wo sich früher der jüdische Betsaal befand.

Im Turm stehen ihr zur Seite zerstückelte Körper: die „Geneigte“ und der „Geneigte“, der Torso des „Hockenden“ sowie eine erste Rinnenfigur, die, ebenso wie die kleineren mehrgliedrigen Keramik-Plastiken im Turmraum darunter, auf die phänomenologische Anthropologie Elias Canettis zurückzuführen sind, der den Körperhaltungen des Menschen, wie: stehen, sitzen, liegen, hocken, knien, laufen … bestimmte Machtschemata zuordnet.

Hockender, 1985, Keramik+Metalloxyde, 91 x 51 x 49 cm, Fotografie: Stefan Engel

„So hat sich der Hockende von den Menschen abgelöst, lastet auf niemand und ruht in sich.“ Während „es der Stolz des Stehenden ist, dass er frei ist und sich an nichts lehnt, ist die Würde des Sitzens ganz besonders in seiner Dauer enthalten“.

Stefan Engel verleiht damit der Kinästhesie, der Lehre der Bewegung, ästhetischen Wahrnehmungswert. Darin liegt das Rätselhafte dieser Plastiken.

Bei der grundlegenden Verfasstheit des Subjekts in seiner Leiblichkeit kommt der Haut eine sehr grosse Bedeutung zu: sie ist zugleich Filter und Grenze. „Die Haut ist das Tiefste“ sagte auch Gilles Deleuze. Die Haut verfügt über eine potentielle vitale Energie, die spezifisch oberflächenartig ist. Ereignisse gehen in die Oberfläche ein, die Ort des Sinns ist. Die charakteristische Polarität des Lebens befindet sich also auf der Ebene der Membran. An diesem Ort existiert das Leben wesentlich.

Es ist die Oberfläche, auf der sich bei diesen Keramik-Plastiken Stefan Engels alles abspielt: Verlust, Verfall, Verletzung. Die Oberfläche ist die Membran, die den inneren Raum mit dem äusseren Raum, unabhängig von Distanz, in Beziehung setzt und sozusagen topologische Berührungsoberflächen bildet.

Dieses Charakteristikum trifft aber nicht nur für die „Gestalten“ und „Hüllen“, sondern auch für die „Rinnen“ und „Röhren“ sowie die nach 2000 entstandenen „Gehäuse“ zu.

Kollektor, 2006, Keramik+Metalloxyde, 130 x 60 x 38 cm, Fotografie: Gerhard Löfelm

Und wir verweisen auf dem ersten Stock des Kunstforums Mainturm auf den wunderbaren blauen Parabolspiegel des „Kollektors“, dessen energetisches Blau die „Aeropagötter“ in Öl und Acryl auf Leinwand gespeichert zu haben scheinen.

Tournier, 2005, Keramik+Metalloxyde, 191 x 36 x 39 cm, Fotografie: Kai Pelka

Ihm gegenüber steht, mit rückwärts sich öffnender Innenansicht, der röhrenförmige „Tournier“, in seiner technoiden, ritterlichen Rüstung, oder ist es eine Hommage an einen der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs: Michel Tournier?

Navicula, 2010, Keramik, Farbkörper, 27 x 71 x 45 cm, Fotografie: Harald Etzemüller


Tomomane, 2009, Keramik+Metalloxyde, 46 x 45 x 27 cm, Fotografie: Stefan Engel

Dazwischen stehen schon die neuesten kleineren Gehäuse, wie schüsselförmige Hemisphären, „Traille“, die fliegende Brücke „Navicula“ und „Tomomane“, Behausungen für Avatare oder Kleinstlebewesen in einer anderen Zeit auf einem anderen Stern, mit ihren Ein- und Ausstiegen und den von Luken durchbrochenen, farbigen Oberseiten als Fenster zur Aussenwelt.

Einstieg-Ausstieg, 1998, Keramik+Metalloxyde+Blattgold, 10,5 x 17 x 27 cm, Fotografie: Vladimir Combre de Sena

Und so öffnet sich dem Betrachter an der Giebelseite der Ausblick auf Stefan Engels globalen Raum mit zwei, 2010 entstandenen, überdimensionalen Grafit-Zeichnungen: „Less home-less“ und den „Räumen-der Habitat-Studie“.

Mit seinem „Haus über Kopf“ steigen wir im Erdgeschoss in Stefan Engels architektonische Räume, seine Habitate ein. Habitat kommt vom lateinischen habitare und heisst wohnen.

Peter Sloterdijk entwickelt in seinem Band „Spären III: Schäume“ bezüglich der gesellschaftlichen Raum-Vielheiten die Theorie von Kapseln, Inseln und Treibhäusern, er spricht von Architekturen des Schaums, von Zelle und Weltblase, von unserer ko-isolierten Existenz durch das Apartment und von Selbstpaarungen im Habitat. Sloterdijk ist davon überzeugt, „dass man in der künftigen Soziologie den Menschen aus der Dialektik von Interieur und Aussenwelt begreifen wird. Dabei kommt ein durch und durch bemittelter Mensch in Sicht, ein medialer Mensch, ein Mensch, der ständig seine Innen-Aussen-Verhältnisse managen muss.“

Umgreifend, 2000, Keramik+Metalloxyde+Kaltbemalung, 189 x 58,5 x 46,5 cm, Fotografie: Kai Pelka

Lebensgross werden Engels architektonische Räume in „Umgreifend“ von 2000, dem turmartigen Bau mit überraschenden spaltförmigen Durchblicken.

Habitat, 2009, Keramik+Metalloxyde+Kaltbemalung, 167 x 108 x 89 cm, Fotografie: Kai Pelka

Ebenso in dem gegenüber aufgebauten mattweissen „Habitat“ von 2009, ausgestattet mit Risaliten, Graten und Scharten.

Monumental wirken aber auch schon die kleineren Gehäuse „Raumspaltung“, „Meander II“ und das „Brunnenmodell“, für den von Stefan Engel in Rockenhausen auf einem belebten Platz realisierten faszinierenden Brunnen.

Passage 1, 2008, Keramik+Metalloxyde, 23 x 36 x 17 cm, Fotografie: Stefan Engel

Übrigens konstruierte Engel für das Habitat-Symposium 2010 ein offenes interaktives System, ein verschachteltes und scheinbar betretbares, lichtdurchflutetes Gehäuse, bestehend aus miteinander kommunizierenden, aus verschiedenen Perspektiven einsehbaren architektonischen Räumen aus Acrylglas, Eichenholz und Edelstahl.

Seine zeitgleich entstandene, überdimensionale Grafit-Zeichnung „Refugee Wear“ hinterfragt dann den globalen Raum im Sinne von Body Architecture und Urbanen Life Guards.

Folgen Sie also dem Weg Stefan Engels vom Habitus zum Habitat und kehren Sie nochmals zurück zu den Anfängen. Sie werden oben im Turm mit den sensiblen Vor- und Nach-Zeichnungen zu Keramik-Plastiken aus unterschiedlichen Epochen, mit deren poetischen und assoziativen Titeln, eine spannende Atelier-Atmosphäre vorfinden.

Wir wünschen Ihnen einen intensiven Kunstgenuss!

Mit der Einführung eines „art-after-work-Tages“ im Kunstforum Mainturm in Flörsheim am Main findet am Donnerstag, 3. Februar 2011, um 19.30 Uhr ein Werkstattgespräch mit dem Künstler Stefan Engel statt. Wir erwarten Sie!

VITA:

1960 in Mainz geboren, lebt und arbeitet Stefan Engel heute in Schweisweiler.

1986 absolvierte er an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz das Studium der Kunsterziehung, Kunstgeschichte, Geschichte und Theologie und erhielt im Anschluss daran das Förderstipendium der Johannes-Gutenberg-Universität .

Von 1988 bis 1992 erhielt er an der Mainzer Universität und an der Fachhochschule Mainz Lehraufträge für keramische Plastik und Plastik.

Zeitgleich wurde er schon von der sehr bekannten Keramikgalerie von Wolf Böwig aus Hannover auf Kunstmessen vertreten. Neben der kontinuierlichen Ausstellungstätigkeit in Galerien und Kunstvereinen organisierte Stefan Engel seit 2002 zwei internationale Bildhauersymposion am Donnersberg und leitete bis 2010 zwei weitere internationale Bildhauersymposien des Landes Rheinland-Pfalz, deren Ergebnisse, inklusive seiner eigenen Arbeiten, in den Skulpturenweg Rheinland-Pfalz aufgenommen wurden. Er beteiligte sich auch an internationalen Symposien im Ausland: in Frankreich, der Schweiz, in Rumänien und Bulgarien und zuletzt 2008 an dem renommierten internationalen Keramiksymposium im österreichischen Gmunden, wo der Austausch zwischen jungen und erfahrenen Künstlern gefragt und die künstlerische Qualität Bedingungen waren. Seine Symposiumsarbeiten wurden anschliessend auf Ausstellungen in Österreich und Italien (in Faenza) und danach in Deutschland (in Rockenhausen und in Höhr-Grenzhausen) gezeigt. Engel geniesst den Ruf, ein innovativer Künstler zu sein. Zahlreiche seiner grossen Keramikskulpturen stehen als Auftragsarbeiten im öffentlichen Raum.

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