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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 16

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (16)

29.4.8, PoWi. Kein Referat, die Referenten sind nicht bereit.

Das passt mir ganz gut, so können wir Deutsch machen, die Handlung des Films mit dem Buch vergleichen, der K kann wieder nicht den Mund halten, er redet, egal ob er dran ist oder nicht, aber weil er sehr gescheit zum Unterrichtsgespräch beiträgt, verzichte ich auf durchgreifende Maßnahmen. Ohnehin muss ich ihn in der zweiten Stunde nicht mehr so ertragen, weil ich einen Auftrag zur Gruppenarbeit erteile, nämlich die Vorbereitung eines Rollenspiels, in dem Herr Wenger, der der Führer der „Welle“ war, vor Gericht steht; sie sollen Argumente sammeln für Staatsanwalt, Verteidigung und den Richterspruch.

Was passiert? Es bildet sich eine Ausschuss-Gruppe der sieben Schüler, die am nervigsten sind. Ich erlaube das nicht; die Gruppe muss sich teilen, und eine Vierergruppe, die daraus hervorgeht, K, A, T und K3, nenne ich heimlich die Gruppe der „Spaziergänger“, weil diese Schüler alle nicht sitzen bleiben können, also ich meine: auf dem Stuhl sitzen, denn in die 11 versetzt wird wahrscheinlich keiner. Während andere an einem Arbeitsauftrag sitzen, spazieren diese Schüler durch die Klasse, und sehen mal hier, sehen mal da, wenn irgendwo möglich, schnappen sie eine Idee auf, schmarotzen ganz unverblümt, indem sie sich in einer Traube um einen guten Schüler herum setzen und von ihm abschreiben; und bis der gute etwas auf seinem Papier hat, beteiligen sie sich an kleinen Streichen: Mäppchen verstecken, provozieren usw. Diesmal sehe ich nicht mal ein Papier bei den Spaziergängern, ich treibe sie zusammen und versuche, die Arbeit anzufachen. Da muss der K mal aufs Klo, und der A weist darauf hin, dass ich versprochen habe, dass jede Gruppe fünf Minuten Pause einlegen dürfte …
Nebenbei händige ich fünf Schülern ihre neu gedruckten Zeugnisse aus – mit „korrigierten“ Fehlzeiten. Kollege B3, Mitglied unseres LUSD-Rettungsteams, hat sie mir in der Pause überreicht mit den Worten: „In diesen fünf Blättern stecken 45 Minuten meines Lebens drin!“ So lange habe die Mausarbeit gedauert, nur um fünf Zahlen mit Nullen zu überschreiben.
Die Schüler reklamieren sofort: Die Anzahl der Fehltage ist dieselbe wie vorher!
Ja, sage ich, das wurde nicht geändert, aber sehen Sie mal, bei den unentschuldigten Fehltagen, was steht da? Null!
Aber ich habe gar nicht so und so viele Tage gefehlt, heißt es, und ich weise darauf hin, dass es nur um die Entschuldigung ging.
Nur wenig später stehen drei, vier Spaziergänger vor mir. Sie wollen auch neue Zeugnisse!
Kategorisch lehne ich ab: „Nein! Das war eine Ausnahme-Erlaubnis des Schulleiters, und zwar nur für die Fälle, die auf dem Elternabend besprochen wurden!“
„Aber ich will das auch“, fordert der A, „meine Eltern konnten nicht kommen, die mussten arbeiten.“
„Dann sollen Ihre Eltern einen Termin mit mir vereinbaren, für ein persönliches Gespräch. Das wäre sogar sehr gut. Dann können wir alles besprechen, nicht nur die Zeugnisse. Jetzt kann ich Ihnen gar nichts versprechen. Der Schulleiter entscheidet das letztgültig.“
Nur der T schreibt sich meine Nummer auf. Mal sehen, ob Eltern anrufen, wenn, dann soll sich unser Termin lohnen! Leider sagt mir die Erfahrung, dass sie das nicht tun.

30.4.8, Fortsetzung Deutsch.
Die Spaziergänger erklären sich arbeitsunfähig, weil der K fehlt: „Der K hat alle Unterlagen mitgenommen, wir können nichts machen!“
„Aber Sie hatten letztes Mal doch gar nichts aufgeschrieben!“
A insistiert: „Der K hat unsere Ideen zu Hause aufgeschrieben!“
„Ihre Ideen kennen Sie doch noch und können sie jetzt ausarbeiten!“
„Nein, wir erinnern uns nicht.“
„Das war doch gestern, und heute wissen Sie nichts mehr! Ihr armen Schüler. Was wollt ihr jetzt machen?“
„Machen wir mal Pause.“
„Nichts da! Sie haben ja nicht mal angefangen. Sie setzen sich jetzt zusammen und fangen eben von vorne an! Sie sollen ja nur Stichwortzettel für jede Rolle schreiben.“

In den anderen Gruppen geht es etwas besser. Ein Schüler wünscht ein Requisit, das man als Hammer benutzen könnte, und ich frage, ob es auch ein Hammer täte? JA! Nie war ein Hammer so wertvoll, ich suche im Nebenraum und finde einen Eisen-Hammer, 300 Gramm, der tut es. Ich lege ihn auf den Lehrertisch, auf einen Papierblock, damit das Hämmern nicht zu laut wird und kein Einschlagschaden entsteht.

Einen der Spaziergänger, den J, nehme ich ins Verhör, wie er sich vorstellt, die Arbeit fertigzubringen? Bevor J antworten kann, fährt der R laut dazwischen: „Der ist doch ein Drecksack, der wird es nie zu etwas bringen!“ Der J ist zum Glück so verdattert, dass ich den Streit durch Zurechtweisung R’s im Zaum halten kann…
Nach einer Stunde ist eine Gruppe fertig, sie wollen sofort vorspielen, obwohl die anderen nicht fertig sind – sonst würden sie den Mut verlieren. Also rufe ich dazu auf, die Arbeit zu unterbrechen.
Die Gruppe vorne liest ihre Papiere an, im Publikum achten nicht viele darauf, die anderen Gruppen reden einfach weiter, um ihr Spiel fertig zu kriegen.
Ich unterbreche, bitte sie, sie sollten zuhören, sie bekämen nach dem Vorspiel noch Zeit, um sich fertig zu besprechen, aber es nützt nichts, sie sind nervös, besprechen sich weiter, aber ich muss nicht noch mal unterbrechen, weil die kurzen Texte schon nach drei Minuten fertig sind. Kaum einer hat etwas verstanden, mein Versuch, die Vorstellung zu kritisieren, interessiert nur die Gruppe selbst. Und die nächste Gruppe ist fertig, will sofort vortragen. Ich heiße sie noch abwarten, und sehe nach, ob die anderen nun fertig sind? Jaja, sagen sie, sie hätten alles.
Also, die nächste Gruppe beginnt, und nach zwei Sätzen stockt das Spiel: Keiner weiß, wer an die Reihe kommt, und sie streiten sich. Redet doch frei, rufe ich, aber das klappt nicht, der eine fängt einen Satz an vorzulesen, der andere unterbricht ihn, schimpft, das sei die falsche Stelle, während der Rest der Klasse in Klamauk abdriftet. Schluss, rufe ich, keinen Streit, alle hinsetzen, die Gruppe versucht es noch mal in freier Rede, ohne Zettel!
Das totale Chaos ist nicht mehr aufzuhalten: vorne drischt der Richter mit dem Hammer hemmungslos auf dem nackten Tisch herum, was aber keinen beeindruckt, nur ich stehe kurz vor einem Anfall, rufe: nicht auf den Tisch hämmern! Er lässt davon ab, aber schreit umso lauter, wird gegen seine Kameraden ausfällig, die anderen Schüler jagen wild durch den Klassensaal, spielen Gauner und Polizisten. Noch sitze ich auf meinem Zuhörerstuhl, aber ich spanne mich an, um zurückzuschlagen, mit Abbruch und Strafarbeit zu drohen, ja, eine benotete Strafarbeit wäre die einzige Konsequenz. Oder was wäre noch von den anderen Gruppen zu erwarten? Als dritte kämen die Spaziergänger dran, die überhaupt gar kein Papier zustande gebracht haben, die bringen sowieso nichts hin, und der vierten Gruppe um den R ist auch nichts zuzutrauen, aber alle Gruppen sollen dann eben ihre Rollenskripte abgeben, wird auch benotet, und die Spaziergänger fallen dann mal schön durch. In meiner grollenden Versenkung, als ich still meinen Zorn im Krach im Klassensaal ausbrüte, bis dass sich ein triftiger Anlass, ein Funke zur Explosion ergäbe, dass ich losbrülle, alles abbreche und Rechtschreib-Arbeitsblätter austeile – da ruft mich laut der A auf:
„Herr I, Sie werden angeklagt!“
Ich fahre auf. „Ich?!“
„Ja, Sie!“ Seine Selbstsicherheit lässt keinen Zweifel: „Sie müssen mitspielen. Wir sind nur drei in der Gruppe, und Sie sind der Lehrer!“
Die Spaziergänger! Ich bin zu verblüfft, um zu antworten.
Ich werde zur Anklagebank eskortiert.
Der Staatsanwalt A klagt mich in freier Rede an, J, der Richter fordert mich auf, auszusagen.
Ich fange an: „Ich bin unschuldig, weil ich gar keinen…“ – der Hammer des Richters würgt mich ab: „Angeklagter, stehen Sie auf, bevor Sie sprechen!“
Ich springe auf die Füße und beginne von vorn: „Herr Richter, ich bin unschuldig. Ich habe niemanden umgebracht, auch nicht zum Mord angestiftet. Und woher hätte ich wissen sollen, dass dieser verrückte Typ eine Waffe bei sich trägt?“ Ich setze mich.
J faucht mich an: „Angeklagter, aufstehen!“
Ich stehe stramm.
„Jetzt können Sie sich setzen.“
Ich setze mich hin.
Der Staatsanwalt wirft mir vor, dass ich für das alles verantwortlich sei, weil ein Lehrer das hätte wissen müssen. Unter seinen Vorwürfen zucke und zucke ich auf meinem Stuhl zusammen.
„Einspruch!“ schreit T, mein Verteidiger. „Was bilden Sie sich denn ein, als dicker, fetter Staatsanwalt von anderen zu verlangen, alles zu wissen. Auch ein Lehrer ist nur ein Mensch.“
Der Richter schickt den Gerichtsdiener zum T, damit er sich auf seinen Platz zurücksetzt. Doch T verteidigt mich echt türkisch: Er droht dem Lakaien mit der Faust und beschimpft den Richter, und als unsere Ehre gerettet ist, fügt er sich und setzt sich. Ich lehne mich zurück in den Stuhl, fühle mich leicht und frei, und liebe meinen T, der mich so väterlich behütet.
Überhaupt ist die ganze Klasse wie verwandelt: Zwei Gerichtsdiener stehen bereit, um für wirkliche Disziplin zu sorgen, und sie werden respektiert, und immer mehr Schüler schalten sich als Zeugen ein, sagen gegen mich aus oder verteidigen mich. Erst nach einer halben Stunde ziehen sich Richter, Staatsanwalt und Verteidiger zurück, um das Urteil zu beraten.
Das Ergebnis: Der Prozess wird vertagt, weil noch keine Klarheit bestehe. In der nächsten Stunde müssten weitere Zeugen gehört werden.

Die vierte Gruppe kann in aller Ruhe und Ordnung spielen. Die Klasse unterstützt die Rollen, wenn es hapert; der D springt als Staatsanwalt ein, und stellt die entscheidende Frage: „Warum haben Sie, Herr Wenger, Tim nicht die Waffe abgenommen, als er sie sinken ließ?“
Das wird heiß diskutiert, und ich werde nicht mehr gebraucht.

Am Ende der Stunde besprechen wir, wer wie gut mitgemacht hat. Die ersten zwei Gruppen führen an, dass sie es besser gemacht hätten, wenn sie nach der dritten Gruppe dran gewesen wären, denn dann hätten sie gewusst, wie das geht. Wir einigen uns darauf, dass alle etwas zum Gelingen beigetragen haben, alle kriegen ein Plus für diese Stunde. Und manche haben außerordentlich viel geleistet, die kriegen noch ein Plus, aber der A schreit: „Für mich dreimal Plus!“ Fast alle haben sehr viel geleistet, ich zähle nur die Ausnahmen auf, die wenig gemacht haben, weil sie ihre Rolle verspielt haben, oder im Publikum viel gestört haben, die kriegen nur ein Plus, alle anderen kriegen ein Doppelplus. Zum Schluss sind alle zufrieden, außer dem A: „Ich habe ein Dreifachplus verdient, weil ich auch bei anderen Gruppen mitgemacht habe!“
Ich nehme den Hammer und hole damit aus. „Einspruch abgelehnt! Es gibt nicht mehr als zwei Plus, auch für den A nur zwei Plus.“ Ich haue dreimal auf den Block. „Die Sitzung ist geschlossen!“
Ich postiere mich an der Tür, damit keiner geht, bevor der Raum sauber ist und alle Stühle oben stehen. Als nur noch ein Papier auf dem Boden liegt, lasse ich alle warten, bis der G sich erbarmt, es aufzuheben. „Danke, ein soziales Plus für den G“, sage ich, und plötzlich suchen viele Schüler, noch etwas aufzuheben, verlangen ein Plus, aber ich schicke sie raus.

5.5.8 In der Pause mache ich mal zwei Minuten Pause. Ich sitze am Tisch, Kollegin A flippt neben mir herum, sieht mich untätig, haut mich an: Ob ich wüsste, wo der O aus meiner Klasse Unterschlupf gefunden hätte? Er suche eine Notunterkunft, weil die Zustände bei seiner Mutter untragbar geworden seien, und gestern hätte er nicht gewusst, wo er die nächste Nacht bleiben sollte! – Ich habe von nichts eine Ahnung, frage, ob nicht das Jugendamt eingeschaltet wäre? – Das Jugendamt wisse seit Wochen Bescheid, dass O eine Notunterkunft brauche, aber die hätten keine freien Plätze. O hätte versucht, bei K3 zu übernachten. – Der O ist ein ganz lieber, ich würde ihn ja nehmen, wenn ich Platz hätte; aber das ist ja keine Lösung. Wie war es sonst in der X2? – Es sei letztes Mal ruhiger in meiner Klasse gewesen, der K war nicht da, und sie hat ein paar ermahnt, dass sie Auszeiten bekämen, wenn sie sich weiter so benehmen würden. Da habe ihr R, einer der Ermahnten, entgegengeschallt: „Ich hab nichts gemacht! Sie haben sich wohl die Brille nicht geputzt!“ Einen anderen, den A, habe sie auch ermahnt – seine Reaktion zeuge davon, dass er sozial dazu gelernt habe: „Bevor ich mich jetzt aufrege, lassen Sie uns das mal in Ruhe besprechen!“ Nein, schließt Kollegin A unser Gespräch, „in deine Klasse gehe ich immer noch nicht gerne.“

9.5.8, 13 Uhr: Sondergespräch in der Bibliothek. Auf Wunsch der Erzieherin von R hat Kollege P das Klassenteam eingeladen, und so sitzen wir hier versammelt: der R mit seiner Erzieherin sowie die Kollegen P, A, T, H und ich – eine große Runde um den R, der schon wie oft gemahnt wurde wegen unverbesserlicher Fehlzeiten, zweimal hat er im ganzen Schuljahr am Sportunterricht teilgenommen, in der Fachpraxis trägt er keine Arbeitsschuhe, und mit den Kameraden gerät er immer wieder in Streit, da er sie aus nichtigen Anlässen deftig beleidigt.
Jetzt war es die Initiative der Erzieherin, die nachfragte, warum bringt der R keine Unterschriften von den Lehrkräften? Er soll nach jeder Stunde abzeichnen lassen, dass er im Unterricht war, aber warum klappt das nicht, fragt uns der P, wollen etwa die Lehrer nicht unterschreiben,?
Nein, nein, beteuern wir: Selbstverständlich würden wir unterschreiben, wenn wir denn jemals so ein Testatbogen hätten vorgelegt bekommen. – Und warum legte R uns den nicht vor? Der R bringt hervor, er habe Kopfschmerzen und könne sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Der Kollege P hält ihm entgegen, wenn das so sei, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht schulfähig sei, müsse er eben den Schulbesuch unterbrechen und zunächst einmal seine Gesundheit herstellen.
R wiederholt die Zehn, wenn er wieder sitzen bleibt, dürfte er nicht noch einmal wiederholen – entweder er schafft es oder das war’s. Wir brauchen ihn nicht mal abzumahnen, wir brauchen nur die paar Wochen noch abzuwarten, dann fliegt er sowie raus.
R reagiert nicht.
Was wollen Sie, Herr R?
Undeutlich äußert R, dass er es schaffen wolle.
Mit einer 6 in Sport ist er aber erledigt.
„Warum nehmen Sie nicht am Sportunterricht teil?“
„Ich hatte keine Sportsachen.“
„Und wenn Sie keine Sportsachen dabei haben, warum schreiben Sie dann keine Protokolle über die Stunden, so wie Sie es auf hatten?“
„Das ist doch für den Müll. Keiner interessiert sich für so ein Protokoll. Der Herr T gibt sinnlose Aufgaben.“
„Sie wollen besser als der Lehrer wissen, was sinnvoll ist und was nicht?“
„Ist doch wahr. Keiner liest das.“
„Sie haben kein Recht, darüber zu urteilen. Wenn Sie die Aufgabe bekommen, Protokolle zu schreiben, müssen Sie das auch machen. Sonst ist das Leistungsverweigerung und wird mit Note 6 bewertet.“
„Ich hab ja nicht gesagt, dass ich es nicht mache. Ich habe die Protokolle doch geschrieben.“
„Und warum habe ich kein einziges Protokoll von Ihnen bekommen?“
„Sie haben doch gar nicht gesagt, dass ich die auch abgeben soll!“
„Also dann können Sie die fünf oder sechs Protokolle von diesem Halbjahr noch abgeben?“
„So viele habe ich auch wieder nicht.“

Auf dem Weg zur Bahnstation nähere ich mich einem vor der Ampel stehenden Opel, irgendein neueres Modell, sauber poliert, an der Seite flattert ein Deutschland-Fähnchen; von hinten erkenne ich: Vorne sitzen Erwachsene, hinten kleine Kinder, die Eis essen, Wassereis, das sie aus Plastiktüten schieben, und auf dem Beifahrersitz wohl die Mutter, Fenster runter gekurbelt, sie wirft das Plastik ihres Wassereises auf die Straße.
Ich halte mein Fahrrad rechts neben ihrem Fenster an und rufe: „Hallo, Sie haben da was verloren!“
„Nö, hab ich nicht“, sagt keck die feiste Deutsche.
„Haben Sie das absichtlich weggeschmissen?“
„Was geht Sie das an!“
„Und wer soll Ihren Müll wegmachen?“
„Na, Sie!“
Ich bücke mich, richte mich wieder auf, will ihr den Müll zurückgeben, aber die wehrhafte Germania kämpft mit fuchtelnden Händen das Plastik wieder zu Boden, faucht mir entgegen, der Mann spuckt seine Galle dazu.
„Tolle Erziehung!“ rufe ich.
Der Stiernacken wird wüst, schwankt offensichtlich, ob er aussteigen soll, entscheidet sich aber für das Gaspedal.

Nein, so schnell gibt es kein Nachlassen – nicht an diesem Tag, und wohl auch nicht in den nächsten Jahrzehnten: Der Nachschub für unsere Schüler sitzt in solchen Autos.

14.5.8

Wie immer sitzen die Gruppen tatenlos zusammen. Ich muss jede Gruppe einzeln aufsuchen, ihnen die Aufgabenstellung erklären und sie wiederholt besuchen, damit sie etwas tun. Einer sitzt allein, wo ist denn seine Gruppe? Die anderen spazieren herum…
Wie immer muss ich die Schüler damit bedrohen, dass ich ihre Arbeitsergebnisse einsammle und benote. Das hilft in der Hälfte der Fälle, und die andere Hälfte der Unwilligen, zu denen auch die Spaziergänger gehören, sorgt dafür, dass ihre Namen irgendwo auf einem Arbeitsblatt von arbeitenden Kameraden hinzugefügt werden. Ich notiere die dreistesten Trittbrettfahrer: K, A, K3, T, wie üblich.
Um zehn vor eins packen auch die seriösesten Schüler die Stifte ein. Damit habe ich gerechnet. Hinterhältig ziehe ich einen Test heraus: Die Schüler sollen jetzt diese „Schriftliche Überprüfung der Hausaufgabe“, die benotet wird, erledigen. Wer „Die Welle“ gelesen hat, kann in diesem Ankreuz-Test die auf den Inhalt zutreffenden Aussagen ankreuzen. Um den tumultartigen Protest niederzuschlagen, rufe ich aus, dass es nur fünf Minuten dauert, die paar Kreuze zu setzen, und verlange, dass jeder, der noch redet, den Test abgenommen bekommt und gehen muss. „Ganz egal, was, ich will ab sofort keinen mehr reden hören“, befehle ich und teile die Zettel aus, und schon geht es los, Gemurre, Getuschel, der G ruft herein, prompt nehme ich ihm den Test ab, der A quereelt, er kriegt den Test kurzerhand auch abgenommen, G und A empören sich lauthals über diese Ungerechtigkeit, D und K krakeelen herum, der Tumult ist nicht mehr aufzuhalten, ich bin damit ausgelastet, die Zettel wieder einzusammeln, alle geben ab, freiwillig, weil es ja auch schon fünf vor eins ist.
Abends habe ich die Mutter von G auf dem Anrufbeantworter: Ihr Sohn sei sehr aufgebracht, sie bittet um Rückruf. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, den Fall mit dem G direkt zu klären. Aber wenn ihre Kinder angegriffen werden, sind gute Eltern sofort zur Stelle.
Ich rufe nicht zurück. Ich weiß zwar nicht, ob das pädagogisch klug ist, aber mein Nervensystem gebietet, den Fall ruhen zu lassen.

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