home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“ in der SCHIRN Kunsthalle

Was sind Outsider? Aussenseiter, Aussenstehende, sogar „Uneingeweihte“, wie im deutsch-englischen Wörterbuch zu lesen steht. Wenn es sich dabei um Künstler handelt, spricht man seit dem 1985 verstorbenen antiakademischen Maler, Bildhauer und Aktionskünstler Jean Dubuffet, der sich vom Bildvokabular der Kinder, Naiven oder Geisteskranken inspirieren liess, von Art Brut. Seine rund 15.000 Objekte umfassende Sammlung von Werken von Geisteskranken, gesellschaftlichen Aussenseitern und Sonderlingen schenkte er der Stadt Lausanne, wo sie heute als Collection de l’Art Brut zu sehen ist. Der britische Kunsthistoriker Roger Cardinal prägte Anfang der 1970er Jahre den heute üblichen Begriff der Outsider Art, also der Aussenseiter-Kunst.

Berühmt wie sein Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ wurde die seinen Namen tragende Sammlung des 1933 verstorbenen Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Und nicht minder berühmt ist das „art/brut center gugging“ im österreichischen Maria Gugging mit Museum, Galerie und vor allem dem Haus der Künstler der vormaligen Landesnervenheilanstalt, heute als Einrichtung der Sozialhilfe Atelier und Heimstatt chronisch psychiatrisch Erkrankter und geistig Behinderter mit besonderer künstlerischer Befähigung.

Haus der Künstler in Maria Gugging (Bildnachweis: Ulrichulrich, wikimedia commons cc)

Wir berichteten über die beiden sehr beachtenswerten Ausstellungen Bilder, die bewegen: Künstlerinnen und Künstler der Praunheimer Werkstätten in der Frankfurter Heussenstamm-Galerie und (nur noch bis zum 7. Januar 2011 zu sehen) “Outsider from Costa Bernstein”, ebenfalls in der Heussenstamm-Galerie.

Ende September 2010 eröffnete die SCHIRN Kunsthalle Frankfurt am Main die Ausstellung „Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“, die noch bis 9. Januar 2011 läuft. Gezeigt werden Arbeiten von A.C.M. (geb. 1951), Aloïse (1886 bis 1964), Emery Blagdon (1907 bis 1986), Henri Darger (1892 bis 1973), Auguste Forestier (1887 bis 1958), Madge Gill (1882 bis 1961), Karl Junker (1850 bis 1912), Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892 bis 1982), Judith Scott (1943 bis 2005), Oskar Voll (1876 bis ?), August Walla (1936 bis 2001), George Widener (geb. 1962), Adolf Wölfli (1864 bis 1930) und Birgit Ziegert (geb. 1966).

Ausstellungsansicht SCHIRN Kunsthalle Frankfurt; Birgit Ziegert, Wandmalerei, Fotografie: Norbert Miguletz

Birgit Ziegert wurde 1966 in Frankfurt am Main mit dem Down-Syndrom geboren. Bis 1982 besuchte sie eine Schule für praktisch Bildbare; seitdem arbeitet sie in einer Behindertenwerkstatt. Seit 2006 besucht sie an drei Tagen der Woche das Atelier Goldstein, in dem behinderte Künstler in den Bereichen Malerei, Plastik, Modellbau, Fotografie und Film arbeiten. Ziegerts Begabung wird seit längerem auch im Kunstkontext wahrgenommen, beispielsweise 2009 in der Einzelausstellung „Birgit Ziegert – Flora und Fauna“ im Frankfurter 1822-Forum.

A.C.M., 1951 im französischen Aisne geboren, nahm 1968 ein Studium an der École Régionale Supérieure d’Expression Plastique in Tourcoing auf, das er nach fünf Jahren abbrach. Nach Selbstmordversuchen begegnete er 1974 Corinne, seiner späteren Frau, die ihn in der Arbeit und der Kommunikation mit der Aussenwelt unterstützt. Sein Künstlername verbindet die Namen des Paares: Alfred Corinne Marié (Alfred, verheiratet mit Corinne). 1976 zogen beide in eine verlassene Weberei, und A.C.M. begann kontinuierlich künstlerisch zu arbeiten. Es entstehen Reliefs aus Fundstücken und Skulpturen aus kleinen elektronischen Teilen, die er säubert, verformt und bemalt.

George Widener, SUNDAY’S CRASH, 2005, Tinte auf Papier; 91,4 x 132,1 cm; collection abcd, Paris; Fotografie: collection abcd, Paris

George Widener, 1962 in Covington, Kentucky mit dem Asperger-Syndrom geboren, wurde nach dem frühen Tod des Vaters und bei psychischer Instabilität der Mutter in die Obhut von Grossmutter und Tante gegeben. Er beendete trotz Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion erfolgreich die High School und verpflichtete sich bei der Air Force. Später schloss er im Rahmen eines Bildungsprogramms für lernbehinderte Studenten ein Studium Freie Kunst an der Universität von Tennessee in Knoxville ab. Widener lebt in Asheville, North Carolina. Einen Grossteil seiner Zeit verbringt er damit, über Zahlen, kalendarische Sequenzen, Fakten und Statistiken nachzudenken. Er hat Tausende historischer Daten und Bevölkerungsstatistiken im Gedächtnis und beherrscht das Kalenderrechnen, also die sofortige Ermittlung des Wochentags zu einem Datum. Seit 2000 fertigt er aufwendige Zeichnungen: mechanische Modelle, städtebauliche Utopien oder Analysen von Katastrophen, umgeben von Zahlenreihen und Berechnungen. Widener lebt in der Überzeugung, dass künftig Supercomputer die Welt beherrschen und auch seine Kunst verstehen werden.

Aloïse Corbaz, genannt Aloïse, L’Arc de Triomphe / L’Étoile nous éclaire, verso d’une ?uvre double face; Farbkreiden, Bleistift, Gouache, 2 Blätter zusammengenäht; 90,5 x 62 x 3,5 cm; Kunstmuseum Solothurn, Schenkung Etienne und Jacqueline Porret-Forel, © Fondation Aloïse; Fotografie: Simon Schmid, Bern

Aloïse Corbaz, genannt Aloïse, 1886 in Lausanne geboren und 1964 in Gimel-sur-Morges verstorben, absolvierte eine höhere Schulbildung, nahm Gesangsunterricht und erarbeitete sich ein Opernrepertoire, musste jedoch die Näherei erlernen. Nach Tätigkeit in Potsdam als Gouvernante von Kindern eines Pastors kehrte sie bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Lausanne zurück. Sie fiel durch Wahnvorstellungen und Verfolgungsideen auf und wurde 1918 in die Psychiatrische Universitätsklinik eingewiesen. Wenig später verlegte man sie in die psychiatrische Anstalt für chronische Krankheiten in Gimel-sur-Morges, wo sie auch starb. Nach Phasen von Aggressivität und Verschlossenheit hatte sie zu zeichnen begonnen. 1948 hatte ihre Psychiaterin Jean Dubuffet mit den Arbeiten bekannt gemacht, der einige von ihnen in die bereits erwähnte Collection de l’art brut aufnahm.

Friedrich Schröder-Sonnenstern, 1892 bei Tilsit geboren, wuchs in einer Grossfamilie in prekären Verhältnissen auf. Er wurde wegen Landstreicherei, Diebstahl und Tätlichkeiten in eine Erziehungsanstalt eingewiesen. Erregungszustände brachten ihn 1912 in die Provinzialirrenanstalt Allenberg. Nach seiner Entlassung begann er ein Vagabundenleben, wurde erneut in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und entmündigt, jedoch abermals entlassen. In Berlin führte er als „Sonnenkönig Eliot der I.“ eine religiöse Sekte an, gab seine Einkünfte den Armen, betätigte sich als Wahrsager, Magnetopath und Wunderheiler. Als vemeintlicher „Geheimrat Professor Dr. phil. Eliot Gnass von Sonnenstern, Fachpsychologe für Universitätswissenschaften“ kam er wegen unerlaubter Heiltätigkeit mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt und wurde im November 1933 erneut in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, wo er zu zeichnen begann. 1950 entstand der Kontakt zu einer Berliner Galerie, die seine ersten 20 Blätter mit grossem Erfolg verkaufte. Um Schröder-Sonnenstern entstand ein Atelierbetrieb mit „Kunstschülern“, die ihm bei der Produktion assistierten. Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin 1964 verarmte er, verlor seine Wohnung und starb, von Freunden gepflegt, 1982 in Berlin.

August Walla, Grüss Gott, Garber-Hansi mein.!; 1987, Acryl auf Leinwand; 260 x 130 cm; Sammlung Essl, Klosterneuburg

1936 in Klosterneuburg geboren und 2001 in Maria Gugging verstorben, wuchs August Walla bei Mutter und Grossmutter auf; seine frühe Kindheit verbrachte er in einem Schrebergarten an der Donau, welcher sein Leben lang von grosser Bedeutung für ihn blieb. Nach dem Tod der Grossmutter kam Walla in ein Erziehungsheim, wo psychotische Halluzinationen diagnostiziert wurden. Er absolvierte die Förderschule in Klosterneuburg, übte aber nie einen Beruf aus. Wiederholt wurde er in psychiatrischen Kliniken behandelt. 1955 entmündigt, wurde seine Mutter als Vormund eingesetzt, die bis zu ihrem Tod seine engste und wichtigste Bezugsperson blieb. In der Heil- und Pflegeanstalt Maria Gugging wurde deren Leiter Leo Navratil auf sein künstlerisches Talent aufmerksam. 1983 zog er in das dortige Haus der Künstler. Zeitlebens beschäftigte sich Walla mit Zeichnungen, Malerei, Fotos und Schrift. Er entwickelte seine eigene Mythologie mit Götterfiguren, Wörtern aus Fremdsprachen und symbolischen Zeichen, mit denen er sein Zimmer vollständig auskleidete.

Adolf Wölfli, Skt. Adolf=Graab=Quellen=Schloss; 1918, Bleistift und Farbstift auf Papier; 88 x 60,3 / 61,7 cm; © Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern; Fotografie: Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern

Adolf Wölfli, geboren 1864 in Bowil und 1930 verstorben in Waldau bei Bern, wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Nachdem der alkoholabhängige Vater die Familie verlassen hatte und die Mutter verstarb, arbeitete er unter schweren und unwürdigen Bedingungen als Verdingbub, Knecht und Handlanger. 1890 wegen sexueller Belästigung Minderjähriger zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, isolierte er sich gesellschaftlich nach seiner Entlassung. 1895 wegen versuchter Vergewaltigung erneut verhaftet, wurde er in die Irrenanstalt Waldau eingewiesen. 1899 begann Wölfli mit dem Zeichnen und Schreiben. Ab 1908 schrieb er an dem Text „Von der Wiege bis zum Graab“: rund 3000 Seiten illustriert mit Farbstiftzeichnungen. Anschliessend arbeitete er an der Niederschrift der „Geographischen und allgebräischen Bücher“, deren Text Musik- und Zahlenbilder begleiten. Walter Morgenthaler, Arzt und Psychiater an der Waldau, verfasste mit dem Titel „Ein Geisteskranker und Künstler“ eine erste Biografie über Wölfli, dessen Zeichnungen in Bern ausgestellt wurden. Es folgten rund 7000 Seiten seiner Hefte mit Liedern und Tänzen. Ab 1924 arbeitete er an den „Allbumm-Heften“ mit Tänzen und Märschen, die weitere 5000 Seiten umfassen. Von 1928 bis zu seinem Tod schrieb und zeichnet Wölfli schliesslich auf 8000 Seiten seinen Trauer-Marsch.

„Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“ – so der Titel dieser in Frankfurt am Main  bislang einzigartigen Ausstellung in der SCHIRN Kunsthalle, die noch bis zum Sonntag, den 9. Januar 2011 zu sehen ist.

„Gebunden an ihre schöpferischen Fähigkeiten, an seelische Zustände, die vom Alltäglichen und ‚Normalen‘ mehr oder weniger abweichen, enthüllen Outsider-Künstler in ihren Arbeiten Unerwartetes und lassen fantastische Werke entstehen. Häufig am Rande der Gesellschaft stehend, beleuchten sie die Grenzen und Widersprüchlichkeiten des menschlichen Daseins und vermitteln eine tiefe Unruhe über die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Fantasie“, steht es in dem einführenden Wandtext der Ausstellung zu lesen. Und weiter:

„Was zeigen diese Arbeiten? Eine Kunst, die sehr wohl die Geschichte und die Kultur in ihre Werke aufnimmt und somit nicht vom Rand, sondern aus dem Zentrum der Gesellschaft berichtet. Darüber hinaus vermitteln sie Visionen und Anregungen jenseits des Normalen, Gewohnten und Üblichen. Die gewandelten Welten laden den Betrachter ein, aus den Gewissheitsstrukturen seines Alltags herauszutreten.“

Comments are closed.