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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 14

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (14)

Noch ein Kreuz: meine 10 BF X2

11.3. Schon gleich zu Beginn Proteste, dass wir überhaupt eine Arbeit schreiben, das hätte keiner gewusst, sei nicht im Klassenordner eingetragen gewesen. – Ich schlage das nach: Tatsächlich hatte ich den Vermerk vergessen; aber dort war für diese Woche nur eine andere Arbeit geplant. „Also, Leute, ich hab letztes Mal gesagt, dass wir schreiben, und ihr könnt in einer Woche drei Arbeiten schreiben. Also wird geschrieben!“
Beim Verteilen der Arbeitsblätter gibt es weiter Unruhe; die Schüler sind kaum bereit, ihre Ordner und all die unerlaubten Dinge zu entfernen, ich mahne, weise darauf hin, dass jede Bemerkung zu einem Nachbarn als Täuschungsversuch gewertet wird, aber immer wieder kommt Geraune auf, und K klagt, dass diese und jene Fragen in der Arbeit unmöglich seien, da im Unterricht nie behandelt worden; ich entgegne, dass das an der Tafel stand, man hätte es ja mal abschreiben können! Das Getuschel legt sich allmählich, aber plötzlich blökt einer los, der K in Wallung: „Wer war das, der kriegt Schmerzen!“ Warum, siehe da: Der K hat seine halb gefüllte Colaflasche vermisst und jetzt auf der Türzarge stehend entdeckt – Gepruste, Gekicher, Schadenfreude, Vorwürfe, Dementi; mein Schreien ist nutzlos, ich muss warten, bis die Aufregung von selbst abebbt. Dann erinnere ich daran, dass das Trinken verboten ist, usw. Zwei Schüler treiben es weiter, von ihnen höre ich Getuschel; ich mahne den K ab, da er sich zu seinem Hintermann G gewendet hatte, wogegen der K prompt protestiert, er sei es nicht gewesen, und der G bestätigt, dass er, G, es gewesen sei, der geredet habe. Ich sage nichts mehr darauf, und mein Versäumnis rächt sich eine Minute später: Da tuschelt wieder der K, und aus mir platzt es heraus:
„So, Herr K, Sie müssen die Arbeit jetzt abgeben, ich hatte Sie ja schon abgemahnt!“
Der K empört sich: „Sie haben mich nicht abgemahnt.“
„Gerade vor einer Minute habe ich dich abgemahnt! Du gibst jetzt ab!“
„Das können Sie vergessen!“
Wütend nehme ich ihm das Arbeitsblatt ab: „Es ist entschieden!“
Da greift der G ein: „Sie haben den K nicht abgemahnt, ich war es doch!“
Da ich nicht ungerecht handeln will und die Note der Arbeit viel zählt, gebe ich nach: „Also gut, K, dann setze dich hier vorne hin, dann darfst du weiter schreiben.“
„Nö, jetzt nicht mehr. Wenn Sie mich so ungerecht behandeln, mach ich das nicht mehr mit.“
Ich lasse ihn. Kurz darauf kommt K nach vorne, nimmt den zugewiesenen Platz ein und schreibt seine Arbeit.

Der Notendurchschnitt dieser Arbeit ist 5,3 – obwohl ich die Bewertung angehoben habe, damit ich in der X1 nicht auch wiederholen muss: dort ist der Schnitt derselben Arbeit 4,4.

18.3. Heute ist sie einfach klasse, die X2: Aus der hinteren rechten Ecke bricht ein Lärm hervor, dessen Wellen eine leere Colaflasche nach vorne spülen, und laut wird verlesen, was mit einem Edding neben obszönen Zeichnungen geschrieben steht: „Vergast alle Schwulen und alle Punks!“
Empörtes Geschrei ist die Reaktion; allen voran fordert der K zu wissen, wer das verbrochen habe; der K2, heißt es, und ich frage K2: Haben Sie das geschrieben? – Unumwunden gibt er es zu.
Ein Tumult bricht los, zieht über K2 her, der regungslos kauert, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun. „Mein Onkel ist schwul“, brüllt der K, „und du willst ihn vergasen?“ Andere fallen ein, ihn fertig zu machen: „Du bist doch ein dummes Schwein!“ – „Weißt du überhaupt, wie Punker aussehen?“
Ich frage den K2, was er sich wohl dabei gedacht habe?
K2 antwortet, dass er eigentlich nur den R gemeint habe. Der R ist nun ein sehr auf eine gepflegte Erscheinung bedachter, aber schwieriger Schüler in dieser Klasse, der seine Kameraden notorisch provoziert und beleidigt und sich dadurch isoliert hat.
Nun aber nehmen alle den R in Schutz: „Der R ist mir tausendmal lieber als du Vollidiot!“ Alle prügeln auf den K2 ein, aber er zeigt keine Reaktion. – Und immer wieder K: „Du verdienst Schläge, echt, normaler weise würde ich dich richtig zusammenschlagen, aber du bist zu dumm, um das zu verstehen. Du hast keine Ahnung, was du da schreibst, weil du zu dumm bist! Du müsstest Schläge bekommen, aber es hat keinen Sinn, dich zu schlagen, weil das an deiner Dummheit nichts ändert. Dumme schlage ich nicht. Aber du solltest wissen, dass du dumm bist!“
Vollkommen zufrieden warte ich, bis die Wellen abgeebbt sind, und schließlich sage ich, dass ich den Reaktionen der Schüler nichts hinzuzufügen habe.
Ein mulmiges Gefühl bleibt mir zurück: Wenn das mal nur nicht in Mobbing abgleitet! Wahrscheinlich ist der K2 wirklich dumm. Schulische Leistungen jedenfalls sind nicht vorhanden. Und wegen seiner Einfalt wurde er schon öfter aufgezogen: mit Karikatur-Zeichnungen, und sie nennen den K2 nicht K2, sondern KK – ich dachte, es wäre ein Versehen, aber es geschah öfter und die Betonung war immer eindeutig: Kacka. Vermutlich hat K2 vor Verzweiflung jetzt einen Befreiungsschlag versucht, und wenn der auch töricht war, so war es ein Hilferuf. Ich werde bei nächster Gelegenheit dem aufkommenden Mobbing entgegen treten müssen.

Aber zunächst mal genieße ich ein größeres Nachlassen: Die Osterferien. Endlich Zeit, endlich geht es voran: Meine Schulerzählung gedeiht, und sieben Sätze mit Klassenarbeiten lassen mich nicht darüber nachdenken, was ich machen soll.

Ferien-Fron

Lange lagen sie verhüllt in harmlose Aktendeckel, jetzt gibt es kein Entrinnen mehr, ich muss sie öffnen und abdienen: Klausuren-Stapel auf meinem Schreibtisch! Über die Ferien bin ich mit Korrekturen bebürdet, und wenn ich bei Verwandtenbesuchen zurückgezogen bin, um scheinbar über Klausuren zu meditieren, habe ich wenigstens eine gute Entschuldigung, um mir unnötig lange Gespräche zu ersparen. Hier merke ich, wie ich die Kunst der Kollegen schätze, in Zwiegesprächen innerhalb einer Minute wesentliche Informationen auszutauschen und innerhalb von zwei Minuten Maßnahmen zu vereinbaren. Wer etwas von mir will, sollte innerhalb von zehn Sekunden zur Sache kommen. Mit normalen Menschen habe ich, wenn ich noch nicht genug nachgelassen habe, Schwierigkeiten, nicht unfreundlich zu wirken.
Überhaupt, wie kann man freundlich bleiben, wenn man korrigieren muss! Von wegen Meditation: Korrigieren ist Anti-Meditation. Nur äußerlich ist das Korrigieren still und endlos wie eine Meditation, aber es erzeugt keine Gelassenheit, sondern reizt auf zu Zynismus: Wie kann man als Mensch zu den Menschen zurückkehren, wenn man stundenlang, tagelang diese schmierig und töricht ausgefüllten Papiere durchwälzen, diese verstümmelte Pseudosprache ertragen muss, gespickt mit fürchterlich fatalen Fehlern?
Bei den Berufsfachschülern kann ich noch nachsichtig sein: die wollen nur Mittlere Reife machen und können eben nicht schreiben. Aber bei den Zwölfern habe ich wenig Verständnis, dass Schüler, die keine Immigranten sind, weder Deutsch noch Chemie können.
Nein, ich sollte mich nicht beleidigt fühlen, nur weil die Hälfte der Schüler so schreibt, als ob es meinen Unterricht nicht gegeben hätte. Vielmehr muss man von den Klausuren abstrahieren, die Menschen dahinter sehen: Keiner ist schlecht, nur weil er schlecht schreibt. Wenn ein Schüler mich fragt, welche Note er geschrieben hätte, sage ich entschuldigend: „Ich habe mir deine Note nicht gemerkt, weil das nichts über deinen Charakter aussagt. Wer eine schlechte Arbeit schreibt, ist ja deshalb kein schlechter Mensch.“
Das kann ich glauben, solange ich den Schüler vor mir sehe; doch vergesse ich alle ethischen Vorsätze, wenn ich nur noch Klausuren vor mir habe, in einer Steigerung des Schlechten. Denn in der umgekehrten Reihenfolge der Klausur-Abgabe stoße ich nach und nach zu immer lückenhafteren Klausuren vor: die Ersten, die abgegeben haben, sind die Letzten, die ich korrigiere, und es sind die Schlechtesten. Das ist einerseits erfreulich, da die Klausuren immer weniger Antwort-Texte enthalten, so dass ich, je weiter der Stapel abnimmt, desto schneller voran komme. Andererseits werden meine letzten Hoffnungen immer wüster enttäuscht. Schlimmer noch: Nach und nach fällt alles Schlechte auf mich selbst zurück, schleicht sich die Frage ein, warum ich es immer wieder zu solchen Katastrophen kommen lasse, und das Gefühl des Versagens nagt an mir. Der Zynismus weicht der Leere, und diese Leere entpuppt sich als Depression, die Stift und Kopf sinken lässt.
Ich kenne das, und ich weiß inzwischen, dass es einen Ausweg gibt: „Machen Sie weiter!“ Dieser plumpe Befehl, den der Versuchsleiter im Milgram-Experiment stereotyp wiederholt, immer dann wiederholt, wenn der Proband zögert, der anderen Versuchsperson einen Elektroschock zu verpassen, weil sie einen Fehler gemacht hat. „Machen Sie weiter!“ Und der Proband gehorcht, er macht weiter, er drückt den Schalter, die andere Person schreit, jammert und fleht, aufzuhören. Und beim nächsten Fehler fragt der Proband sich erneut, ob er den anderen mit einem noch stärkeren Elektroschock bestrafen muss, nur weil er nicht richtig gelernt hat? – „Machen Sie weiter“, lasse alle Gedanken fahren, und in Nichtbeachtung aller Skrupel sind irgendwann alle Tasten durchgedrückt, das Ende der Skala erreicht, die stufenweise zu immer höheren Spannungen, d.h. immer größerer Brutalität führt, sogar die Grenze zur Lebensgefahr wird schließlich überschritten in der Routine der Exekutive. Bloß keine Gefühle, korrigiere weiter, jeder Fehler ein Abzug, und zensiere objektiv, und irgendwann ist das Ende aller Stapel gekommen, und eine Transformation ist geschaffen: Der Klausurstapel ist umgewandelt in einen Stapel von Fünfen und Sechsen. Faulheit muss eben bestraft werden.

Jaja, ich weiß, dass meine Arbeit mit Erziehung zum Antifaschismus nichts zu tun hat. Tief, tief in mir weiß ich, dass ich mit den Schülern mich selbst bestrafe, und diese Folter zermartert mir die Seele.

„Haben Sie sich gut erholt?“ fragt mich der Kollege B am ersten Schultag nach den Ferien.
„Ja, in den letzten drei Tagen“, antworte ich, „da war ich nämlich klausurfrei!“
Schulfrei und klausurfrei: die höchste Form der Freiheit! Auf Anraten eines guten Freundes habe ich mir die Brüder Karamasoff vorgenommen, und ich lasse mich versinken in der Weisheit Dostojewskis, die mich in den nächsten Schulwochen nähren soll.

Pädagogische Maßnahmen

Mit frischen Kräften gehe ich die unaufschiebbaren pädagogischen Extraanstrengungen an. Zwei Wochenstunden Unterricht lassen sich eben nicht so nebenbei verantworten. Als erstes die Klassenkonferenz, ich zitiere aus meinem Protokoll, das ich per e-mail verschicke:

Protokoll der Klassenkonferenz 10 BF X2 vom 15.4.8

[…] die bestandsaufnahme ergab, dass ein arbeitsverhalten kaum vorhanden ist, das sozialverhalten insgesamt besser wird; jedoch sind sehr bedenkliche entwicklungen zu vermerken:
– aussage eines schülers, derzufolge sich herr K2 das wohlwollen von mitschülern angeblich durch geschenke erkauft. ansonsten akute bedrohung k2s durch mobbing-verhalten besonders durch dominante schüler. bitte genau beobachten, wer etwas dergleichen hört oder bemerkt, möge mich sofort benachrichtigen!

koll. p wies drauf hin, dass schüler keinesfalls anzufassen sind! wenn sie unseren weisungen nicht folgen (z.b. sich auf einen anderen platz zu setzen), können wir vom hausrecht gebrauch machen, das der schulleiter an die lehrer delegiert hat, und notfalls auch die polizei rufen, um einen schüler zu entfernen.

[…] elterngespräche und testatbögen erwiesen sich als hilfreich.

ich bitte um beachtung unserer BESCHLÜSSE von heute: […]

3) die klassenlehrer-aufgabe, sich individuell um schüler und deren eltern zu kümmern, wird fallweise wie folgt an die kollegen delegiert: […]

somit sind die lasten gerecht verteilt. jeder hat die aufgabe, ein augenmerk auf seine schützlinge zu legen und spätestens ab der nächsten woche in kontakt mit den eltern zu bleiben. nicht alle schüler sind sozial problematisch, aber zumindest in ihrer arbeitshaltung defizitär. deshalb sollen mit den eltern in beratungsgesprächen maßnahmen verabredet und der erfolg kontrolliert werden. alle gespräche und maßnahmen müssen in der SCHÜLERAKTE vermerkt bzw. als protokoll dort beigefügt werden!!!

bei problemen bitte ich um sofortige nachricht!!

4) koll. P wird in den nächsten tagen die klasse aufsuchen, um an die arbeitsmoral zu appellieren; wer die leistung verweigert oder im sozialverhalten untragbar ist, soll bald abgemahnt und dann ggf. ausgeschult
werden, weil sonst die lernwilligen schüler in unverantwortlicher weise gestört und beim verfolgen des klassenzieles behindert werden!

gez. I

Kollegin A hatte berichtet, dass mit Spuckrohren geschossen wird und über weite Strecken kein Englisch-Unterricht möglich sei, weil beispielsweise der N nicht bereit sei, sich nach vorn zu setzen: von seiner Hinterbank (gute Deckung) könne sie ihn nur wegbekommen, wenn sie ihn am Arm zerre oder seine Tasche entführe – und bis der Schüler seinen Sachen nachfolgt, daure es sehr lange. Darauf sah sich der Abteilungsleiter zur oben zitierten Klarstellung der Rechtslage veranlasst.

In der nächsten Stunde am 16.4. fragen mich die Schüler, die mit mir zusammen eintrudeln, warum ich so hetze?
„Wir sind doch ein paar Minuten zu spät, und ich wollte natürlich die Verspätung, die mein Zug hatte, wieder herausholen!“ Ja, bestätige ich den ungläubigen Schülern: Ich bin extra wegen dieser zwei Stunden in die Schule gekommen!
„Und dafür stehen Sie so früh auf?“ fragt der D.
„Früh? Es ist halb zwölf! Ich habe heute bis acht Uhr gut ausgeschlafen!“
„Ausgeschlafen?“ staunt D. „Normalerweise stehe ich nicht vor ein Uhr auf.“
Ich frage nun andere Schüler, wann sie aufstehen, wenn sie keine Schule haben, und wie sie so lange schlafen könnten? Sie beteuern einhellig, bis zum Mittag zu schlafen, warum, weil in der Disko vor Mitternacht gar nichts los sei, und dann gehe die Nacht eben bis zum Morgen.
Arme Schüler, ich bemitleide sie, dass sie am Wochenende Nachtschichten machen müssen, weil sie nicht früher bei den Peers landen können.
„Aber ist es nicht besonders grausam für Sie, wenn Sie dann um 8 Uhr in der Schule sitzen müssen!“
Jetzt stimmen mir die Schüler herzlich zu: Ich hab’s erfasst!
So kann man also ins Gespräch kommen und lernt dazu. Schon in der letzten Stunde habe ich von dieser Klasse gelernt, wie wichtig es ist, schnell trinken zu können, um auf den Pegel zu kommen: Die Getränke-Flatrate gilt nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit, und bis dahin sollte man schon möglichst viel absaufen. Der K prahlte für den N, dass der N ihn, den K, der schon ein solider Trinker sei, deutlich übertreffe, indem er innerhalb einer Stunde 16 Pils getrunken habe. Wir guckten den N an wie ein Wunderwerk der Schöpfung. Vorsichtig fragte ich, ob das denn die Art von Erfahrung sei, die eine Freundschaft vertiefen könne. Der P antwortete ja, so könne man Freunde gewinnen, und andere bestätigten es. Sie tun mir leid, weil sie sich und ihren Körpern so viel antun müssen, um ein wenig von dem zu bekommen, was doch selbstverständlich sein sollte: Anerkennung, Freundschaft, Selbsterfahrung und Selbstfindung. Aber ich sage das nicht. Ich habe doch nichts als Unterricht anzubieten. Und der muss als noch schlimmer erscheinen, weil er die erlittenen Defizite nicht, wie der Alkohol, vernebelt, sondern offenlegt.

Heute habe ich es ein wenig leichter, da K und andere nicht da sind.
Ich verlese die Mahnliste: von den 19 Schülern werden 11 Schüler wegen Minderleistungen in mindestens zwei Fächern gemahnt: ihre Eltern bekommen „blaue Briefe“ geschickt.
Als Reaktion kommt das übliche Geschrei, die üblichen Vorwürfe und Vergleiche: wenn der X die Note kriegt, dann muss ich die Note auch kriegen! Und wie ich denn die Deutschnote finden wolle, da wir erst vier oder fünfmal Unterricht hatten?
Hier bewährt sich meine lückenlose Protokoll-Liste, die für jeden Unterrichtstermin Tatsachen liefert, so dass ich die Einsprüche meistens widerlegen kann. Außerdem haben wir jedes Mal eine schriftliche Überprüfung der Hausaufgabe gehabt, da habe ich genug Fünfen und Sechsen zusammen, um zu mahnen.
Der J fragt, ob ich heute wieder so einen Test schreiben lassen will?
„Natürlich, nach dieser Besprechung schreiben wir unseren üblichen Lesetest!“
Widersprüche: Das ginge nicht, es hätte gar keine Hausaufgabe gegeben, der Test wäre nicht angekündigt gewesen, das wäre zu schwer, usw.
Ruhig versichere ich, dass ich letzte Woche nicht nur die Lese-Hausaufgabe gegeben, sondern gestern auch den Test angekündigt habe, obwohl so eine Überprüfung der Hausaufgabe nicht angekündigt werden muss. Und ich gab ihnen den Rat, sie sollten im Heft ihre Tabelle über die Inhaltsangabe der Kapitel und Figuren weiter führen, das dürften sie im Test und später in der Klassenarbeit benutzen, sogar das Buch dürfen sie benutzen – also sei die Aufgabe ganz leicht, wenn man alles erledigt hat.
Während dieser Diskussionen nennt ein Schüler den K2 bei seinem Kosenamen: KK.
„Was soll das, der heißt doch K2“, herrsche ich ihn an, aber der Schüler belehrt mich: „Nein, wir sagen doch alle KK zu dem! Das ist so in Ordnung!“
„So, ist es das? Herr K2, stimmt das?“
„Ja, das machen die immer.“
„Wollen Sie denn KK genannt werden?“
„Natürlich nicht.“
„Also, dann ist Herr K2 mit seinem korrekten Namen anzureden!“
Da nun die Mahnungen nicht abzuwenden sind, bittet der D, dass ich die Mahnungen doch auf dem Elternabend ausgeben möge, denn wenn ich die Briefe nach Hause schicke, so bekämen es auch die Väter zu lesen, und es gäbe manche Schüler, die dann schlimm verprügelt würden – und das würde ja keinem helfen!
Ich gucke den D groß an.
„Nein, ich bin es nicht“, beteuert der D, „aber ich weiß, dass es anderen so geht.“
Ich schaue in die Runde.
Die Schüler sind still.
„Sie haben völlig Recht, Herr D. Schläge helfen nichts. Es ist sogar Eltern verboten, Kinder zu schlagen. Schläge sind sehr schädlich. Ich will alles tun, damit ich die Mahnbriefe bis morgen Abend fertig habe, kann es aber nicht versprechen, weil ich die vom Sekretariat schreiben lassen muss und der Schulleiter unterschreibt.“
„Müssen Sie denn überhaupt diese Briefe schreiben?“
„Ja, das ist so vorgeschrieben.“
Ich weise darauf hin, dass viele Schüler zusätzliche Unterstützung bekommen durch die Kollegen, die mir die Einzelbetreuung abnehmen; ich verkünde, welcher Kollege für welche Schüler zuständig ist.
„Haben die Lehrer sich die Schüler selbst ausgesucht?“ fragt ein Betroffener.
„Ja, das haben sie. Freiwillig.“
Ja, die Lehrer sind da ein Vorbild: Sie übernehmen freiwillig Aufgaben, die nötig sind. Ich wende mich an den N: Übrigens, wir haben auch der Kollegin A den Rücken gestärkt. Wenn ein Schüler wie der N sich umsetzen soll, damit er nicht mehr soviel schwätzt, dann muss er Folge leisten, ohne dass die Lehrerin ihn in irgendeiner Weise am Arm zerrt oder seine Tasche fort nimmt. – Und wenn er das nicht macht? – Dann hat sie das Hausrecht und kann die Polizei rufen.
„Was, die Polizei?“, schreit der N. „Was habe ich denn verbrochen?“
„Wenn Sie die Anweisungen eines Lehrers ignorieren, dann begehen Sie Hausfriedensbruch und die Polizei wird Sie abführen.“
Eine Welle der Empörung – was denn daran kriminell wäre, sie sitzen nur hier, und darauf hätten sie ein Recht!
„Sie haben kein Recht, wenn Sie Aufforderungen von Lehrern missachten!“
Um den Unmut zu bändigen, erkläre ich, dass ich noch niemals die Polizei gebraucht hätte, um eine Klasse zu disziplinieren. Aber die Rechtslage sei so. Obendrein kündige ich ihnen den Besuch des Abteilungsleiters an, mit dem könnten sie alles Rechtliche klären. Herr P hat sich ohnehin vorgenommen, dem Recht mehr Geltung zu verschaffen, und zwar notfalls auch per Abmahnung. Ich erkläre den Unterschied zwischen Mahnung und Abmahnung und die drohende Konsequenz der Abmahnung: Ausschulung. Die Schüler fragen nach dem R, der schon wieder fehlt. Wird der nicht abgemahnt?
Ja, das liegt in den Händen des Herrn P, sage ich.

Nun lasse ich zwei gute Nachrichten folgen:

– Wir gehen nächsten Dienstag ins Kino, nachher, nach dem Test, werde ich 4,50 Euro Eintritt einsammeln, ich hatte ja gestern gesagt, dass heute jeder das Geld mitbringen soll.

– Ich schlage vor, im Sommer einen Tagesausflug zu einer Gedenkstätte einer Munitionsfabrik der Nazis zu machen, wo viele Zwangsarbeiter zu Tode kamen.

Der Vorschlag wird angenommen, und ich teile den Testzettel aus, ein DIN A5-Blatt mit einer Tabelle mit vielen vielen Feldern zum Ankreuzen – man könnte sagen: Es sind Tippscheine, denn die meisten Schüler setzen ihre Kreuze wie auf einen Lottoschein. (Von den 13 anwesenden Schülern schreiben 2 eine Fünf und 5 Schüler eine Sechs.)
Nach dem Einsammeln der Lottospiel-Scheine will ich den Inhalt der gelesenen Kapitel rekapitulieren, aber eine Reihe von Frühaufstehern setzt sich nicht mehr hin, weil es schon 12.50 ist. Wieso sollen wir auch noch zehn Minuten Unterricht machen? Nur weil der Stundenplan das vorsieht? Das ist ein schwacher Grund – deshalb wird kein Bus und kein Zug warten! Die Schüler sehen sich im Recht. Es wäre reine Schikane, sie hier festzuhalten. Freiheitsentzug! Eine Stunde auf den nächsten Zug warten!
„Das ist doch nicht so schlimm, Sie können ja etwas lesen oder lernen!“ Doch mein Rat kommt an wie reiner Zynismus.
Trotzdem zwinge ich die Frühaufsteher zurück auf den Hosenboden und peitsche den Unterricht bis zum Ende. Keine gute Arbeitsatmosphäre. Aber sie haben ihre Busse verpasst. Scheiß Schule.

N und K bleiben zurück, um zu klagen: Die Frau A habe ihn in Englisch rausgeworfen – ganz ungerecht, weil er gar nichts gemacht hat, nur K, sein Nachbar, sei mit einer Salve Spuckkügelchen getroffen worden, sein Gesicht hätte zu komisch ausgesehen, alle hätten ihn ausgelacht, und er, der N, hätte einfach mitlachen müssen, weil alles voller Spuckkugeln war, voll verdient, das wäre eine gerechte Rache an K gewesen, aber er, N, wäre rausgeworfen worden! Der K bezeugt alles als korrekt, und ich versichere, dass ich Frau A ausrichte, dass sie ungerecht gehandelt habe.

Als alle draußen sind, fällt mir ein, dass keiner für das Kino bezahlt hat. Klarer Fall: Ich habe sie nicht noch mal dazu aufgefordert.

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