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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 13

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (13)

Zwischenbemerkung des Herausgebers:

Nach einer Pause setzen wir, liebe Leserinnen und Leser, die authentische Erzählung „Pisa von innen“ mit einer zweiten Staffel fort. In der ersten, zwölf Folgen umfassenden Staffel beschrieb der – dem Herausgeber persönlich bekannte, uns jedoch nach wie vor aus guten Gründen unter Pseudonym begegnende – Autor Salias I. einen Berufsschul-Alltag in Gestalt einer Unterrichtswoche von Montag bis Freitag: Aus Sicht des Herausgebers eine Lektüre, die er – Nichtpädagoge – durchaus der Rubrik „Hardcore“ zuzurechnen geneigt wäre.

Nun fügt es sich nicht unbeabsichtigt, dass just am heutigen 7. Dezember 2010, dem Start der zweiten Staffel also, die Ergebnisse der neuesten Erhebungsrunde „Pisa 2009“ der OECD-Studie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Ein jeder möge sich dazu seine eigenen Gedanken machen. Blicken wir kurz zurück: 2001 wies die erste Pisa-Studie aus, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich in allen Testbereichen unterhalb des Durchschnittswertes aller OECD-Staaten widerfand. Und die Ergebnisse heute, insbesondere zur Lesekompetenz? Von einem Lichtblick, gar einem Durchbruch kann wohl kaum die Rede sein.

Nun aber überlassen wir wieder Salias I. das Wort:

Fortsetzungen
Neues aus der 10 X1

Am Dienstag, den 11.3., um 15.00 komme ich zum Chemieraum, um mit dem H die Elektroanlage zu überprüfen, aber der H lässt sich nicht blicken.

13.3., Donnerstagmorgen, als ich den Klassenraum aufschließe, steht der H neben mir.
„Warum sind Sie denn am Dienstag nicht gekommen“, frag ich ihn.
H antwortet lapidar: „Weil ich keine Lust hatte.“
Meine Wut lenke ich in Worte: „Dann gehen Sie jetzt zum Schulleiter und klären das weitere Vorgehen. Ich kann Sie doch nicht hier im Chemieraum sitzen lassen, wenn solche Sachen passieren!“
H widerspricht: Er wisse doch, dass mit der Elektro-Anlage alles in Ordnung sei, er sei ja nicht blöd! – Ich bestehe darauf, schreibe einen Zettel mit Kurzprotokoll und schicke ihn herunter.
Kurz darauf ist H zurück, mit einem Vermerk der Sekretärin: Der stellvertretende Schulleiter sei im Unterricht. H nimmt seinen Platz ein, mir fällt nichts mehr ein.
In der Pause informiere ich Koll. P, den Abteilungsleiter, über den Vorfall; P schlägt vor, eine Abmahnung zu schreiben; Koll. C, der Klassenlehrer stimmt freudig zu, weil er gestern ebenfalls „eine Katastrophe mit dem H erlebt“ habe.
Koll. P fordert uns auf, alles zu protokollieren und ihm einzureichen, damit er tätig werden kann.
Als der P weg ist, spreche ich den Kollegen C auf die Vorwürfe seiner Klasse an, die behauptete, dass er sich nicht an die Regeln halte und nichts bezahle, obwohl er immer zu spät käme.
„Das ist ja total abgedreht“, empört sich C. „Jeder Lehrer kommt zwei, drei Minuten später. Die picken sich irgendeine kleine Schwäche von dir heraus, um das auszunutzen und ihre eigene Schuld auf einen anderen abzuwälzen, davon ablenken, dass sie fünf, zehn Minuten später kommen und machen, was sie wollen.“
„Nur keine Aufgaben machen sie.“
„Ich glaube, wir stellen nur die falschen Aufgaben. Wir müssten Mecker-Aufgaben geben.“
„Dann würde jeder Hausaufgaben machen?“
„Nein, doch nicht zu Hause. Im Unterricht. Und nicht schriftlich, nur mündlich.“
„Ja, dann hätten wir die besten Schüler.“

Koll. C und ich schreiben über Nacht die erforderlichen Protokolle.
In einer E-mail vom 11.3. gebe ich dem Koll. P zu bedenken:

„Was machen wir jetzt mit der angeschlagenen Elektroanlage in 116? Der Kollege E meint, das wäre das allerletzte gewesen, dass ich dem Schüler angeboten hätte, die Installation mit ihm gemeinsam zu überprüfen: damit würden wir unsere Freizeit der Dummheit der Schüler opfern. Nein, wir sollten stattdessen eine Firma beauftragen und das den Erziehungsberechtigten in Rechnung stellen. Ich stehe aber dazu, dass ich die Pädagogik über die Dummheit gestellt habe. Doch was machen wir mit der
Frechheit? Die will ich nicht auch noch über meine Freizeit stellen!“

Am 17.3. finde ich in meinem Fach eine Kopie eines Vertrags, den Koll. P mit dem Schüler H geschlossen hat:
Absatz 1: „Herr P verzichtet auf eine Abmahnung.“
In den Absätzen 2 und 3 verpflichtet sich der H, mit mir einen Termin zu vereinbaren, um die Elektroanlage zu überprüfen und den Unterricht nicht mehr zu stören.

Hatte ich nicht den Vater angerufen und dem Schüler schon eine Chance eingeräumt, um den Mist, den er gebaut hat, zu beheben? War meine Bemühung denn nichts wert? Warum habe ich nicht gleich alles der Schulleitung überlassen?
Ich schicke den Koll. C und P noch am 17.3. eine neue Mail:

„Wenn schon keine klassenkonferenz, dann würde ich, bitte, gerne mal mit euch beiden reden – anlässlich des vertrages mit H, den ich für äußerst fragwürdig halte. thema: kann ich es weiter verantworten, die 10 BFX1 im chemieraum zu unterrichten? exemplarisch ist da noch ein vorfall mit dem J: der nahm unbefugt vom experimentiertisch ein schälchen mit kleinmaterial, das er als spielzeug an kameraden weitergab; kurz darauf fand ich alles über die bänke verstreut, und josef wollte nichts mehr damit zu tun haben, da „andere das gemacht haben“; er weigerte sich standhaft , dafür verantwortung zu übernehmen und es aufzuräumen oder „die anderen“ aufzufordern es zu tun. herr lietz sprang für ihn in die bresche.
wir sollten auch nicht vergessen, dass diese klasse dafür verantwortlich ist, dass am donnerstag der schrank hinten im chemieraum aufgebrochen wurde. die disziplin in der klasse ist  zusammengebrochen! pädagogisches handeln meinerseits wird nicht mehr ernst genommen; ich kann das chaos nicht mehr kontrollieren, und wenn ich versuche, etwas durchzusetzen, ernte ich nichts als freche bemerkungen …“

Es folgt am 18.3. das Gespräch mit Koll. P, der zu dem Vorgang Stellung nimmt: Für eine Abmahnung ist eine Aktenlage erforderlich, aus der sauber hervorgeht, dass wir uns wiederholt bemüht haben, den Problemen pädagogisch zu begegnen, vor allem durch Gespräche mit dem Schüler. Das aber hatte ich nicht erfüllt, da ich den Schüler übergangen habe, indem ich mich unmittelbar an den Vater gewandt und mich mit dem geeinigt hatte; so sei der H, ungehört, zum Befehlsempfänger gemacht worden. Das sei keine Pädagogik, und deshalb könne nicht abgemahnt werden.
Heimlich grolle ich: Wenn ich mit dem Schüler allein die Verabredung getroffen hätte, und er hätte sie nicht eingehalten, dann hätte der Abteilungsleiter die Abmahnung mit dem Grund abgelehnt, dass die Eltern nicht einbezogen worden wären.
„Hier“, sagt der Koll. P, „das ist der Antwortbrief einer Mutter auf die Abmahnung ihres Sohnes aus der 10 X3“ Dieser Schüler habe gerade eine Abmahnung von ihm bekommen, warum, der hätte mehrfach Lehrer beleidigt, pädagogische Gespräche hätten nichts bewirkt, und schließlich hätte der Schüler aus einer Spritzflasche seinem Metall-Fachlehrer einen Schwall Öl ins Gesicht gespritzt. Das vorliegende Antwortschreiben der Mutter weist alle Vorwürfe zurück: Ihr Sohn hätte keinen beleidigt, sondern sachliche Kritik geäußert; pädagogische Gespräche hätte es nicht gegeben, und das mit dem Spritzer Öl sei keine Absicht, sondern ein bedauerliches Versehen gewesen!
„Natürlich stimmt das nicht, was die Mutter schreibt, aber wir müssen das Gegenteil beweisen.“
Soso, phantasiere ich, müssen wir erst Öl ins Gesicht bekommen, bevor wir einen Schüler rauskriegen? Und demnächst muss es dann ein Säure-Attentat sein?
„Und was ist mit der Disziplinlosigkeit, die sich H gegenüber dem Koll. C hat zuschulden kommen lassen“, will ich wissen. „Kann nicht beides zusammen zur Abmahnung führen?“
„Nein!“ bescheidet Kollege P. „Ihr jammert zwar viel über Schüler, aber ihr seid keine Beamten, sondern Lehrer: Deshalb macht ihr keine Aktenvermerke, aber ohne Aktenvermerke gibt es formal keine Unregelmäßigkeiten. Wir müssen alles nachweisen, wenn wir justiziabel sein wollen. Der Schüler H ist bisher ein unbeschriebenes Blatt, und wenn er jetzt zum ersten Mal Einträge bekommt, kann ich doch nicht sofort eine Abmahnung darauf aufsetzen! Und der Koll. C hat mit seinem Protokoll nichts weiter dokumentiert, als dass die Schüler-Lehrer-Beziehung zerrüttet ist. An einer solchen Zerrüttung haben immer beide Seiten Anteil! Als Lehrer aber müssen wir pädagogisch vorbildlich handeln und die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Beziehung konstruktiv geführt wird!“
„Ja“, sage ich, mich erinnernd an unseren Erziehungsauftrag. „Wir sind ja die Profis, und die Schüler sind es nicht; sie müssen das Sozialverhalten eben noch lernen.“
Koll. P bestätigt: „Jeder muss die Wahrheit sagen im Gerichtssaal, nur der Angeklagte nicht.“

Ich habe meine Lektion gelernt. Ich bin für meine Beziehungen verantwortlich, und vor allem für die Beziehung mit meinen Schülern. Verantwortlich zu 100 Prozent.
Der Wunsch, einen Schüler loszuwerden, zeugt nicht von Verantwortung. Vielmehr zeugt er vom Ende der Nerven.
Verantwortliche Pädagogen versuchen alles, um den Schüler zu halten. Bei mir und vielen Kollegen herrscht eher die Haltung vor, dass uns die Nervensägen zuviel sind. Hilflos und machtlos stehen wir vor den Problemen. Primitive Maßnahmen funktionieren nicht, sind verpönt oder sie sind verboten, z.B. Schüler rauswerfen oder erst gar nicht reinlassen, wenn sie zu spät kommen. Pädagogisch ausgeklügelte Maßnahmen bedürfen der Extraanstrengung und der Unterstützung. Aber wir haben keine Sozialhelfer, keine Bewährungshelfer, keine Notfallhelfer an der Schule, nicht mal genug Lehrkräfte. Wer trägt dafür die Verantwortung? Ich allein?
Ja, ich allein. Wenn es nicht mehr geht, ist es meine Verantwortung, mir Unterstützung zu holen.
Und wenn nur einfach die Zahl der Klassen, die Zahl der Schüler, die schiere Menge der Problemfälle zu groß wird? Dann arbeiten wir weiter, über unsere Kräfte hinaus – auf Kosten der Gesundheit? Ist das verantwortlich?
Nein, ist es nicht. Wir dürfen uns nicht krank machen.
Also gehe ich nur eben die dringendsten Probleme an und finde mich damit ab, dass die Welt nicht besser ist als sie ist.

Die nächste Katastrophe in der X1 ereignete sich noch am gleichen Tag im Mathe-Unterricht: Der B hat die J angegriffen und geschlagen, die beiden prügelten sich, bis der Lehrer sie trennte. Nicht verwunderlich in einer umgekippten Klasse. Aber es liegt an uns Lehrern: an mir! das Ruder herumzureißen! Ich muss alles versuchen, ein Risiko eingehen, einen anderen Weg gibt es nicht, denn wir Lehrer haben keine Macht außer den Noten, die oft genug zur Abstrafung missbraucht werden, und selbst das kümmert die schlimmsten Schüler nicht, weil sie sowieso wissen, dass sie durchfallen. Also bin ich absolut machtlos. Das ist heilsam für alle. Ich bin kein Diktator, die Schüler sind keine Befehlsempfänger. Alles, was wir machen, beruht auf der Beziehung, die wir miteinander haben, und diese Beziehung zu pflegen ist die allerwichtigste Aufgabe des Pädagogen. Der Pädagoge soll ein Vorbild sein. Wie konnte ich das vergessen? Ich muss an der Beziehung arbeiten, ob es mir gefällt oder nicht. Und wenn es mir weh tut, dann muss ich mit dem Schmerz in Beziehung gehen. Oder wenn ich ärgerlich bin, dann muss ich mit dem Ärger in Beziehung bleiben – die Schüler, die mich nerven, nicht abschieben, sondern sie aushalten, ihnen meinen Ärger zumuten, doch ihnen auch ihre Würde lassen, ohne selbst inkonsequent zu sein, denn Inkonsequenz ist ebenso der Tod der Pädagogik wie ungerechtes Bestrafen. Des Messers Schneide entscheidet zwischen verantwortlicher Auseinandersetzung einerseits und dem Drama von Vorwürfen, Verachtung und Rache andererseits. Und ich, ich stehe für das Gute, für die Verantwortung, für die Hingabe. Tue ich mitunter etwas Schlechtes, indem ich Verantwortung von mir weise, so muss ich kämpfen, dass das Gute in mir siegt, muss kämpfen, dass die Verantwortung, die ich übernehme, andere überzeugt und ansteckt, so wie der Lehrer bei Horvath:
Die Schlüsselszene „Das Kästchen“ in „Jugend ohne Gott“ hat letzte Woche eine Kleingruppe in meiner 12 entschlüsselt, d.h. interpretiert. Im Anschluss an ihre Gruppenpräsentation bat ich sie, diese Szene vorzuspielen – sie trauten sich nicht, und so sprang ich ein, spontan schlüpfte ich in die Rolle, und da habe ich es verstanden, mehr noch, ich fühlte es körperlich, und die Schüler applaudierten dem Spiel: Wie der Protagonist mit sich ringt, dann durch seinen Glauben den Mut zur Wahrheit findet, die doch so peinlich ist, sich zur Aussage der Wahrheit durchringt, und was er unverhofft gewinnt, indem er sich der Wahrheit verpflichtet, ist das Himmelreich.
Ja, das Himmelreich – so einfach wie Horvath kann ich es mir nicht machen. Ich kann nicht einfach sagen, dann glaube ich mal an Gott. Gott zeigt sich bei Horvath erst als Urheber vollendeten Schreckens: Die Menschen sind „böse von Jugend an“, so Gott, und wenn eins von den kleinen Nazikindern dann aus Neugierde mal mordet, dann erkennt der Lehrer, dass Gott mächtig ist, und wird ganz alttestamentarisch gottesfürchtig, gibt sich der Übermacht hin, und sagt die Wahrheit. Gut, ich habe nichts gegen die Wahrheit, auch nichts gegen Gott, aber auch nichts für ihn. Fehlt mir der Mord? Das Schlimme der Schule ist wohl nicht schlimm genug? Wie wär’s mit einem kleinen Amoklauf? Hilft das dem Glauben nach? Nein, ich kann mit Horvath nichts anfangen, ich neige noch immer zum Zynismus, einschließlich Gott. Gott muss ich nicht bekämpfen, aber den Zynismus, was schon schwierig genug ist.

Am Donnerstag, den 20.3. werde ich beim Betreten des Klassensaals von Bittstellern der X1 umringt: Der H will eine Verabredung mit mir, um die Elektroanlage zu überprüfen; der B unterbricht uns skrupellos, indem er mir die Hand schüttelt und irgendeinen Schleim dazwischenlabert, um sich zu vergewissern, dass ich auf seiner Seite stehe, gegen seinen Verfolger, den Klassenlehrer. Ich schüttele B’s Hand ab: „Siehst du nicht, dass H und ich miteinander reden?!“
Dann eröffne ich die Stunde in voller Hingabe: „Guten Morgen. Ich kann heute keinen Unterricht machen, weil in dieser Klasse etwas ganz und gar schief läuft.“
Die Klasse hört mir zu, nur der B schwätzt mit einem Nachbarn, weil er nichts ernst nehmen kann. Und wer ist dieser Nachbar? Der K, mit seinem finsteren Blick, der nur halb unter den Augenlidern hervorsticht. – Nein, auf diese Weise darf ich nicht weiter denken, lass Schüler nicht zu Dämonen werden! Es ist einfach der K. Ich ermahne beide, mache eine kurze Pause. Und spreche dann demütig alles aus, was mir an diesem Schwarzen Morgen eingefallen ist, um zu versuchen, den Tag, die Klasse, mein Leben als Lehrer zu retten:
„Wir haben kein Lernklima mehr in der Klasse, und dafür will ich die Verantwortung übernehmen. Es hat keinen Sinn, nur die Schüler zu beschuldigen. Beide Seiten haben Fehler gemacht. Ich habe den Fehler gemacht, dass ich inkonsequent war, als Schüler das Referat nachholen durften, und dann habe ich es noch verschlimmert, als ich die Klassenarbeit durchsetzte. Denn ich hatte ja zu Beginn des Halbjahres versprochen, dass wir keine Arbeit schreiben, dass stattdessen das Referat wie eine Arbeit bewertet wird. Und dann war ich in Einzelfällen ungerecht, ich erinnere mich, dass ich in der letzten Stunde C falsch beschuldigt zu haben, und überhaupt frage ich mich, was habe ich noch alles falsch gemacht, dass ich das Vertrauen so vieler Schüler verloren habe, besonders von C und J, die ich beide schätze, weil sie ein gesundes Empfinden für Gerechtigkeit haben. Was habe ich noch falsch gemacht?“
Die Schüler sagen nicht viel hierauf, allerdings werden der J, der B und K unruhig. Ich verweise K an einen freien Tisch, um diese unselige Konstellation zu zerschlagen. Ich schlage vor, gemeinsam mit der Klasse Regeln zu finden, wie wir das Lernklima am besten aufrecht erhalten können.
Was kann ich tun? Was sollen die Schüler tun?
Ich sammle an der Tafel:

Der Lehrer sollte
– den Schüler erst anhören, bevor er Maßnahmen ergreift
– Medien abwechslungsreicher einsetzen

Dem ersten Punkt stimme ich sofort zu und entschuldige mich dafür, wenn ich so aufgeregt war, dass ich einen Schüler nicht angehört hatte. Wenn das wieder passiert, sollen sie mich an diese Vereinbarung erinnern!
Mit dem zweiten Punkt meinen die Schüler Videos, die sie „alle drei Wochen“ sehen wollen. In diesem Schuljahr habe ich dieser Klasse einmal einen Film gezeigt. Ansonsten meistens Papier. Ich erkläre, dass Texte viel besser geeignet seien, um etwas zu lernen; und überdies sei ich es gewohnt, und es sei leicht, Texte zu kopieren; andererseits sei es umständlich, wegen eines Films zur Bildstelle zu fahren, aber ich könnte die Schüler auch verstehen, die Filme viel mehr gewohnt sind als Texte, und wolle es auf mich nehmen, öfter Filme einzusetzen; es gebe aber auch noch andere Medien, vor allem Folien, usw. usf. – schließlich willige ich ein, verspreche aber nicht, genau alle drei Wochen mit einem Film zu kommen. Im übrigen seien die Referenten mitverantwortlich, für Abwechslung bei den Medien zu sorgen!

Zweite Seite: Regeln für die Schüler

Wir sind uns schnell darin einig, dass das bisherige Regularium, das Geldstrafen bis zu einem Euro für kleine Delikte vorsah, versagt hat – sie geben die Schuld ihrem Klassenlehrer, der für seine Verspätungen nicht habe zahlen wollen. Ich will keinen Streit und widerspreche nicht.
Ich bitte die Klasse nachdrücklich um ihre Hilfe, um praktikable Regeln zu finden. Erstmal sollen Vorschläge gemacht werden, dann würden wir darüber abstimmen.
Aus der Klasse kommt der erste Vorschlag, ich füge noch zwei eigene hinzu:
– Stunden-Protokoll schreiben
– Testatbogen führen
– Auszeit zum Protokollschreiben

Die Strafarbeit Stundenprotokoll fiel in der Abstimmung durch, der Testatbogen erhielt 11 Stimmen, die Auszeit 3. Für den Testatbogen haben Schüler geworben, weil nur 3 bis 5 ausgewählte Schüler dieser Maßnahme unterzogen werden. Wer wählt die Schüler aus? Die Klasse wünscht, dass die Lehrer das gemeinsam beschließen.
Das freut mich, denn es ist genau das, was ich in meiner X2 praktiziere – aber in der X2 krankte die Maßnahme daran, dass die Betroffenen es lange nicht akzeptiert haben, den Testatbogen zu führen. Hier stehen die Chancen nun besser, da die Klasse es beschlossen hat.
„So, jetzt müssen wir noch etwas klären: Was machen wir mit der Klassenarbeit?“
Es kommt der Vorschlag, individuell zu entscheiden, ob entweder die Arbeit oder das Referat zu bewerten sei – je nachdem, welche Note besser wäre. Ein anderer wünscht, dass das Referieren freiwillig sei. Dem entgegne ich, dass die Präsentation eine wichtige Methode ist, die jeder Schüler üben sollte. Es bleibt verbindlich für alle. Aber wie wollen wir die Zeugnisnote errechnen? Gemeinsam finden wir eine Bewertungsformel, gegen die es keinen Einspruch mehr gibt.

In dieser Stunde wären nun unsere beiden geschätzten Schülerinnen an der Reihe, und ich frage: „Habt ihr euer Referat vorbereitet?“
Etwas betreten schütteln sie die Köpfe.
„Vor lauter Trotz nichts gemacht?“
Sie nicken.
„Das habe ich mir gedacht. Wollt ihr das Referat nachholen?“
Sie bejahen.
„Also, ich würde es euch gerne erlauben. Aber da gibt es eine Reihe anderer Schüler, die ihr Referat selbstverschuldet versäumt haben. Dann müssten wir ihnen auch erlauben, noch eine Chance zu bekommen?“
Der Vorschlag erhält den Beifall der Klasse.
Also rufe ich die „Amnestie“ aus, was viele nicht verstehen – ein willkommener Anlass, um das Fremdwort zu erklären.
„Und dass mir niemand mehr mit Gründen kommt, warum er an seinem Termin nicht vortragen kann. Auch wenn der Computer abstürzt, oder sogar das Haus abbrennt, du musst dein Referat halten!“ – „Wie denn, wenn das Haus abbrennt?“ – „Am Abend vor dem Referat packst du deine Sicherungskopien in eine feuerfeste Hülle, hängst sie dir um den Hals, und selbst wenn du nackt vor den Flammen aus dem Haus fliehen musst, hast du dein Referat bei dir und kannst es halten. Es gibt jetzt kein Pardon mehr!“
Nach einiger Mühe zur Bändigung vieler unruhiger, handyverspielter Schüler gebe ich das Schlusswort, da heute der Gründonnerstag ist:
„Wisset, dass die Amnestie eine Gnade ist, mit der niemand rechnen darf! Denn die Gnade ist höher als die Vernunft.“
Weiter komme ich nicht, der B witzelt, das sei ja wie in der Kirche, die Klasse entgleitet.
Wir haben noch 20 Minuten Zeit bis zur Pause, ich frage, was wir noch machen sollen? Soll ich etwas vorlesen? Die Mädchen nicken, und bevor ich den Chemieraum verlasse, um Literatur zu holen, weise ich den B an, dass ich auf seinem Tisch sein Arsenal an Papiergeschossen nirgendwo mehr sehen will, wenn ich zurückkomme.
Ich kehre zurück, bemerke, dass B meiner Aufforderung gefolgt ist, brauche ein, zwei Minuten, um Ruhe zu schaffen, versuche ein paar Mal, mit dem Gedicht anzufangen, komme aber nicht weiter als bis zur Überschrift, einmal kommen mir die Geräusche des F dazwischen, ich fordere den F auf, dass er nach mir einen Vortrag hält, und er ist einverstanden.
F gibt uns eine Einführung in das Beatboxen. Wir folgen gespannt seinem Vortrag, in dem er Erläuterung und Performance abwechselt. Drei Minuten vor der Pause ist er fertig, die Schüler fordern ihn auf, die restliche Zeit noch zu füllen, ich interveniere: „Nein, von einem Künstler verlangt man so etwas nicht, einem Künstler spendet man Beifall! Vielen Dank, F!“ Wir beklatschen ihn und kommen früher in die Pause.

Nach dieser X1 lässt es immer nach, aber diesmal ist es besonders. Nicht etwa, dass ich mir einbilde, alle Probleme gelöst zu haben – ich weiß, dass die Schüler K, J und B untragbar bleiben werden. Aber die große Mittelklasse, die uns Lehrern entglitten war, scheint zurückgewonnen: Diesmal gab es keine frechen Bemerkungen, stattdessen die Absicht zur Umkehr. Und mit dem Zugeständnis bezüglich der Filme kann ich leben – alles hat seinen Preis. Wahrscheinlich würden sie mit Texten auch nicht mehr lernen.

So also kann ich ganz und gar in die Ferien nachlassen. Ja, das Nachlassen geht soweit, dass ich meine Liebe zur Schule wieder spüren kann, die Liebe zur Schulleitung, die mich auf den rechten Weg führt, die Liebe zur Gemeinschaft der Kollegen und meine Liebe auch zu Klassen, die schwierig sind wie die Menschen eben sind: gerade so schwierig, dass wir an unsere Grenzen kommen und lernen, die Konflikte zu bewältigen. Und warum sollte es leicht sein? Wir alle sind ja zum Lernen in der Schule, oder?

Kurz bevor ich für zwei Wochen nach Hause fahre, gucke ich noch mal in mein Fach und finde dort einen Vertretungseinsatz: Am Mittwoch nach den Ferien werde ich vor der 10 X2 noch zwei Extrastunden in der 10 X1 haben! Es reicht eben nicht, zu lernen. Übung, viel Übung ist ebenso wichtig – für Schüler wie für Lehrer! Mit einem Lachen lasse ich alles nach.

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