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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (12)

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (12)

Nachlass

Die platonische Liebe indes nährt nicht; zuhause gebe ich mich erstmal der Welthungerhilfe hin, und dann habe ich nichts anderes mehr im Sinn als einen üppigen Mittagsschlaf.

15.30 Uhr. Ich verabschiede mich von dem unschuldigen Sonnenschein, der mir ins Zimmer scheint, kuschle mich in die Federn, es ist gut, wie es nachlässt, ich übergebe mich der Erlösung eines Schlafes, der mich aufnehmen, der endlos währen, nichts mehr denken, nichts mehr spüren lassen möge als vollkommenes Nachlassen.

Aber alles endet, das Grauen ebenso wie das Willkommene. Die Betäubung des tiefen Schlafes weicht dem gewohnten Schrecken des Erwachens – ein paar Sekunden der Verwirrung, dann die Erleichterung: die Sonne wird nicht mehr aufgehen, sondern untergehen, es ist Freitag, 17.30, alles ist gut!

Nichts ist gut. Ich habe einen Nachlass zu verwalten. Alles, was hängen geblieben ist von einer Woche Schule, einer Woche mit 30 Stunden Unterricht in vier verschiedenen Schulformen und 11 verschiedenen Klassen, in zwei Klassen bin ich Klassenlehrer – eine gewöhnliche Statistik für eine volle Stelle, aber sie will gelebt sein!
Wenn ich nach Hause komme, will ich nichts mehr hören. Es verstreichen ganze Wochen, ohne dass ich auch nur Musik hören mag. Erst nach längerer Zeit des Nachlassens, oft erst in den Ferien bin ich wieder dafür empfänglich. Nach der Schule, nach dem Schlaf bevorzuge ich die Stille meines Arbeitszimmers. Sowieso habe ich noch zu arbeiten: Immer das Nötigste zuerst. Nie ist alles erledigt. Außer am letzten Schultag vor den Sommerferien. Wenn es eine Erlösung gibt, dann ist es dieser Tag. Danach, in den sechs Wochen Sommerferien, habe ich die Schule nur noch in den Träumen, wochenlang träume ich fast jede Nacht von der Schule, Schule, Schule: mal gut, mal schrecklich, genau wie die Schule ist. Am Ende der Ferien freue ich mich sogar auf die Schule, und wenn die Schule beginnt, hören die Träume auf. Aber egal, ob ich mich auf die Schule gefreut habe: Das Aufstehen ist immer schlimm.

Jetzt aber muss ich nicht, ich bleibe liegen, und staune darüber, wie lang diese Woche gewesen ist, wie gefüllt, wie intensiv. Und unweigerlich frage ich mich, wie sinnvoll meine Arbeit ist – und wie sich dieser Sinn erhöhen ließe. Die Sinnsuche … vielleicht das Schwerste von dieser Woche?

So sammle ich mich zusammen, schiebe die Sinnfragen auf, mache mich stattdessen an die ersten Brocken des Nachlasses: Ordnen der Unterlagen, dann Anruf bei den Eltern von K: Berichte von den Vorfällen, von unserem Verdacht, ob er wohl Drogen nimmt, weil er oft seine Augenlider kaum über die Pupillen kriegt und dann plötzlich so einen frechen Unsinn verzapft? Nein, er schluckt Migräne-Tabletten. – Aha. Gut. Nächster Anruf wegen H: Der Vater H bestätigt, dass der Sohnemann mehr kann als er tut; und er beschwert sich, dass die Lehrer ihm nie Bescheid sagen, wenn der H den Unterricht versäumt. – Ich checke meine Protokoll-Verzeichnisse: tatsächlich, der H hat dieses Halbjahr schon wieder jedes zweite Mal gefehlt. – Ja, sagt der Vater, der Klassenlehrer merkt es, dass sein Sohn sich in der Stadt herumtreibt anstatt die Schule zu besuchen, aber was sollte er als Vater machen, wenn die Schule ihn das erst wissen lässt, wenn das Zeugnis kommt?! Immerhin dankt er mir für den Anruf. Dabei wollte ich nur den Vorfall mit der Elektrokonsole regeln: Am nächsten Dienstag hat der H bis 15.00 Uhr Unterricht; danach soll er bei mir vorstellig werden, damit wir gemeinsam die Anlage überprüfen; wenn alles in Ordnung ist, werde ich das Vergehen nicht mehr verfolgen. Der Vater sagt das zu, und ich trage den Zusatztermin in meinen Kalender ein.
Dann empfange ich eine Email von einer Kollegin, die seit zig Jahren kein Deutsch unterrichtet hatte und dieses Schuljahr wieder in Deutsch eingesetzt ist, und zwar parallel mit mir in der 12; sie wendet sich an mich, weil ich die Fachleitung in Deutsch inne habe:

„Hallo I,
ich habe ein dringendes Anliegen, deshalb halte ich es für notwendig, noch vor den Sommerferien eine Fachkonferenz Deutsch einzuberufen.
Mein Anliegen ist Folgendes:

1. Welche Inhalte werden in der FOS 11 vermittelt?
2. Wie kann eine Transparenz geschaffen werden, damit wir Kollegen aus der 12 wissen, mit welchen Inhalten und Arbeitstechniken die Schüler aus Klasse 11 in die Klasse 12 kommen?
3. Diskussionsbedarf: sinnvoll ist, dass Kollegen von Deutsch FOS bereits in Klasse 11 eingesetzt werden und diese Kenntnisse in der Klasse 12 weiterführen, so ist eine Wissensvermittlung garantiert und wir haben nicht jedes Jahr den Krampf mit den Korrekturen. So müssen auch andere Kollegen mit in die Verantwortung genommen werden. Ich kann mit den Voraussetzungen, die meine Schüler mitbringen, überhaupt nichts mehr retten.

Viele Grüße
K“

Ich würge meinen Unwillen vor einer weiteren Konferenz hinab und begebe mich zum Abendessen. Danach rufe ich die Kollegin K an, die seit 15 Jahren nicht mehr die Last einer vollen Stelle getragen hat – ich hüte mich aber, das anzusprechen.
Stattdessen versuche ich, sie einfach zu beruhigen:
„Du bist frustriert über die miesen Leistungen in Deutsch. Das ist aber nichts Neues. Es ist bekannt, dass viele negativ in der Abschlussprüfung abschneiden, aber sie können es oft mit einer mündlichen Prüfung wettmachen.“
Die Kollegin K beharrt trotzdem auf ihrem Wunsch nach einer Konferenz. – Ich will den Kollegen nicht schon wieder eine Konferenz zumuten, argumentiere ich dagegen, das ist alles zuviel während der Prüfungszeit, das sollte warten bis zur nächsten regulären Konferenz im nächsten Schuljahr. K aber insistiert, und als Kompromiss verabreden wir, nur die betroffenen Kollegen für ein Treffen nach Unterrichtsende der 12 einzuladen. Obwohl damit das Problem, dass viele Schüler nicht lesen, nicht behoben wird, unterstütze ich die Idee, um nichts zu versäumen, was den Schülern helfen könnte. Wie könnten wir sonst guten Gewissens Prüflinge durchfallen lassen?

Dann ruft eine Mutter aus der 10 X2 an, die Frau B, sie beschwert sich wegen der vielen Fehlzeiten, die als unentschuldigt in den Zeugnissen der Schüler stehen, die müssten doch korrigiert werden, selbstverständlich, sage ich, würde ich jeden Einzelfall prüfen, und sie will einen Elternabend einberufen – ach ja richtig, Frau B ist ja die Klassen-Elternbeirätin. Sie will einen Termin mit mir verabreden; widerstandslos willfahre ich ihr. Sie ist zufrieden, und ich bin erleichtert, weil das Telefongespräch so schnell zu Ende ist. Also dann: schönes Wochenende!

An diesem Nachmittag schlafe ich, schlafe, drei Stunden Schlaf, erwache aufschreckend, merke aber, dass es Freitag Abend ist und ich weiter nachlassen kann; erledige noch ein paar Nachlässe, und auch an diesem Abend bin ich froh, wenn ich um neun im Bett liege, beim Lesen entspannen kann, bis meine Frau sich an ihrem PC ausgearbeitet hat und gewillt ist, mir ihre Wohltätigkeit zuzuwenden.

Ablass

Samstag, 8.3.8. Putzen: Ich. Einkaufen und Kochen: meine Frau. Uns beiden mangelt die Zeit, meine Frau bereitet ihr Diplom vor, Geld für eine Putzfrau bleibt nicht übrig. Nachmittags habe ich eine kleine Abwechslung: Ich korrigiere eine wissenschaftliche Hausarbeit meiner Frau. Ha, hier hat das Wort Korrektur noch Berechtigung, das ist Befriedigung: einen Text nicht nur anzustreichen, sondern lesbar, fehlerfrei, stringent und würdig zu machen, gedruckt zu werden.

Sonntag, 9.3.8, gegen sieben Uhr bin ich wach, unausgeschlafen, ich drehe mich und wende mich, aber es hat keinen Zweck; ich folge meiner Aufstehroutine. Da mein Arbeitszimmer zugleich unser Schlafzimmer ist und meine Frau grantig wird, wenn ich sie wecke, bin ich bald blockiert. Und wie soll man auch nach einer Woche Schule das Wochenende mit Korrekturen schänden? Nein, dafür haben wir die Ferien.
8.15, fertig meditiert und gefrühstückt: beste Arbeitszeit, was mache ich, nein, ich will nicht schon wieder korrigieren, das ganze letzte Wochenende habe ich mit Klausuren zernichtet; ich muss mal ablassen, fahre den PC meiner Frau hoch, starte WORD, setze die Produktion vom Freitag fort, weil das Nachlassen nicht aufhören soll …

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