Julia Ovrutschskaja
Von Erhard Metz
Das Zauberwerk vieler Künstlerinnen und Künstler blüht oft im Verborgenen. Zu den Gründen hierfür zählen neben manch anderem eine zwar liebenswerte, dem mitunter lärmenden Kunstbetrieb gegenüber jedoch im Grunde unzeitgemässe Zurückhaltung und Bescheidenheit. Leserinnen und Leser dieses Magazins wissen, dass wir gern solch eher Verborgenem nachspüren, als uns um zeitgeistigen „Mainstream“ zu kümmern, wie man ihm zuweilen in der Frankfurter Galeriemeile begegnen kann und der heute auflodert und bereits übermorgen wieder verlischt, von marktgetriebenen sogenannten „Hypes“ einmal gar nicht zu reden.
Frau in Rot, 1994
Julia Ovrutschskaja ist eine Malerin, auf die solches zutreffen könnte. Ihre akademisch-malerische Ausbildung im Moskau der 1970er bis 1980er Jahre bürgt für eine handwerkliche Qualität, wie sie heute – oder besser gesagt bereits seit langem – nicht mehr allerorts gefragt zu sein scheint oder gar angetroffen werden kann. Sie pflegt ihr grosses malerisches Vermögen derzeit primär im sozusagen eigenen Bereich, vermittelt es aber zugleich in ihrer Malschule ihren dankbaren Schülerinnen und Schülern.
Porträt von Paul, 1994
Mutter und Kind, 1994
Julia Ovrutschskaja hat sich in ihrer Malerei – von einigen Serien von Aquarellen abgesehen ausschliesslich in Öl auf Leinwand – nie auf bestimmte Sujets oder Stile festgelegt, sondern sich schon früh auf eine wohl ihr ganzes Leben währende künstlerische Reise begeben, deren Ziel kaum auszumachen erscheint. Wir schätzen solche Art des Reisens. Und eine Gewissheit mag uns dabei leiten: Oft genug ist – einer von Konfuzius überlieferten Weisheit folgend – der Weg selbst das Ziel.
Gehende, 2004
Die Künstlerin mag dabei – diese eher von Anerkennung zollende Bemerkung sei erlaubt – den schreibenden Betrachter in einige Verlegenheit bringen: Vergewisserte sich dieser noch unlängst ihrer letzten Opera, so überrascht sie ihn bei einem folgenden Besuch mit Schritten zu neuen künstlerischen Horizonten und Herausforderungen. Überhaupt scheint uns eine Maxime der Künstlerin für ihr Opus typisch und bemerkenswert: ein „Schau nicht zurück“. Gern mahnt die Malerin an die biblische Erzählung vom Weib des Lot (1. Mose, 19): „Und sein Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule“.
So nimmt es nicht wunder, dass es durchaus der Überredung bedurfte, die Künstlerin zu bewegen, aus der Tiefe der Zauberkammer ihres Ateliers ältere, auch weit über ein Jahrzehnt zurückliegende Arbeiten hervorzuholen. Drei davon, alle des Jahrgangs 1994, haben wir bereits an die Spitze unserer Betrachtungen gestellt. Sie bauen auf grosse russische Malschultraditionen fern eines sowjetischen Sozialistischen Realismus auf, gehen eigene individuelle Wege: Arbeiten von akademisch geschulter Kompositionskraft, von – in vielem autobiografisch – erzählerischem Wesen, von auch heute aktueller malerischer Qualität.
Julia Ovrutschskajas bevorzugte Sujets sind Personen, Gruppen, Familien, dann ebenso Landschaften, die Natur. Über lange Jahre hinweg dominierten warme Farben, die verschiedensten Rot-, Gelb- oder Orangetöne, ihre Palette. Vielfach stellt sie dem Rot ein lebhaftes, expressives Blau gegenüber, in diesem kraftvollen Kontrast Symbol auch für Menschen in Bewegung, auf der Reise, in individuellem wie gesellschaftlichem Aufbruch.
Der Zug (Triptychon), 2005
Aus ihren neueren Arbeiten mit Personen scheint uns eine gewisse Skepsis, mitunter von einem Anflug von Ironie begleitet, anzuschauen. Jetzt stehen an Wänden aufgehängte Garderoben gleichsam stellvertretend für Menschen, die sie tragen. Wurde die Bekleidung gerade abgelegt, kehren deren Träger also in Nacktheit zu sich selbst zurück? Oder werden jene Menschen alsbald in sie hineinschlüpfen, um sich, in ihr gewandet, theatralisch kostümiert, in das Feld menschlicher Beziehungen zu begeben? In einer „Beziehungen“ betitelten Reihe werden eben diese hinterfragt, die Menschen sind dort unbekleidet und insofern einander gleich, scheinen jedoch, in zum Teil absurd anmutenden Posen, allein mit sich selbst beschäftigt zu sein. Kommunikation sieht anders aus, würde anders zu formulieren sein. Kritik an einer Gesellschaft, die sich zunehmend spaltet, in der jeder nur sein individuelles Glück sucht?
Familie (Triptychon), 2009
Beziehungen, 2009
Es mögen weit mehr als vierzig oder fünfzig Landschaftszenerien sein, die Julia Ovrutschskaja in den zurückliegenden Jahren – in den bereits erwähnten bevorzugten Tönen ihrer Palette – gemalt hat. Neuerdings jedoch dominieren andere, kühlere Farben: verschiedene Blau- und Grüntönungen. Landschaft und Natur konkretisieren, individualisieren sich in Bäumen, in Wäldern – wie wir sie in der Weite des russischen Landes verortet wissen. Menschen begegnen wir dort nicht, wo sich in winterlicher Stille das Wachstum in sich selbst zurückzieht. Und im keimenden Grün des zu erahnenden Frühjahrs sein bevorstehendes Erwachen ankündigt.
Arbeiten von ruhiger Schönheit, von kontemplativer Einkehr.
Bäume, 2010
Der Wald (Triptychon, Detail), 2009
Bäume, 2010
Julia Ovrutschskaja wurde 1961 in St. Petersburg in einer von Kunst und Kultur geprägten Familie geboren: Ein Grossvater war Kameramann, eine Grossmutter Theaterfotografin, ihr Vater Architekt; ihre Mutter schliesslich, Tatjana Ovrutschskaja, – sie liess sich nach dem Studium an der Moskauer Akademie der Künste als freie Malerin nieder und zog 1995 mit ihrer Tochter Julia nach Frankfurt am Main – ist eine weit über die Grenzen dieser Stadt hinaus bekannte Künstlerin. Julia selbst studierte am Moskauer Institut für Theater und Kunst, wurde Mitglied des Künstlerverbands der UdSSR und, ihrer Mutter gleich, freie Malerin. Sie nahm regelmässig an Ausstellungen im Zentralhaus der Künstler in Moskau teil. Nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland schloss sie an der DTP Akademie RheinMain eine Ausbildung zur Multimedia-Produzentin ab und war eine Zeitlang als Grafikerin tätig, bevor sie sich 1999 wieder gänzlich der Malerei zuwandte.
Julia Ovrutschskaja stellte bislang über Frankfurt am Main hinaus in Aschaffenburg, Köln, Königstein und Wiesbaden aus, ferner in Marseille und Moskau. 2005 war sie Stipendiatin der Cité Internationale des Arts in Paris.
Gleichsam als Gegenpol zu ihren Wald- und Baumdarstellungen knüpft Julia Ovrutschskaja auch heute an ihre von früher bekannten, stärker abstrahierten Landschaftsszenerien an. Himmel und Erde begegnen sich in ruhig spiegelnden Wassern. Da wird die Sonne zu einer luftig-universellen Kugel, die über Wiesen und Wäldern schwebt. Dann wiederum durchschneiden über Gipfeln sich zu Körpern ausweitende Strahlen – an den Himmel bedrohlich durchkreuzende Kondensstreifen verbrannten Kerosins erinnernd – das Firmament.
Landschaft, 2009
Geometrische Landschaft, 2010
Geometrische Landschaft, 2010
Vor wenigen Tagen überraschte uns die Künstlerin mit einer jüngsten Arbeit: Wer mag dieses melancholisch blickende Mädchen sein? Hat sich die Künstlerin von einem Idealbild einer ihrer Töchter, von einem erinnerten Wunschtraum aus eigenen Jugendjahren leiten lassen? Wir stellen dieser Studie, dieser Innenschau, dieser Bild gewordenen zärtlich-verträumten Poesie eine „Sitzende“ aus dem Jahr 2004 gegenüber; und überlassen es unseren Leserinnen und Lesern, einen Bogen zu schlagen von Bild zu Bild, über einen Zeitlauf von sechs Jahren hinweg. „Schau nicht zurück“? Warum eigentlich nicht doch einmal ab und an?
Das Mädchen von dem Spiegel, 2010
Sitzende, 2004
Julia Ovrutschskaja wird ihre Arbeiten am 20. und 21. November 2010, in zeitlicher Verbindung also mit den Frankfurter „Open Doors 2010“, in ihrem Bockenheimer Atelier ausstellen.
(abgebildete Werke – sämtlich Öl auf Leinwand in verschiedenen Formaten – © Julia Ovrutschskaja; Fotos: die Künstlerin und Erhard Metz)