Pisa von innen (11)
Pisa von innen
Eine authentische Erzählung
von © Salias I.
Erster Teil (11)
Pause
In der Pause muss ich Aufsicht machen, aber der Kollege P, der nach mir in der 10 war, fängt mich vor dem Klo ab: Der A habe sich über mich beschwert, weil ich ihm keine Punkte auf die Aufgabe 4 gegeben habe; der Kollege P, der ja Abteilungsleiter der BFS ist, meint, die Aufregung des Schülers wirke authentisch; ich werde unsicher, vielleicht habe ich die Rückseite wirklich übersehen? Mein NIL gilt, aber die Berufsfachschüler sind in der Regel keine Betrüger, eher die Fachoberschüler oder Gymnasiasten. Ich sage dem Kollegen zu, den Fall zu überdenken. Nun aber rasch ins Klo, und während ich wässere, höre ich die Installateure untereinander lästern über die Lehrer, die die Abflußrohre verstopft hätten: Die würden zu wenig Bier trinken, sonst würde es flutschen – stimmt, ich trinke niemals Bier. Dann spaziere ich durch die Pausenhalle, durch die Gänge: Alles ruhig, ich werde pünktlich im BGJ sein, da fällt mir ein, dass ich die Klassenarbeit für das BGJ noch nicht kopiert habe; erledige das schnell, und bin nur ein paar Minuten zu spät oben im BGJ: Nur der D sitzt draußen auf der Wartebank, sonst ist der Gang leer, die BGJ-Schüler sind wohl schon im Klassenraum; D will nie da drin bei den anderen warten, so unbeaufsichtigt, weil das kein einfaches Warten ist. – Warum nicht, was passierte dort? Ich weiß es nicht, und ich frage auch nicht danach, gönne mir die Gnade des Nichtwissens.
5.+6. Stunde: 10 BJ X0
Die Luft ist erstaunlich rein, keine Spraygase und auch keine Gegenstände, die aus dem Fenster fliegen oder sonst wohin; problemlos lässt sich Arbeitsruhe herstellen, nur muss ich ein paar Schüler bedrohen, vor allem gibt es einen kleinen Tumult, weil ich gesagt habe, dass sie ihr Heft benutzen dürfen, aber die Kopien einer handschriftlichen Zusammenfassung verbiete. Ich bestehe darauf: Keine Kopien! Ich nehme alle Kopien von den Tischen; nach und nach legt sich die Aufregung, ich teile die Aufgabenblätter aus. Als ich wieder am Lehrerpult sitze, feixt der P herausfordernd in meine Richtung und zischt: Na, Schätzchen? Mir fällt keine Entgegnung ein, so ignoriere ich das, und es zahlt sich aus: Alle fangen an zu schreiben, unterbrochen nur von Zwischenfragen, die mir mal wieder beweisen, dass man die Aufgabenstellung im BGJ nicht einfach genug formulieren kann. Sie haben Zeit bis 13 Uhr, wer vorher fertig ist, darf nach Hause gehen – also diesmal kein Kampf mit Frühaufstehern. Um kurz nach 12 hat über die Hälfte der Schüler abgegeben; da hilft es auch nicht, dass ich den einen oder anderen auffordere, etwas ausführlicher zu schreiben – sie wollen gehen!
Nur der D nutzt die Zeit bis zum Ende – er ist ein ganz braver Realschulabgänger, der in dieser Schulform eigentlich fehl am Platz ist. Stolz zeigt er mir seine „Gesamtzusammenfassung“ und erzählt mir, dass die anderen ihn in der Pause gefragt hatten, ob sie ihre vermeintliche Zusammenfassung mal mit der seinen vergleichen dürften; er gab ihnen sein Konvolut, und ehe er sich versah, waren sie weg zum Kopieren (und dann hatte ich ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht). Er fragt mich, ob ich sein Werk mal durchlesen will? Ich will es nicht und sage, ich habe dir ja schon einen Haken dafür eingetragen, dass du diese Hausaufgabe gemacht hast; aber D fragt noch mal, ob ich es denn nicht lesen will? Also, es ist Freitag kurz nach eins, warum denn nicht? Ich mag den D, und während ich seine Nacherzählung korrigiere, stellt er alle Stühle hoch. Doch Seite um Seite streckt sich, ich sage, ich schaffe es jetzt nicht; will ihm das Heft zurück reichen, er aber ist großzügig: Sie dürfen es ruhig mitnehmen. Also packe ich es zum Stapel der Arbeiten dazu. Es ist ein freundlicher Ausklang mit dem D: Wir hinterlassen den Raum vorbildlich, wünschen uns ein schönes Wochenende, und auf dem Weg nach unten spüre ich, wie es beginnt, nachzulassen, genieße die Wellen der Entspannung, das Glück des vollendeten Schaffens.
In meinem Fach finde ich eine Sichthülle mit einem faltigen Papier: Die aus dem Papierkorb gerettete Klausur des A. Ich stecke sie in meine Tasche und eile zum Bahnhof.
Nachlassen
Freitag, Schule aus, auf dem Weg zum Bahnhof: Allein schon die Fahrtrichtung signalisiert meinem Körper, dass er nachlassen kann. Es sind dieselben Straßen, die früh morgens garstig sind wie der nachtgraue Morgen, dieselbe dieselrußgeschwängerte Luft, die mich morgens würgen lässt und jetzt befreit.
An der Bahnstation treffe ich auf eine ältere Kollegin von einer anderen Schule; auch sie pendelt mit dem Fahrrad, nur einmal hatte ich sie angesprochen, weil ich ihr einen Rat geben wollte, weil ihr Fahrrad sich in Zug öfter selbständig macht, aber nach diesen wenigen Worten, die nur gesprochen wurden, weil sie sachlich geboten waren, haben wir zu unserer alten Distanz zurückgefunden, die eigentlich gar keine Distanz ist, weil wir uns gar nicht kennen; ich weiß auch nicht, dass sie Lehrerin ist, aber ich bin mir sicher, weil sie zu ähnlichen Zeiten fährt wie ich, und weil sie hin und wieder einen Leinenbeutel mit sich trägt, ein untrügliches Zeichen, da er so prall gefüllt ist wie mit einem Stoß Klassenarbeitshefte. Zudem bemerke ich, wie etwas an ihr zehrt, und so zweifle ich nicht: Sie kann nur Lehrerin sein. Seit Jahren sehen wir uns an den Bahnhöfen, zusammen mit unseren Fahrrädern quetschen wir uns gelegentlich in denselben Fahrstuhl, uns nicht anblickend, und wenn die Fahrstuhltür sich öffnet, trennen wir uns ohne ein Gefühl, nur darauf achtend, dass unsere Räder sich nicht miteinander verhaken, und so befreit fahren wir unserer Wege, nicht wissend, wohin die andere fährt; seit Jahren hält sich unsere Beziehung stabil, auch im Zug sitzen wir manchmal nahe zusammen, und ich spüre mit ihr ein tiefes Einvernehmen, das zerstört wäre, wenn wir uns bekannt machen würden, und wir sind beide so sensibel, dass wir uns niemals grüßen, denn vom Gruß zur Bekanntschaft ist es nicht weit.
Ausdruckslos begegnen wir uns, und wir scheinen uns einig zu sein, dass es für uns beide die größte Wohltat ist, wenn wir uns gegenseitig diese Oase der Ruhe so sein lassen, wie sie ist. So sitzen wir zusammen und zugleich unzusammen im Zug, und in der Gewissheit, dass die Ruhe andauern wird, genieße ich es, im Zug zu sitzen, ich kann mich auf die Kollegin verlassen, dass sie mich in Ruhe lässt, so kann ich meine Stundenprotokolllisten durchgehen, und wenn das fertig ist, hänge ich meinen Gedanken nach, nicke ein, und wenn meine Haltestelle ausgerufen wird, dann weiß ich, ohne dass ich sie sehe, dass sie schon mit ihrem Fahrrad an der Tür steht, während ich noch sitze, um sitzen zu können, bis wir den Bahnhof tatsächlich erreichen, und manchmal steht sie nicht mit ihrem Fahrrad an der Tür, weil ihr Fahrrad blockiert wird durch mein Fahrrad, das gegen ihres lehnt, und dann wartet sie, bis ich mich erst kurz vor dem Bahnhof erhebe, und ich lasse sie warten, weil ich weiß, dass sie weiß, dass ich kommen werde, dass ich sie freigeben werde – niemals spricht sie mich an wie viele andere nervöse Nichtberufspendler: Ob ich denn das Fahrrad freigeben würde, – nein, die Kollegin nimmt es gelassen, vor allem feiern wir unser Einvernehmen, uns nicht anzusprechen, denn wir wissen, dass jedes die Zeit in der Bahn für sich allein verbringen will, wenn auch manche nichtprofessionelle Bahnfahrer es verachten mögen, dass man als Pendler kommunikationslos vor sich hindöst, schläft und scheinbar das Leben verpasst – welch eine törichte Fehleinschätzung! Von wegen das Leben verpassen, es ist der reine Genuss, in der Bahn zu sitzen und solche Gedanken zu haben, einen solchen Frieden, nicht reden, nicht reagieren zu müssen, und es passiert gar nichts Schlimmes, im Gegenteil es passiert etwas Gutes, ganz ohne unser Zutun: Wir kommen nach Hause! Und dazu diese stillschweigende Übereinstimmung der Seelen, dieses Wissen, dass man nichts über den anderen weiß, dass wie man nur phantasiert, dass man vielmehr weiß, zuverlässig weiß, dass die andere vielleicht vollkommen anders ist als man denkt, nein, man gibt sich hier keinen Illusionen hin, wahrscheinlich denkt sie vollkommen anderes, und damit ist alles klar, gerade weil alles verborgen bleibt, und das trägt die Beziehung, die vielleicht nur in meiner Einbildung existiert, aber die andere ist ja da, nicht immer, es ist ohne Regel, aber hin und wieder und jahrelang taucht sie immer wieder auf, und so stabilisiert sich etwas, ich würde behaupten: wir wissen, wie man den anderen und sich selbst am besten lieben kann: durch die freundliche Nichtbenutzung von Sprache bewahren wir uns die perfekte Beziehung! Ah, ich liebe diese Kollegin dafür, dass sie da ist und dass wir uns gegenseitig nicht kennen lernen wollen, weil wir uns gut genug kennen, um zu wissen. Ah, welch ein Genuss! Das ist tiefste platonische Liebe, das ist Frieden, das ist Nachlassen!