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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (10)

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (10)

Freitag, 7.3.8

5.44 Uhr. Die Pein der gequälten Kreatur, die sich nicht stellen will und sich stellen muss, das Ich sammelt sich im Jammer, zwingt sich per Pflicht, im Dunkeln fällt der Tag mir ein: ein Schrecken: heute BGJ, aber gemildert: Im BGJ lasse ich die Klassenarbeit schreiben, so können sie mir nicht viel antun. Und in der Bahn kann ich schlafen, weiter schlafen!
Gutgut: Heute kriege ich meine Nachdosis auf den Schienen. Mit taubem Geist und müden Gliedern trete ich kraftlos in die Pedale, lasse das alles wie unwahr an mir vorüberziehen. Ohne den W ist nichts als Ödnis, also fort in die Träume … Schlimmschlimm, wir kommen an …

Kurz vor acht im Lehrerzimmer erkundige ich mich nach dem Gasalarm – der Geist erwacht mit den Nachrichten: Das stechend-giftig riechende Gas sei auf dem Gang vor dem Chemieraum bemerkt worden, aber im Chemieraum nicht; in einem Klassenraum habe es bei den Anwesenden Atemnöte verursacht. Daraufhin habe der Schulleiter, der sich das nicht erklären konnte, die Feuerwehr alarmiert. Die konnte keine Quelle des unbekannten Gases entdecken. Vermutlich habe es sich um ein Reizgas gehandelt, das irgendein Schüler habe verströmen lassen, also nichts Dramatisches.

1.+2. Stunde: 10 BFS X0

Meine Lieblings-Zehn: sie kriegen ihre Klassenarbeit zurück, aber auch hier fünfmal 5 und fünfmal 6 – das sind wieder die Schüler, die unregelmäßig in den Unterricht kommen und sowieso nie mitmachen. In dieser Stunde machen sie mir mehr zu schaffen: elektronisch erzeugter Lärm, wenn ich an der Tafel stehe. Zum Glück kann ich die Quelle ausmachen: T, ein schlechter Schüler, ich schreie ihn an. Es scheint zu wirken.
Als die Klassenarbeit besprochen und ausgeteilt ist, will der A seine Klausur reklamieren; ich bitte ihn, nach der Stunde damit zu kommen; wir haben noch eine halbe Stunde, die ich für einen Film über die „Verführung der Jugend durch den NS“ brauche, als Abschluss zu unserer Lektüre „Die Brücke“. Ich lasse das Sichtgerät herbeiholen, werfe das Medium ein, der Saal wird verdunkelt. Jetzt schwirren wieder elektronische Geräusche und Papiere durch die Luft. Ich drohe damit, ein Arbeitsblatt mit Rechtschreibübungen zu holen, schrecke aber heimlich davor zurück, weil das zusätzliche Korrekturarbeit nach sich zöge; die Lösung ist einfacher: Ich setze mich hinten zu den Chaoten. Es wird ruhig, und dann zieht das Medium die Schüler in den Bann. Der Film endet „gut getimet“ zum Stunden-Ende, alle sind zufrieden, aber für mich ist es noch nicht zu Ende.

Pause

Der A, den ich vorhin vertröstet habe, kommt noch zu mir und will seine 5 aufbessern: Ich hätte seine Antwort zu Aufgabe 4 auf der Rückseite übersehen. Ich lese die Rückseite: Dort steht die Antwort so, wie wir sie vorhin besprochen haben. Auf der Vorderseite steht in Rot NIL, das bedeutet, dass keine Eintragung des Schülers mehr folgt – ein Geheimzeichen, das ich mir zugelegt habe, weil Schüler manchmal versuchen, Leistungen vorzutäuschen, indem sie nach Rückgabe der Arbeit in den leeren Raum auf einem Klausurzettel noch Antworten eintragen und dann reklamieren, dass ich diese Antworten nicht bepunktet hätte. Wenn eine Aufgabe gar nicht bearbeitet wird, trage ich in die Korrektor-Spalte nicht „O“ Punkte ein, sondern eine DV-Null, denn die gewöhnliche Null bedeutet, dass eine falsche Antwort vorliegt, und die DV-Null, dass gar keine Antwort gegeben wurde. Nur im Falle von A ist es knifflig: Er hat für die Aufgabe 4 eine O bekommen, weil seine Antwort nichtssagend war, und jetzt steht auf der Rückseite des Blattes die vermeintliche Fortsetzung der Aufgabe 4, und dort steht eine richtige Antwort. Aber auf der Vorderseite steht ein NIL. Deshalb anerkenne ich die Fortsetzung nicht, streite ein paar Minuten mit dem A herum, der uneinsichtig bleibt: Ob ich denn behaupten wolle, dass er das erst jetzt geschrieben hätte? – Nein, das will ich nicht behaupten, weiche ich aus, um ihn nicht zu beleidigen, das sei mir ja selbst ein Rätsel, aber ich sei mir sicher, dass es bei der Korrektur nicht dagestanden habe. Nochmal hin und her, dann prustet A, zerknüllt seine Klausur, schmeißt sie knapp neben den Papierkorb und zieht ab.
Ich korrigiere den missglückten Wurf und gehe ins Lehrerzimmer, wo ich nach den Arbeitsblättern suche, die ich jetzt in der 12 einsetzen will, durchforste mein überquellendes Fach: Nein, da sind sie auch nicht, aber ich finde das Ansichts-Exemplar des WISO-Arbeitsheftes für die Berufsschüler – das muss ich ja dringend bestellen, also suche ich die Bestellliste und den Kollegen B auf, der mir freundlicherweise den Vorgang abnimmt. Im Klo die übliche Durchspülung dieses Körpers, der nichts als ein wässernder Beutel ist, nur ein Pissoir ist frei, Installateure haben die anderen abmontiert, so verliere ich Zeit, die Pause ist zu Ende, runter in den Keller, es muss auch ohne die Blätter gehen.

3.+4. Stunde: 12 FOS I1

In der 12 erkenne ich auf den ersten Blick, dass vier Schüler da sind, die gestern gefehlt haben.
„Sie müssen jetzt den Test nachschreiben“, befehle ich voreilig, dann fällt mir ein: Ich habe nur drei Testblätter dabei, außerdem müsste ich vier Räume finden, wo jeder einzeln nachschreiben kann. Also, wollen wir erstmal sehen, wer überhaupt entschuldigt gefehlt hat: „Laut Klassenordner sind Sie alle unentschuldigt“, verkünde ich, „also schreiben Sie auch keinen Test nach, sondern bekommen gleich eine 6.“
„Moment mal“, sagt der L, „ich gebe ja jetzt meine Entschuldigung ab“, und er macht sich daran, sich so einen Wisch zu schreiben. Die anderen drei fangen ebenfalls an zu krakeln, und ich beginne den Unterricht: So, lieber Herr A, jetzt erzählen Sie mal! Ich lasse mich vor, A fängt stockend an, wir hören geduldig zu, derweil landen die Entschuldigungen nach und nach bei mir, die Schüler bilden eine Traube um mein Pult, sie warten darauf, den Test nachzuschreiben.
„Setzen Sie sich wieder hin“, sage ich, „der A ist ja noch nicht fertig.“ Ich helfe dem A nach, versuche, ihn zu beschleunigen, frage nach dem Schluss des Buches, aber zuerst den L, der behauptet: zum Schluss stirbt der – wer denn? – L‘s Bluff fliegt sofort auf, er weiß nichts; ich frage die anderen drei Nachschreibe-Kandidaten, die können auch nicht antworten, und somit ist der Test mündlich erledigt. Der A schlägt sich einigermaßen, vortragen kann er nicht, aber er hat wohl gelesen; ich frage die Klasse, was er verdient hat, und wir gewähren ihm seine Eins.
Weiter mit Frontalunterricht: von der Nacherzählung auf die höhere Ebene der Interpretation. Die Schüler sollen erkennen, was eine Interpretation ist. Solche Stunden sind für mich sehr lehrreich, da ich mich vorlassen kann, von den Schülern inspiriert werde, sie gleichzeitig fachlich führend, und in einem fruchtbaren Gespräch mit fünf, sechs Schülern kommt ein Dialog zustande.
Ich schließe die Stunde mit einem Dank an die Klasse für die guten inhaltlichen Erkenntnisse, die wir uns gegenseitig beschert haben, aber auf dem Weg nach oben denke ich: Vorsicht! Die meisten haben nicht mitgemacht, und die Schüler, die ich dran­ge­nommen habe, um zu prüfen, ob sie es verstanden haben, waren in einer anderen Welt! Kein einziger Schüler hat sich eigene Notizen ins Heft gemacht; und trotz meiner Ergebnissicherung an der Tafel werden viele in der Klausur, wo eine Interpretation gefragt ist, nichts mehr als eine schlichte Nacherzählung schreiben, oder sie werden schreiben, was ihnen so irgendwie einfällt – und sie werden keinen Punkt dafür bekommen, und ich werde bezahlen müssen, indem ich all den Unsinn lesen und korrigieren muss.
Nein, auch wenn es mir Spaß macht, frontal aufzuleben, so muss ich mich doch disziplinieren, nächstes Mal eine Gruppenarbeit anzuzetteln, die ja an sich für mich persönlich langweilig ist, aber das ist irrelevant; relevant ist, dass eine gut vorbereitete Gruppenarbeit die Lernchancen vergrößert – doch ohne eine frontale Grundlage kommt dabei auch nichts heraus.
Ach, es ist eine schwere Verpflichtung, das Lernen zu organisieren.

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