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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (9)

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (9)

5.+6. Stunde: 12 FOS I1

Der B sitzt am Laptop, der Beamer steht still. Warum, ein Verlängerungskabel fehlt! Also, wer holt so ein Teil beim Hausmeister? Keiner. Der B muss selbst laufen.
Derweil arbeite ich die Anwesenheit auf. Der L fehlt! Schon in 3.+ 4. Stunde war er nicht mehr da – wahrscheinlich hat der angehende Kampfflieger oder Offizier schwer an der Standpauke des Philologen zu schlucken gehabt? Kann er sich nicht damit trösten, nachher Bomben auf diese Intellektuellen schmeißen zu dürfen? Nein, ich tu dem L unrecht, die Jugend ist gewiss nicht böse, der L wird die Bomben bestimmt nur auf Befehl platzieren? Und Befehle führen wir ja alle aus, oder?
Nach zehn Minuten kriegt der Beamer seinen Strom – das ist erfreulich, denn manchmal gibt es hier im Keller gar keinen Strom, die Elektroinstallation der Schule gilt als irreparabel; und wenn der Hausmeister, wie meistens, nicht im Büro ist, dann muss ich das Gebäude nach so einem Teil durchsuchen.
Nun also, Herr B, fangen Sie an! Thema: Biogas als nachhaltige Energiequelle.
Ich lehne mich zurück. B hält einen vorzüglichen Folien-Vortrag – aber bei meiner Frage nach dem Kohlenstoff-Kreislauf bricht er ein: Welchen Unterschied macht es, ob ich Biogas verbrenne oder Erdgas? – Naja, das Biogas ist biologisch. – Bitte erklären Sie! Woher kommt das Erdgas? – Aus der Erde. – Nun, bei mir ist es nicht so: Wenn ich Erde vor meinem Haus zerbrösele, ist da kein Gas drin! – B versucht, auf die Nachhaltigkeit des Biogases auszuweichen. – Nun aber, wenn wir endlos viel Erdgas hätten? Wäre das genauso gut wie Biogas? – Das kann er nicht beantworten. – Danke, Sie sind entlassen.
Die armen Zwölfer: Fast jeder scheitert mehr oder weniger an chemischer, physikalischer und mathematischer Inkompetenz. Und jetzt kommt auch noch ihr Politik-Lehrer und fordert chemisches Wissen heraus – eine Gemeinheit, wegen einer Wissenslücke doppelt bestraft zu werden! Die Schüler protestieren, dass ich in PoWi keine chemischen Kenntnisse verlangen dürfe.
Da ich aber meiner Chemie-Kollegin, die es mit dieser Klasse fast aufgegeben hat, den Rücken stärken will, beharre ich:
„Wie wollen Sie verstehen, warum es nichts zum Treibhauseffekt beiträgt, wenn Sie Biogas verbrennen? Nur weil es BIO ist? Vollkommener Unsinn. Die Darmgase der Rinder sind auch Bio, und sie verschärfen den Treibhauseffekt! Ohne chemische Hintergründe kommen Sie bei unserem Thema Umweltpolitik doch gar nicht weit. Sie werden zum Spielball der Medien, die irgendwas behaupten, und haben nicht mal die Chance, kritische Fragen zu stellen, geschweige denn die Verdummung zu erkennen. Nein, wenn Sie meinen, dass Sie keine Chemie bräuchten, dann gibt es auch im Fach PoWi Abzüge!“
Ich lasse nun Schüler die Zettel zur Beurteilung des Referenten ausfüllen und einsammeln, dann zeichne ich den Kohlestoffkreislauf an der Tafel auf, schön mit bunten Farben, und unternehme eine Exkursion zur chemischen Gleichung der Photosynthese: Was wird hier oxidiert, was wird reduziert? – Keiner hat Ahnung. – Sie müssen das aber nächste Woche in der Chemie-Arbeit können! Ich erkläre es kurz. Während die Schüler die Tafel kopieren, gehe ich Info-Blätter holen, weil in der vorigen Stunde ein Referent den Begriff Sozialkosten gebraucht hatte – ohne zu wissen, was das bedeutet. Diese Lücke will ich ihnen auch noch füllen!

Der Fachraum Deutsch/PoWI/Englisch/Religion befindet sich, wie so oft, weit, weit entfernt von dem Raum, in dem ich Deutsch oder PoWi unterrichte. Also hetze ich quer durch die ganze Schule, um die Infos zu holen – eigentlich sollte man das ja in der Pause tun, Schande über mich. Doch hat sich noch nie ein Schüler über solche Verzögerungen beschwert.
Im Trab komme ich zurück, gebe die Blätter an die vorderen Schüler aus – zum Weiterreichen, das hier recht gut klappt.
Ein paar Minuten vor Eins sind im Frontalunterricht die Begriffe Sozialkosten, betriebswirtschaftliche Kosten, ökologische Kosten erklärt, die Beispiele einsichtig, wir machen Schluss.
Der B hilft mir, die Geräte zurückzubringen, und als ich kurz nach Eins im Lehrerzimmer meine Jacke schnappe, fragt mich eine Kollegin: Ob ich Chemie gehabt hätte? Vom Chemieraum gehe ein übler Geruch aus!
Ich bin neugierig, überlege, ob ich meinen Zug fahren lasse, um nachzuforschen? – Aber mir knurrt der Magen, und warum sollte es in der Chemie nicht mal übel riechen?
„Nein, ich hatte heute kein Chemie“, sage ich, mache kehrt, haste hinaus, zur Fahrradgarage, werfe einen Blick auf die Uhr, renne, werfe meinen Koffer in den Fahrradkorb, trete in die Pedale und frage mich, ob ich denn ein Schulflüchtling bin?

Erstes Nachlassen in der Bahn

Zusammen mit dem Zug erreiche ich den Bahnsteig, treffe im Zug den Kollegen W, der berichtet, er habe unterwegs eine Lautsprecherdurchsage der Feuerwehr gehört: Gasgeruch in unserer Schule! Einsatz mit Martinshorn. Schlagartig erinnere ich mich an den H, der die Konsole manipuliert hat: Dort ist eine Gasleitung drin! Ich erzähle dem W, was der H gemacht hat, dass ich ihn das habe reparieren lassen, aber vergessen habe, das überprüfen.
„Den Schüler hättest du sofort zum Schulleiter schicken müssen“, meint der W.
„Ja“, sage ich, „das war ein Fehler.“ Ich denke darüber nach, dass die Versorgungsleitungen alle abgeschaltet waren, als ich den Raum verließ, aber der nächste Kollege hätte sie ja einschalten können, nicht wissend … Unwahrscheinlich.
Ich schiebe das schlechte Gewissen beiseite und nehme mir die Protokollbögen hervor: Für jede Doppelstunde vermerke ich, wer durchschnittlich, gut, sehr gut mitgemacht oder genervt hat – darauf basieren meine mündlichen Noten, und durch diese Dokumentation erspare ich mir allzu viele Vorwürfe.

Auf dem Fahrrad versagen mir die Kräfte: ich bin ausgehungert.
Morgens um 6.30 Uhr frühstücken, und dann durchhalten bis nach 14 Uhr. Dabei rügen der Koll. B und meine Frau einmütig, dass ich zu dünn bin. Recht haben sie, ich müsste öfter essen. Ich will ja! Aber wann? Es gibt Dringenderes.

Nachlass

Zuhause rufe ich gleich die Schule an: Die Sekretärin lebt noch, in ihrer Stimme keine Aufregung. Das Gas habe sich verzogen, nichts aus dem Chemieraum. Ist auch logisch, fällt mir langsam ein: Unsere Sicherheitsanlage schaltet das Gas erst ein, nachdem sie geprüft hat, dass der Druck nicht abfällt.
Und dann Essen! Ich werfe Brotstücke in die Pfanne, mache einen Salat, gierig schlinge ich alles rein, und mit überfülltem Magen gibt’s nichts anderes als schlafen, dieses Privileg des Lehrers genieße ich wie ein Mensch.
Und wieder an die Arbeit! Da ich noch keine Lust habe, die Klassenarbeit für morgen zu konzipieren, lese ich eine halbe Stunde lang die Zeitung, entnehme ihr einen Artikel für den Unterricht. Dann ordne ich meine Unterlagen, korrigiere den Lesetest der 12 und die Nachschreibearbeit vom S, was schnell erledigt ist: eine 6+ für S, überwiegend 5er und 6er für die Zwölfer. Nun drängt es, ich muss diese Deutscharbeit für das BGJ schreiben. Das ist eine schwierige Angelegenheit, denn die Aufgaben müssen möglichst leicht sein, die BGJ-Schüler sind schnell überfordert, aber sie dürfen auch nicht zu billig wegkommen, wenn sie das Buch nicht gelesen haben. Eine Nacherzählung will ich auch nicht schreiben lassen. Über zwei Stunden lang sitze ich an den Klausuraufgaben, ordne die erreichbaren Punkte zu, entspanne mich zwischendurch beim Abendessen, mich amüsierend über den halb ernst gemeinten Kommentar meiner Frau: Wir sollten doch von der Türkei lernen. Wenn einer in einer türkischen Schule die falsche Antwort gibt, muss er seine Finger ausstrecken, damit der Lehrer mit dem Lineal Schläge darauf gibt; wird der Schüler frech, gibt es Schlimmeres. – Ich bin stolz darauf, dass das in Deutschland verboten ist, und arbeite weiter bis neun.

Im Bett nehme ich das Buch mit authentischen Geschichten von deutschen Polizeibeamten vor. Die Polizisten haben wirklich etwas zu berichten: „Die erste Leiche vergisst man nicht.“ Ein vorzüglich miserabler Beruf.
Dagegen gibt es von der Schule nichts zu erzählen außer unbedeutenden Anekdoten, wie zum Beispiel die Begegnung mit einem Schüler im Pausenhof: Der Schüler fragte mich, wie die Klassenarbeit ausgefallen sei? Ich antwortete:
„Nicht so gut, der Noten-Durchschnitt ist 5,1.“
Der Schüler, immer noch optimistisch, fragte weiter: „Und welche Note habe ich?“
„Das weiß ich nicht genau“, sagte ich, „aber ich glaube, deine Arbeit ist so durchschnittlich.“
Das war’s dann. Nein, der gewöhnliche Unterricht gibt nichts her für Erzählungen oder Romane, nichts Dramatisches, keine besonderen Konflikte, keine Charakterentwicklung – wenn aber Schule zum Stoff in der Literatur wird, dann meistens so konstruiert, dramatisiert, übertrieben, dass es nur noch wenig mit der Realität zu tun hat.

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