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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (6)

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Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (6)

Mittwoch, 5.3.8

Am nächsten Morgen piept der Wecker eine Stunde später, aber brutal wie immer. Eigentlich ist der Mittwoch mein unterrichtsfreier Tag. Aber seit vier Wochen ist der Deutschunterricht in meiner 10 ausgefallen; laut Stundentafel sollten die 10er vier Wochenstunden Deutsch haben, aber sie kriegen grundsätzlich nur zwei, und weil eine Kollegin krank war, hatten sie schon zu Beginn des Schuljahres ein paar Wochen lang kein Deutsch. Und zum Halbjahresende haben zwei Deutsch-Kolleginnen unsere Schule verlassen, und wir haben keine einzige neue bekommen. Also habe ich mich bereit erklärt, den Unterricht zu übernehmen, so bin ich heute die 5.+6. Stunde in meiner 10, und damit es sich lohnt, in die Schule zu fahren, kriege ich die 3.+4. Stunde noch einen Vertretungseinsatz. Also vier Überstunden, von denen mir wahrscheinlich zwei angerechnet werden. Ich eile aus dem Haus, mache auf dem Weg zur Schule einen Abstecher zum städtischen „Medienzentrum“, das früher Bildstelle hieß, und leihe ein paar „Medien“ aus.
Und in der Schule frage ich rasch den Kollegen HH, ob er sich wegen dem K sicher sei? – Natürlich, er erinnere sich genau, dass der K das auch zugegeben habe, und er nennt Zeugen. – Ich danke und eile zum Unterricht.

3.+4. Stunde: 11 BFS x1

Rückgabe der Klassenarbeit. Gibt’s die Klausur vor der Besprechung der Aufgaben oder erst danach? Die Besprechung langweilt alle, aber um Tohuwabohu zu vermeiden, will ich die Klausuren bis zum Ende dieser Frontalveranstaltung einbehalten. Ob die Klasse es schafft, die Geduld aufzubringen? – Oder aber trotz vorliegender Klausuren aufmerksam zu sein? So oder so: Es ist immer eine kleine Reifeprüfung.
Es wird diskutiert: die Schüler meinen, es sei besser, die Arbeit gleich zu haben, dann könnten sie ihre Fehler besser nachvollziehen. – Das macht ja Sinn, aber wird es kein Chaos geben, können sie dann überhaupt zuhören? – Sie versprechen es, und ich teile die Arbeiten aus. Nach fünf Minuten können wir die Aufgaben durchgehen, und es geht gut. Wenn doch alle Klassen so wären!
Nach der Besprechung kommen einige mit Reklamationen zu mir, hier ein Punkt, da ein Punkt, nur der Fall S ist nicht so leicht zu klären: S will die Klausur nachschreiben – wir hatten schon einen Nachschreibetermin, aber den hat er auch versäumt! S ist einer, der bei Klausuren notorisch fehlt. Im letzten Halbjahr war er am Tag der Chemiearbeit in der Schule gewesen, tauchte aber kurz vor der Arbeit ab. Gegen die Note 6 wendete er dann ein, dass er krank gewesen sei – er brachte eine handgeschriebene Entschuldigung, ich blieb bei der 6.
Daraus hat Herr S gelernt: Als wir dieses Halbjahr die Arbeit schrieben, kam S zu Beginn zu mir und behauptete, ihm sei schlecht. Ich roch seinen nikotingeschwängerten Atem und meinte: „Ja, mir wäre auch schlecht, wenn ich soviel rauchen würde wie Sie. Also, gehen Sie mal nach Hause und bringen Sie mir nächstes Mal eine Entschuldigung mit.“ Denn man soll ja anerkennen, dass die Schüler überhaupt etwas lernen. Er ging sich auskurieren, und beim Nachschreibtermin fehlte er auch noch.
Jetzt steht er neben mir und will einen zweiten Nachschreibetermin haben. – Ob er eine Entschuldigung für den ersten Nachschreibetermin hätte? – Ja, er legt mir sogar ein Attest vor, das, näher geprüft, echt aussieht.
Das ist ja fein, sage ich und überlege fieberhaft, ob ich im Notenspiegel noch Platz für eine 5 oder 6 habe, denn wenn es mehr als 50% sind, muss ich die Klausur wiederholen. Ich hatte zwei oder drei Schüler von einer 5 auf eine 4 angehoben, so dass es reichte: 12 negativ, 13 positiv, dann hätte ich also gerade noch einen Platz für Herrn S. Ich könnte auch sagen: OK, Sie sind entschuldigt, dann wird die Arbeit bei Ihnen nicht gewertet, dann gilt nur Ihre mündliche Note – und das ist die Note 6+ oder meinetwegen eine 5-, denn er leistet ja nichts. Aber das würde er vermutlich wieder ungerecht finden. Lieber soll er seine 5 schreiben, das macht dann keinen Unterschied, aber er hat seine Chance gehabt.
Dann schreiben Sie also jetzt nach, sage ich, wohl wissend, dass ich die Nachschreibearbeit gar nicht in der Tasche habe – aber als Lehrer muss man das Spiel beherrschen.
Jetzt, fragt der S erschrocken, das ginge nicht, jetzt habe er gar nichts für Chemie gelernt.
Ja, Herr S, entgegne ich, dann verzichten Sie auf die Chance und nehmen eine 6 in Kauf?
Zerknirscht wendet S sich um, um mir in den Nachbarraum zur Folter zu folgen.
Doch ich krame noch in meinen Unterlagen nach irgendeinem übrig gebliebenen Aufgabenblatt, muss schließlich einen Rückzieher machen. Ich bestelle ihn für den nächsten Tag für 8 Uhr zum Nachschreiben, er ist erleichtert, und ich nehme den Unterricht auf.
Nach einer Einführung hole ich ein Medium hervor: Chemie und Umweltschutz. Alle sind beglückt!
Das Sichtgerät muss aus dem Nachbarraum herbei geholt werden, ich nehme den L mit, klopfe dort an, kein Herein ist zu hören, ich trete ein: Wenige Schüler, einer mit einer schiefen Kappe blökt uns entgegen: „Was wollen Sie denn hier!“ – „Guten Morgen, Entschuldigung, ich will nur den Fernseher holen, darf ich Ihnen den entleihen?“ – „Nein, erlauben wir nicht!“ Aber die Kollegin erlaubt es, und wir machen, dass wir mit dem Fahrschrank schnell rauskommen.
„Diese asozialen EIBE-Schüler“, mault L. – Jaja, ich weiß, es gibt immer welche, auf die man herabsehen kann.
Für den Rest der Stunde füttere ich meine edlen BFS-Schüler aus der DVD-Konserve, aber in vorsichtigen Häppchen: immer wieder stoppe ich zum Leidwesen der gierigen Schüler die schnell wechselnden Bilder, um die fachlichen Sachverhalte des Filmes aufzuklären.

Pause

In der Küche fülle ich mir ein Glas warmes Wasser ein, da ruft mir der Kollege M zu:
„Der I bereitet seinen Toilettengang vor!“
Wir lachen. – Heute hätte ich mal Zeit, in Ruhe zu trinken, aber wie es so ist, muss man seinem Ruf folgen. Ich nun bin dazu berufen, auf dem Klo zu trinken.
Nach dem Wässern will ich mal sehen, was sich noch erledigen lässt, und schlendere durch den Lehrertrakt, jedes Gesicht danach abprüfend, ob mit dem etwas zu klären ist. Vielleicht kann ich mich auch mal setzen? Da werde ich selber angesprochen, vom geschätzten Kollegen B2, der uns Naturwissenschaftler mit Kopien von technikkritischen Fachartikeln versorgt und den ich zu den bestgekleideten Kollegen zähle. Hallo Herr I, begrüßt er mich, und fragt, ob ich den Artikel gelesen hätte, den er mir ins Fach gelegt hat? – Nein, gestehe ich, vielen Dank, aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen. – Die „Stromversorgung ohne Batterie“ höre sich an wie Solartechnik, dabei handele es sich um eine Vervielfachung von Elektrosmog. – Jaja, wie so oft: statt Fortschritt kriegen wir eine Vervielfachung des Bösen! – Kollege H steht schon wartend neben uns – er lässt in seinem Fachpraxis-Unterricht die Holzregale für die Rechtschreib-DUDEN bauen und will nun von mir wissen, wie viele Teile wir brauchen usw.? – Keine Ahnung, denke ich, woher soll ich das wissen? Aber ich leite das Fach Deutsch bei uns, und wer sonst soll es wissen? Also muss ich überlegen, rückfragen, antworten… und ehe ich mich versehe, ist die Pause zu Ende. Wie gerne hätte ich mich mal länger mit dem Kollegen B2 unterhalten!

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5. + 6. Stunde: 10 BFS X1

In meiner 10 muss ich eine kritische Stunde meistern: Letzte Woche hat die Klasse das Buch „Die Welle“ zur Lektüre ausgewählt, und ich habe aufgegeben, dass sich jeder das Buch beschaffen soll. Es überrascht mich nicht, dass jetzt nur zwei, drei Schüler das Buch dabei haben. Aber bevor ich den Unterricht beginnen kann, umringen mich die Unzufriedenen: Ob ich denn ihre Zeugnisse neu gedruckt hätte? – Nein, sage ich, ihr wart ja gestern nach der Stunde auch nicht bei mir. – Sie wollen, dass wir jetzt, sofort, die Fehlzeiten überprüfen. – Nein, sage ich, jetzt haben wir Unterricht! Endlich gehen sie auf ihre Plätze.
Ich verkünde, dass nächstes Mal jeder, der das Buch nicht dabei hat, von mir in die Stadt geschickt werde, um es sich zu kaufen – und dass er die Note 6 für diese und jede weitere Stunde bekommt, die er das Buch nicht hat. Und weil wir in Hessen Lehrmittelfreiheit haben, soll jeder, der ein finanzielle Problem hat, nach der Stunde zu mir kommen, damit wir das Problem lösen können. Ich sage nicht, dass die Schule 13 Bücher in der Bibliothek hat, die ich alle ausleihen könnte, denn die 13 reichen nicht aus, und wie sollte ich sie gerecht verteilen? Die Schüler akzeptieren. Und jetzt? Weil wir jetzt noch nicht alle das Buch haben, gibt es als Einführung in das Thema eine Dokumentation über die Jugend unter dem Nationalsozialismus: „Treue bis ins Grab“
„Gucken wir einen Film“, schreien sie begeistert. Ich nicke und hole das Medium hervor. Es ist eine gute Wahl: authentische Filmaufnahmen, Interviews mit Zeitzeugen, denen im Erinnern an das Morden die Stimme bricht.
Ich halte das Band an. Zwei, drei Schüler erzählen von ihren Großeltern, doch das Interesse der anderen bricht schnell ein, die Offenheit wird durch verächtliche Bemerkungen gestraft, und ich kanzle diese unsozialen Kameraden ab. Es erweist sich, dass ein häufiger Wechsel zwischen Film und Aussprache geschickter ist.
Um viertel vor eins singt ein Chor einiger Hinterbänkler: „Feierabend, Feierabend!“ – Zornig sehe ich in ihnen die Vorhut der Frühaufsteher und verdonnere drei dazu, dass sie noch länger als die anderen hier bleiben, weil ich den Vorfall mit ihnen zu bereden habe.
Nach Beendigung der Stunde kommen die Narzissten zu mir. Sie sind böse, denn die anderen dürfen schon sieben Minuten früher gehen. Und sie sollen wegen des ungerechten Lehrers ihren Bus verpassen?!
„Ihr habt euch überhaupt nicht zu beschweren, der Unterricht dauert bis 13 Uhr, und bis dahin werden wir fertig sein“, entgegne ich und schaue mir in aller Ruhe die vorgelegten Testatbögen an, die mal wieder eine kritische Sicht auf das eigene Verhalten vermissen lassen. Danach widme ich mich den Feierabend-Frühaufstehern, die ihre Unschuld beteuern: Sie hätten nur den Text aus einem der Nazi-Lieder zitiert, das im Film vorgekommen sei, und sie sagen mir eine ganze Strophe auf.
„Na dann ist das aber ein Missverständnis“, lenke ich ein, „wenn ihr euch mal richtig gemeldet und das erklärt hättet, wäre es ja keine Störung, sondern Mitarbeit gewesen.“ Ich entlasse sie. Ihren Bus haben sie verpasst. Gutgut.
Jetzt fehlen noch die Zeugnis-Reklamationen. Nur der N ist noch da, ich schlage seine Fehlzeiten nach, und er schreibt sie sich auf. Ich weise ihn darauf hin, dass ich keine nachträglichen Entschuldigungen akzeptiere.

freier Nachmittag

Was ist frei? Frei heißt, dass man Unterricht vorbereiten kann. Oder erstmal ausschlafen. Am besten beides. Dann muss man nicht lange nachdenken, was man als nächstes macht.

Nach dem Erwachen muss ich an die Arbeit. Um meine Widerstände gegen die Hausaufgaben auszutricksen, lese ich zuallererst eine halbe Stunde die Frankfurter Rundschau, und zwar online; so habe ich den PC schon am Laufen, und kann mich bruchlos über die Schularbeit hermachen. So geht es, bis mein Berufsethos der Müdigkeit nachgibt. Das schafft zwar keine wirkliche Befriedigung, aber ohne Pragmatismus geht es nicht.
Abgearbeitet krieche ich in die Federn, greife widerwillig zu Hemingway, der mir allzu karg ist, und wenn ich Glück habe, besucht mich meine Frau und wir lieben uns; danach kehrt sie zurück an ihren PC-Arbeitsplatz, und ich schlafe gut.

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