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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (5)

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Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (5)

Mittagspause 13.00-13.30

Ich eile, eile um das ganze Experimentierzeug wegzuräumen, ein Schüler hilft dabei, um 13.10 komme ich herunter, und bis ich mir das immergleiche Brot mit Erdnussbutter geschmiert habe und neben mampfenden Kollegen im Lehrerzimmer sitze, ist von der Mittagspause nur noch eine Viertelstunde übrig.
Meine Schnitte ist öde, aber ich hatte keine Zeit, etwas anderes zu besorgen. Nicht öde ist der Smalltalk mit dem Kollegen R: dass wir für die Schule alles mögliche lernen müssen, was wir nicht studiert haben – zum Beispiel für den WISO-Unterricht: dass es in Deutschland ein „Arbeitszeitgesetz“ gibt, demzufolge jeder Beschäftigte Anspruch auf eine halbe Stunde Pause hätte, wenn die Arbeitszeit insgesamt länger als 6 Stunden am Tag ist. Interessant. Aber für Lehrer und Ärzte gelten andere Gesetze.
Kollege R muss sich sputen, denn er hat eine Abordnung an eine andere Schule, in der er gleich unterrichten muss, und weil der Weg dorthin über 20 Minuten dauert, dürfte er gar keine Mittagspause machen.
Aber warst du nicht krank, frage ich ihn, da er röchelt; wie kannst du dich am ersten Tag gleich so strapazieren! – Jaja, bestätigt er, er sei noch immer angeschlagen, aber es gibt ja bei uns keine halben Sachen, wenn du wieder „gesund“ bist, musst du alles durchziehen. – Ja, ich mache diesen Fehler auch oft, sage ich, bin letzte Woche zu früh wieder in die Schule gekommen; ich fühle mich immer noch geschwächt, schlafe viel, der Infekt hängt mir nach.
Es ist 13.20, Kollege R will nicht mehr säumen, er verabschiedet sich.
Wir zurückgebliebenen Kollegen sind uns darin einig, dass man das alles nicht mitmachen dürfte. Warum gehen wir dieses Risiko ein, halb krank in die Schule zu gehen? Weil wir immer daran denken, dass es keinen Vertretungsunterricht gibt, der uns ersetzen kann, dass unsere Halbjahresplanung von der Krankheit bedroht wird, und so suchen wir das Kranksein abzuwürgen.
Wenn wenigstens die Schule die Gesundheit fördern würde. – Kein Angebot für warmes Essen gibt‘s, nur einen Kiosk mit ungesundem Zeug. Unser Schulleiter erzählte mal, was der wichtigste Eindruck eines renommierten ausländischen Schulexperten bei seinem Besuch deutscher Schulen war: „Die Schule nährt euch nicht“.
Für eine Mahlzeit bleibt auch gar keine Zeit.
Wie könnten wir richtige Pausen haben?
Ich schlage einen Antrag an die Gesamtkonferenz vor, dass wir erst um 9 Uhr beginnen, eine ordentliche Mittagspause mit einem warmen Essen gewähren und den Tag bis 17 Uhr strecken. – Kollege D wendet ein, dass viele Schüler aus weit entlegenen Gebieten kommen, auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und dann erst nach 18 Uhr nach Hause kämen. Also unzumutbar! Wir müssen um 15.00 schließen und bis dahin 8 Unterrichtsstunden unterbringen, koste es was es wolle.
Im Moment kostet es mich meine zweite Schnitte, zu der ich nicht mehr komme, da ich zu langsam esse; es ist 13.30, hungrig räume ich mein Essen weg – man soll ja auch nicht mit vollem Bauch geistig arbeiten. Dagegen die Aggressivität wegen überschießenden Appetits schadet nichts, oder?

7. + 8. Stunde 12 IM X2

Auf zu den Industriemechanikern: Sie sind fast alle da, obwohl sie die ersten sechs Stunden nur Vertretung hatten. Die letzten zwei Wochen fiel die Berufsschule bei ihnen aus – wegen Lehrermangels. Aber wir hatten vorher verabredet, heute die wichtigsten Inhalte aus dem Buch „Christiane F.“ zu wiederholen und nächste Woche die Arbeit darüber zu schreiben. Jetzt wettert eine Reihe von Schülern, dass sie zwischenzeitlich die ganze Geschichte vergessen hätten und keine Arbeit darüber schreiben wollten. Dabei hatten wir abgestimmt: Entweder schreiben wir über das Buch, oder über Balladen. Herr N lamentiert, dass er in der letzten, entscheidenden Stunde nicht da gewesen ist, dass der Beschluss dumm gewesen sei; als Klassensprecher fordert er eine Wiederholung der Abstimmung.
Spontan willige ich ein und sitze in der Falle: Eine chaotische Kontroverse bricht aus, laut meldet einer, dass der alte Beschluss gültig sei, er bestehe darauf, weil er sich vorbereitet habe.
Recht hat er, denke ich, man muss diejenigen schützen, die den Plan ernst genommen und das Buch weiter gelesen haben. Also reiße ich das Ruder herum: „Herr N, Sie waren letztes Mal nicht da und müssen sich dem demokratischen Beschluss fügen!“Der N gibt nicht nach, er bezichtigt mich der Inkonsequenz, ergießt sich in Selbstmitleid, weil er letztes Mal nicht da war, folglich auch das Buch nicht gelesen habe und nun arg im Nachteil sei. Die Chaoten-Fraktion um U gibt dem N ihre Unterstützung, aber die übrige Klasse bleibt ruhig. Im Vertrauen auf diese schweigende Mehrheit halte ich den Kurs:„Herr N, haben Ihnen die Kameraden nicht gesagt, was wir in der Stunde gemacht haben, als Sie nicht da waren?“„Nein, wie denn, die habe ich doch heute zum ersten Mal wieder gesehen.“
„So haben Sie denn gar keine Möglichkeit, die Technik der Telekommunikation einzusetzen?“ Undsoweiter, ein Hin und Her um die Verantwortung, aber nach und nach gelingt es mir, sie unter Kontrolle zu bringen, nur die U-Fraktion in der Hinterbank motzt und schwätzt ungebrochen vor sich hin; trotzdem setze ich meinen Entschluss durch, und nun muss ich Stoff liefern, um die Kontrolle auszubauen.
Entschlossen wische ich die Tafel, konzentriere mich zehn Sekunden lang und schreibe an: „Phasen und Wendepunkte im Leben von Christiane F.“
Ich habe keine Ahnung, wie ich eine Klausur daraus machen werde, aber in diesem Unterrichtsgespräch gelingt es, den Inhalt des Buches auf ein paar Seitentafeln herunterzubrechen. Das war ja auch das Ziel: Alles noch mal Revue passieren zu lassen, nach drei Wochen Präsenz zu schaffen und gleichzeitig Christianes Geschichte zu reflektieren: „Wo sind die Wendepunkte und was bewirken sie?“ Da haben wir indirekt die ganze Interpretation dabei. Und die Schüler haben ordentlich etwas zum Abschreiben – außer die Chaotenfraktion um U, aber die schreiben ohnehin nie. Während die anderen die Tafel kopieren, mault der N: „Der ganze Tag Berufsschule war für den Arsch. Da sitzt man 8 Stunden ab und lernt gar nichts.“
Ich sage nichts. Als wir zum Schluss des Buches kommen, diskutieren wir, ob es unfair war, dass Christiane bei Hamburg von der Realschule flog, nur weil ihre Akte aus Berlin eingetroffen war – sie hatte dort ein neues Leben angefangen und entpuppte sich als gute Realschülerin. Die Meinungsführer der Klasse sind sich darin einig, dass sie eine zweite Chance verdient hätte und man die Akte aus ihrer Vergangenheit mal hätte beiseite lassen können. Nur der N weiß es wieder besser: „Nein, man muss hart sein, es ist ja bekannt, dass Christiane später wieder Drogen nimmt.“
„Keine zweite Chance?“ frage ich.
„Nein, keine zweite Chance“, urteilt N.
„Das musst du gerade sagen“, wirft ihm ein Mitschüler vor. Der Hintergrund bleibt unausgesprochen: N war in der Klasse verhaftet und abgeführt worden, weil er gedealt hatte. Polizei, Schule und Betrieb haben kooperiert, um zu bewirken, dass er trotzdem seine Lehrstelle behalten und seinen Irrweg korrigieren konnte. Sein Klassenlehrer E ist jahrelang über die Grenzen des Erträglichen hinaus strapaziert worden, hat ihn aber nie aufgegeben. Der Fall N ist ein Beispiel dafür, dass ein außerordentlich großes pädagogisches Engagement und Durchhaltevermögen erforderlich ist, um solchen Schülern die Zukunft zu retten.
Hat nicht auch der Kollege E einen Tinnitus?

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Nachlass statt Nachlassen

Nach den acht Stunden kehre ich ein ins Lehrerzimmer, wähnend, dort ein wenig nachlassen zu können. Da kommt mir eine unbekannte Frau entgegen: „Sie sind der Herr I?“ – ach ja, das hatte ich ganz vergessen, verdrängt: Die Mutter von K aus der X2. „Guten Tag, Frau K, schön, wir wollen mal sehen, wo wir einen Raum finden, wo wir ungestört sind.“ Im Vorbeigehen ziehe ich den Klassenordner aus dem Regal, wir setzen uns in die Bibliothek, die eigentlich gar keine ist, weil die Bücher adressatenlos aufgereiht sind und Schüler keinen Zutritt haben; die Bücherkulisse dient als Besprechungsraum.
Erstmal will Frau K wissen, warum im Zeugnis so viele unentschuldigte Fehltage stehen. Ich zeige ihr die Listen im Ordner als Beweismittel. Und wenn der Schüler nur verspätet ist, und der Lehrer ihn als fehlend einträgt? – Dann muss der Schüler nach der Stunde zum Lehrer gehen und fragen, ob der ihn als verspätet nachgetragen hat. Wenn er das versäumt, kann es sein, dass der ganzen Tag als versäumt gezählt wird. – Das kann doch nicht sein! – Doch, wenn ich mitten im Unterricht stehe, kann ich nicht immer alles unterbrechen, nur weil einer zu spät kommt. – Und woher sollen die Schüler das wissen? – Ich habe es ihnen gesagt, am Anfang des Schuljahres, dass sie darauf achten sollen. Und jetzt kommen viele an, beschweren sich über die ungerechten unentschuldigten Fehlzeiten, die im Zeugnis stehen, mit dem sie sich so schlecht bewerben können. Am liebsten würden sie sich am Ende des Halbjahres alle Fehlzeiten aufschreiben, später Entschuldigungen nachreichen und dann ein neues, bereinigtes Zeugnis bekommen. Das machen wir aber nicht mit.
Nächstes Thema: Arbeits- und Sozialverhalten. Wir begutachten die Testatbögen des K: schlampig geführt, das Sozialverhalten kritisch, das Arbeitsverhalten extrem schwankend. Die Maßnahme muss fortgesetzt werden. Zum Schluss habe ich noch eine Meldung des Kollegen HH: Der K hätte in der letzten Zeit deutlich eine Bierfahne im Unterricht. Die Mutter streitet das strikt ab: Ihr Sohn nicht, das würde sie mitkriegen. Das müsse ein anderer sein! – Ich kann ihren indirekten Vorwurf, dass der HH die Schüler so schlecht kenne, dass er den falschen beschuldigt, nicht parieren und sage, dass mir bei keinem Schüler Alkoholprobleme aufgefallen sind und dass ich Rücksprache mit dem Kollegen HH nehmen werde. Wir schütteln unsere Hände in Ungewissheit und gehen auseinander.

Nun aber rasch, ich eile zur Bahn, in der ich die Protokollliste für heute führe, zu Hause dann wieder kein Mittagsschlaf, sondern Korrektur von Chemie-Wiederholungsklausuren, die Schüler haben kaum etwas geschrieben, so bin ich nach einer guten Stunde durch, dann muss ich den Unterricht für morgen vorbereiten, aber mangels Konzentration führe ich das zu einem schnellen Ende.
Um mir wenigstens die Illusion von Nachlassen zu verschaffen, ziehe ich meine Frau vor unser Sichtgerät und werfe eine StarTrek-Folge ein: the Next Generation, das höchste Bildungsgut, was das Fernsehen je produziert hat. Das StarTrek-Gucken ist ein Ritual, das meine Frau aus Liebe zu mir mitmacht und nach vielen Folgen endlich genießen kann.
Würde sie die NG-Folgen weiterhin gucken, wenn ich tot bin? Klare Antwort: „Nein.“ – So würde ich also, wenn ich sterbe, nicht einmal bei meiner Frau eine Bildungsangewohnheit zurücklassen. Muss man als Lehrer mit all dem Bildungsfrust nicht nur leben, sondern auch sterben?

Trotz Startrek dürstet es mich vor dem Schlafen nach einem tiefgründigen Buch. Doch reicht es jetzt nur noch zu Kurzgeschichten von Hemingway; diese extrem reduzierten Geschichten passen gut zu dieser energiearmen Phase, und sie sind kurz genug, um die Schlafschwere fein dosieren zu können. In besseren Zeiten kann ich abends länger lesen, am liebsten mich in Kafka vergraben, denn die Romane Kafkas gewähren mehr als Nachlassen, nämlich eine Gnade, die jede Hoffnung völlig auszulöschen vermag.

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