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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (4)

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Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (4)

3. + 4. Stunde: 10 BFS X2

Immer noch vorstrapaziert von den Elektrikern rüste ich mich innerlich für die nächste Doppelstunde in meiner „bösen“ 10 X2. Das einzige, was dort einigermaßen funktioniert, ist das Diskutieren – wenn die Schüler am Thema interessiert sind. Immerhin können wir das im Fach PoWi gebrauchen und die Themen hin und wieder nach den Vorlieben der Schüler ausrichten. Weil aber im letzten Halbjahr u.a. die miesen Ergebnisse der Klassenarbeit die Noten runterzogen, habe ich auch hier für jeden ein Referat verpflichtend gemacht; heute sind zwei Schüler dran, von denen keiner bereit ist, vorzutragen. Ich muss aber erst die Zeugnisse ausgeben, und dann landen etliche Entschuldigungen auf meinem Pult, die ich später bearbeite, beim Verteilen der Zeugnisse bekomme ich andere Zeugnisse von Schülern zurück, die reklamieren, dass dort unentschuldigte Fehltage vermerkt sind, wie sollten sie sich denn damit bewerben?! Sie hätten ja nie unentschuldigt gefehlt, ich sollte ihnen die Zeugnisse korrigieren. Ich erwidere, sie sollten nach der Stunde zu mir kommen, damit wir das anhand der Anwesenheitslisten im Klassenordner prüfen können.
Dann frage ich die zwei eingeplanten Referenten nacheinander, wieso, warum bist du nicht bereit?! Der G ist hoffnungslos; J deutet an, dass er vorbereitet sei, aber keine Gliederung hat; wenn wir ihm Fragen stellten, könnte er versuchen zu antworten. – Also gut, besser als eine 6 wird es wohl werden. – Es reicht aber nicht, dass ich ihm das gewähre, J ziert sich, seine Kameraden müssen ihm zureden, bis er endlich einwilligt, aber dann will er lieber nicht nach vorne gehen, ich sage, wenn schon denn schon, du musst nach vorn, und nach weiterem Gezier und Nachhilfe der Kameraden stellt sich J vorn hin und wartet ab, ob etwas passiert.

Ich stelle die erste Frage: Was hast du denn für ein Thema? Basketball, sagt er. Wartet wieder ab, ob etwas passiert.
Die zweite Frage von Schülern: Was gibt es darüber zu erzählen? Wieder eine lakonische Nicht-Antwort, aber die Schüler bemühen ihn mit Nachfragen, und J kommt in die Gänge, scheinbar aus dem Nichts fängt er an zu erzählen über sein Lebensthema: Er will Profi werden, hat auch gute Chancen. Er kennt die Hintergründe, erzählt über die Bundesliga, die NBA, die Finanzierung, zeichnet ein Spielschema an die Tafel etc… Die Schüler hören zu, weil es authentisch ist, sie stellen ihm echte, interessierte Fragen, eine halbe Stunde lang findet Kommunikation statt, wie ich sie liebe, ich kann mich zurücklehnen und bin glücklich.
Zum Schluss frage ich, wie J mit seinem Vortrag zufrieden ist? Ja, J sei zufrieden, meint, mit Gliederung wäre es besser gewesen, wir bestätigen es.
Die Aufmerksamkeit hält, der Dialog ist sachlich, bis wir uns auf die Zensur geeinigt haben: eine Zwei-Minus.

Danach stürzt die Stimmung ab: Die Schüler sollen ihre Hausaufgabe vornehmen! Ich bin aber auch unbelehrbar: Wie kann ein erfahrener Lehrer Hausaufgaben erteilen? Warum erzeuge ich Verdruss? Keiner hat die Hausaufgabe gemacht, ich zücke die Notenpeitsche, als ob das einen einschüchtern würde, schreibe an die Tafel, als ob einer abschreiben und lernen würde, kündige eine Klassenarbeit an, als ob einer davor Angst hätte. Ich predige, dass mit dieser Arbeitshaltung keiner versetzt werden könne, und habe das Gefühl, dass ich mich lächerlich mache. Aber wie ein irrer Hamster finde ich keinen Ausweg und versuche den Lehrstoff durchzupeitschen.
Die Schüler indes lassen mich gewähren. Sie wissen schon, wie sie es ausgleichen: Sie sind Frühaufsteher. Mit angestrengter, schon kratziger Stimme rede ich der Klasse zu, und mitten im Satz, dass sie zu Hause lernen sollen für die Klassenarbeit nächstes Mal, — da stehen fünf, sechs, sieben Schüler auf, in ihre Jacken schlüpfend, einzupacken haben sie ja nichts; schon erheben sich auch die anderen, aber ich brülle ihnen entgegen: Die Stunde beschließt der Lehrer, wir haben noch über zehn Minuten!
„Unser Bus fährt uns weg!“
„Nein, das ist nicht euer Bus, sondern das hier ist euer Unterricht, der noch nicht beendet ist! Ihr habt euch jetzt hinzusetzen!“
Murrend setzen sie sich auf die Tische, nach weiterem Geschrei sogar auf Stühle, aber ihre Jacken behalten sie an, und die Taschen lassen sie zugepackt.
Böse schreibe ich mehr Stoff an die Tafel, der in der Arbeit drankommen soll!
Ein paar Schüler schreiben mit. Nach fünf Minuten geht mir die Kraft aus, ich spiele nur noch den Müllwächter an der Tür, durch die keiner kommt, bevor der wüsteste Müll vom Fußboden aufgesammelt ist. Fünf Minuten lang irrsinniges Geschrei, so als würde das den Müll beeindrucken, aber es klappt, pünktlich zum Ende sehe ich keinen Abfall mehr. Im Nu sind alle weg.
Als ich zum Pult zurückgehe, eröffnen sich meinen Augen neue Perspektiven: Hier und da zwischen den Tischen zurückgebliebene Chipstüten, Getränkebecher. Auf dem Rückweg zum Ausgang ziehe ich eine Pfandflasche aus dem Mülleimer. Sie ist zu einem Viertel voll.

Pause

Nach dieser Doppelstunde am Dienstag habe ich immer das Gefühl, vollkommen erledigt zu sein. Die vier Stunden, die jetzt noch folgen, erlauben mir schon, innerlich etwas nachzulassen.
Indes kommt im Lehrerzimmer ein Bote aus der Vergangenheit auf mich zu: Kollege H, der Elektro-Abteilungsleiter, bei dem die bösen Russlanddeutschen gelandet waren. Der Koll. H hatte natürlich keine Ahnung von der Vorgeschichte und hat den Schülern nur allgemein geraten, sich zurückzuhalten, „Kreide zu fressen“, um es sich nicht zu verscherzen. Leider haben wir keine Zeit für eine weitere Beratung des Falles, und so wird auch nichts weiter geschehen. Hoffentlich.

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5. + 6. Stunde: 12 FOS E0

Die Klasse 12 E der Fachoberschule: ein berüchtigter Haufen von Nichtstätern. Ich aber sehe es nicht so dramatisch. Man darf bloß keinen Humor zeigen, weil es sonst mindestens fünf Minuten dauert, bis man sie vom Witz wieder zurück zum Unterrichtsgegenstand ziehen kann. Sowieso muss man jedes Mal am besten von vorne anfangen: nichts voraussetzen, wie in der BFS. Nur zwei, drei Schüler haben ein Gedächtnis, das willens ist, chemische Sachverhalte zu speichern.
Ich frage, ob es Probleme oder Fragen gibt zum Stöchiometrie-Arbeitsblatt? Die kommt in der Arbeit vor, und darum sollten sie zu Hause weitere Aufgaben rechnen. Keiner meldet sich.
Ich weiß, dass in der Klausur über die Hälfte der Schüler nicht einmal versuchen wird, die Stöchiometrie-Aufgabe zu lösen, und darum wäre ich bereit gewesen, die Arbeit eine Woche später zu schreiben, um noch Zeit für die Übung zu haben; aber wenn sie nicht fragen, weil sie sich zu Hause nichts angesehen haben, laufe ich ihnen nicht hinterher mit meinem Angebot. Ich mache dieselben Versuche wie in der Stunde gestern, aber heute bekomme ich trotz Salzbrücke keine Spannung – gestern ging es doch noch!
„Was stimmt da nicht“, frage ich, „mein Versuch widerspricht der Theorie, also, wo liegt der Fehler, in der Theorie oder in der Praxis? Eigentlich sollte sich die Theorie nach der Praxis richten, aber bei mir ist es umgekehrt: Ich bekam als Student in der Theorie gute Zensuren, aber im Praktikum eine 4.“ Ich versuche es noch mal mit einer anderen Zinkelektrode, und das Voltmeter schlägt aus. „Da haben wir’s: Die Theorie siegt! Die Elektrode von gestern hätte ich nach dem Bad in der Kupfersalzlösung sauber schmirgeln müssen, aber ich habe kein Schmiergelpapier gefunden. Es tut mir Leid, das ist eine erbärmliche Entschuldigung.“ Manchmal frage ich mich, ob ich von den Schülern lerne, oder ob ich selbst so bin. Ich glaube, dass mich gerade die Ausreden und Verantwortungslosigkeiten der Schüler am meisten nerven, die ich von mir selbst kenne. Ich würde mich auch gern in den Chemieunterricht setzen, mich bedienen lassen, und keine Hausaufgaben machen. Genau das tat ich als Schüler. (Nur hatte ich das Glück, ein Gedächtnis zu besitzen.)
So betrachtet, sind mir viele Schüler ähnlich. Nach dem Unterricht spreche ich den H an, einen gut gestylten Hallodri, frage ihn wohlwollend, wie es eigentlich mit ihm weiter gehen soll, er würde ja keinesfalls die Prüfung bestehen, oder? – Freundlich antwortet er mir: Das mache nichts, er müsse nur die Zeit herumkriegen, bis er volljährig werde, dann gehe er zum Bund, werde Zeitsoldat… Na prima. Die Schule ist ja nicht nur zum Lernen da, und ich denke mir: Wir Lehrer sollten uns nicht so wichtig nehmen.

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