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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (2)

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Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (2)

5. + 6. Stunde: 12 FOS I2

Vor den Zwölfern, die nach dem Vorangegangenen die reine Freude sind, stürze ich mich zur Einführung in die Elektrochemie in Experimente, um zu demonstrieren, wie eine elektrische Spannung aus den Stoffen entstehen kann. Dabei amüsiert mich heimlich die Manipulierbarkeit der Schüler, wie ich sie vorführe:
„Ich habe hier eine Kupferelektrode“, raune ich, wie ein Zauberer einen Stab vor dem Publikum schwenkend. „Diese Elektrode ist mit dem Messgerät verbunden, und hier kommt eine Zinkelektrode, die an den anderen Pol des Messgerätes angeschlossen ist: Was wird passieren, wenn ich gleich beide Elektroden zusammenhalte?“
Ein erfahrener Fernsehzuschauer weiß, was passiert, und er platzt heraus: „Es macht Bumm!“ – natürlich nur im Spaß, wie alles im Fernseher.
Ein etwas intelligenterer Zuschauer antwortet wissenschaftlich: „Der Zeiger schlägt aus!“
Ich bemühe mich, ernst zu bleiben: „So, das wollen wir mal sehen.“
Ein anderer ruft noch: „Nichts passiert!“ Ich führe die Elektroden zusammen – kein Ausschlag!
„Falscher Messbereich“, weiß ein kluger Schüler.
Ich drehe alle möglichen Messbereiche durch, frage nach Strom oder Spannung, keine Ahnung? Na ja, sie sind auch Informationstechniker, sie brauchen von Elektronen nichts zu verstehen.
Der Versuch wird variiert, als zwei Schüler melden, dass Zitronen Spannung erzeugen würden. Ich hielt den Zitronen- oder Apfelversuch früher für genial, ebenso einfach wie verblüffend, aber mittlerweile fürchte ich, dass er das präwissenschaftliche Halbwissen fördert, das gefährlicher ist als Nichtwissen, da es das magische Denken nährt: Es erscheint als so wunderbar, wenn aus alltäglichen Zutaten wie aus dem Nichts Spannung entsteht. Statt mit Magie hantiere ich lieber mit Bechergläsern und exakt definierten Zutaten: Wasser, Kochsalz, Säure – dann weiß jeder, was genau es braucht, damit die Spannung entsteht.
Der Clou: Wir haben zwei Bechergläser mit unterschiedlichen Metall-Elektroden, und immer noch keine Spannung! – Nun, wer baut uns eine Salzbrücke? So macht das Experimentieren Spaß. Leider kann ich die Schüler das nicht selbst machen lassen, es sind immer zu viele, die Verordnung setzt als Obergrenze 16 Schüler, aber wo gibt es so kleine Klassen?
Nach dem Experimentieren steigen wir in die Theorie ein, mittels OHP-Folien, die Schüler fragen mal nach, und wenn sie nichts mehr zu fragen wissen, dann stelle ich Sicherungsfragen, um mich zu vergewissern, dass es alle verstanden haben. Hausaufgabe: Alles im Buch nachlesen und lernen!
Ich weiß, dass so eine Stunde wie ein Strohfeuer ist, bis zur Klausur in zwei Wochen wird davon nicht viel übrig bleiben. Dennoch bin ich beschwingt, als ich nach dem Unterricht alles aufräume.

nachmittags

13.15. Finde mich wieder im Gewusel, das auf die bevorstehende Großveranstaltung weist: Gesamtkonferenz! An die hundert Kolleginnen und Kollegen richten sich in den vereinigten Lehrerzimmern ein, um die nächste Zeit zu überstehen, denn die Konferenz wird keine Pausen haben.

[Warnung: Falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, der folgende Abschnitt bald so anödet, dass Sie lieber irgend etwas anderes machen wollen, dann spüren Sie exakt die Essenz von Gesamtkonferenzen.]

Noch eine viertel Stunde bis Konferenzbeginn, ich hole meine Erdnussbutter und dazu das Miso aus dem Kühlschrank, Teller und Messer, will mir meine Brote schmieren, aber das muss zurückstehen, da zum Protokollführen noch ein Laptop herbeizuschaffen ist, wozu ich nochmal durch die Schule latsche, dann starte ich das Teil, finde aber keine Steckdose in Reichweite, denn die vorhandene Kabeltrommel hat nur zwei Steckdosen, die schon belegt sind für das Laptop des Schulleiters und seinen Beamer. Akku-Restzeit: 3 Stunden – zu wenig. Mein Mittagessen droht auszufallen, doch ich bitte den Kollegen H, mir einen Dreifachstecker zu besorgen, und so habe ich noch fünf Minuten, um mir die Brote zu schmieren. Was mich sehr freut: Der Kollege S ist in Sichtweite, hurtig stürze ich mich auf ihn, und bin ganz gerührt, dass er, kaum dass ich drei Worte gesprochen habe, das begehrte Prüfungs-Material, das ich morgen brauche, aus seiner Tasche zieht. Trotz seiner langen Auszeit hat er mich mit meiner Lappalie nicht vergessen!
Als die Konferenz beginnt, kaue ich noch am ersten Bissen, und einen zweiten gibt’s bis auf weiteres nicht, denn die Mitteilungen, die ich zu protokollieren habe, folgen dicht auf dicht: Welches Chaos das Ministerium uns mit seiner untauglichen „LUSD“-Software aufzwingt! Obwohl die Sekretärinnen monatelang Überstunden machen, müssen etliche Kollegen einspringen, um eklatante Fehler zu umfahren – die Fehler beseitigen dürfen wir nicht. Auch nicht lustig ist, dass uns schon wieder zusätzliche Verwaltungsarbeit aufgebürdet wird, um das Versagen der LUSD auszugleichen: Die Klassenlehrer müssen Daten für die Halbjahresstatistik zusammentragen, obwohl all diese Daten längst in der LUSD drin sind – aber die LUSD ist unfähig, sie statistisch auszuwerten, obwohl sie diese Funktion längst haben sollte: Ursprünglich hieß es, dass wir diesen Frondienst nur einmal zu machen bräuchten, und jetzt ist es schon das dritte Mal.

Ich muss im Protokoll sachlich bleiben und notiere:

„Koll. G informiert über die LUSD: Der Arbeitsaufwand hat sich seit der LUSD 2007/08 verdreifacht; dagegen ist der Output defizitär. Die Perspektiven sind ungewiss. Nur durch politische Veränderungen in der Landesregierung sind Verbesserungen zu erhoffen.

[…] Die Schulformen heißen in der LUSD offiziell z.T. anders als es sinnvoll erscheint; deshalb bei Schwierigkeiten nachfragen! Es sind Listen mit Schulformen bzw. Berufen/Lernfeldern nicht nur verfügbar, sondern auch verbindlich. Einige Schulformen existieren in der LUSD noch nicht (z.B. Technikerschule).

[…] Die LUSD erlaubt keine Änderung der Gesamtnote nach Zeugnisausgabe; Fehlzeiten sollen ebenso wenig geändert werden, da dies sehr aufwändig ist!

Aufnahmedaten nach dem 1.1.1900 (sic!) können in manchen Fällen nur manuell geändert werden.“

Nach dem Einstieg in den lästigen Punkt „Fortbildungsplan“ kann ich meinem Appetit nachgeben, da nur das Ergebnis zu vermerken ist: Wir sollen beschließen, wofür wir unseren Fortbildungsetat ausgeben – letztes Jahr haben wir mit viel Planungsaufwand soviel Geld verteilt, wie uns vom Schulamt zugesagt worden war, und dann haben wir nur ein Drittel dieses Geldes bekommen. Und jetzt wiederholt sich diese Farce, jeder hat schon Wochen vor der Konferenz Anträge geschrieben, welche Fortbildungen er sich wünscht, die Fachkonferenzen haben Prioritäten beschlossen, der Kollege W wurde für eine Wochenstunde vom Unterricht freigestellt, um das ganze in akribischer Kleinarbeit zu sammeln, zu ordnen und eine Beschlussvorlage daraus zu machen, und nun werden noch einmal 100 Kollegen bald eine Stunde lang damit aufgehalten. Diese Arbeitszeit dürfte insgesamt über 20.000 Euro wert sein, und das Geld, das wir durch diese Arbeit verwalten, sind 12.000 Euro, die uns ursprünglich vom Ministerium versprochen wurden – wovon wir wahrscheinlich wieder weniger als 4000 erhalten werden.
Dann folgen Verwaltungs-, Vermögens- und Lernmittel- Haushalt von über 200.000 Euro, worüber wir uns nicht über Gebühr aufhalten, da wir wie immer dem Koll. B vertrauen, mehr noch: den wir lieben, aus vielen Gründen, unter anderem, weil er diese Zahlentabellen nicht durchreitet, sondern gekonnt sachlich-ironisch kommentiert; so dass wir die 200.000 Euro schneller verabschieden als die 12.000 Euro für Fortbildungen.
Nach zwei Stunden gelangen wir zum „pädagogischen Schwerpunkt“ der Konferenz, nämlich zur Ergänzung unseres Schulprogramms um den Punkt „Mindeststandard an Methodenkompetenz“ im Rahmen des „Basiscurriculums Methodenlernen“ und, weiter gefasst, des „hessischen Referenzrahmens Schulqualität, Qualitätsbereich VI: Lehren und Lernen, Dimension VI.1: Aufbau fachlicher und überfachlicher Kompetenzen, Kriterium VI.1.1.: Der Unterricht orientiert sich an Lehrplänen bzw. Kerncurricula und schuleigenen Curricula“, es erfolge die „systematische Implementierung der Methodenkompetenz in das Schulcurriculum“, eine Powerpoint-Folie reiht sich an die nächste, bis ich nichts mehr zu essen habe außer den vielen vielen immergleich klingenden Wörtern, technokratischen Bandwurmwörtern, die obwohl sie zur Begründung des Antrages in zweifellos guter Absicht hervorgebracht, zu Bandwarumwörtern, Bandwiedummwörtern, Brandimhirnwörtern werden, die den Geist verschwimmen, abtreten und, verwandelt in Kopfschmerz, wieder auftreten lassen. Unausgesprochen klar ist nur eins: dass dieser Konferenzpunkt keinerlei Auswirkung auf die Praxis haben wird, wir müssen nur fürs Papier absitzen, das Papier ist wichtiger als die Qualität des Unterrichts von morgen, für die es nichts schlechteres gibt als lange Konferenzen, d.h. endloses Zuhören oder zumindest endloses Aussitzen.

Als der Schulleiter endlich innehält, meldet sich keiner – zum Glück kommt es ohne Nachfragen, ohne Diskussion sofort zur Abstimmung, und ohne Widerstand wird alles angenommen: Jaja, wir finden das alles gut und richtig, die Methodenkompetenz muss sein, wir wollen ja nicht reden, nicht wehren, nur zustimmen, nur schnell, und dann Schluss, Schluss – aber: nach einstimmig eingeholtem Votum holt der Schulleiter neu aus, setzt denselben Tagesordnungspunkt fort, sein Powerpoint hat keinen Punkt, geschweige denn eine Pointe; mit der Gewalt unendlicher Laptopkapazitäten wird die Konferenz gestreckt, wird Folie auf Folie durchgezogen, denn sowohl die vorausschauende Schulleitung als auch unermüdlich tagende Fachkonferenzen und Abteilungskonferenzen haben angedacht und abgedacht, was die nächsten Schritte und Pläne zur Konkretisierung des soeben gefassten Beschlusses wären, sie werden im Detail vom Schulleiter, den wir ganz gewiss trotzdem lieben und immer lieben werden, präsentiert mitsamt der Strategie von Evaluation, ohne die ja nichts mehr geht, die bekannten Worte, Sätze, Erläuterungen, Folien, Konzepte strecken sich hin und drücken alles aus, was an dieser Schule leben sollte. Ja, doch, ja, wir sind ja alle dafür, will ich rufen, aber das hülfe nichts, der Schulleiter, der uns vor noch mehr Gesamtkonferenzen bewahrt, muss es nun einmal referieren, wir müssen es hören, und ich schweige, schweige, schweige.

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Ich mache keinen Hehl daraus, warum ich Protokollschreiber aller Konferenzen werden wollte: Gesamtkonferenzen sind keine „Konferenzen“ im lexikalischen Sinne des Wortes, dem zufolge Informationen von allen Teilnehmern zusammengetragen und beraten werden; vielmehr sind sie Vortragsveranstaltungen, zu denen keiner ein zweites Mal freiwillig hingeht, und so bedeuten sie nichts als ein Unterwerfungsritual, das die Dienstordnung vorschreibt und das bei mir charakterschwache Reaktionen provoziert: In der ersten Stunde wird meine Neugier enttäuscht; in der zweiten Stunde erschöpfen sich Aufnahmevermögen und die Nerven, und ohne eine Pause geht es weiter, in der dritten Stunde wächst meine Aggression, und in der vierten Stunde die Depression. Um meine Schwäche zu kompensieren, protokolliere ich, denn indem ich schreibe, bin ich kein Opfer mehr. Zudem vergeht so die Zeit schneller. – Glücklicherweise macht mir keiner diesen Posten streitig, im Gegenteil, unzählige Kollegen fühlen sich gerettet vor einem Damoklesschwert drohender Dienstverpflichtung, so dass vielen bange wird, wenn ich mal nicht rechtzeitig zur Konferenz erscheine. So wähnen sie sich vor dem Schwert gerettet, und wenn ich so betrachte, wie sie apathisch, grau, willenlos dasitzen: so werden sie doch alle zum Opfer noch heimtückischerer Dementoren, die den Konferenzsaal durchseuchen, indem sie alle Hoffnung, alle Lebenskräfte aus den Seelen saugen. Wenn ich den Kopf von meinem Laptop erhebe, das Reden durch mich hindurch lasse und in die dicht gedrängte Menge der Gesichter schaue, so habe ich die Kollegen noch nie so alt, so zerfurcht, so müde gesehen. So am Ende. Das zermürbende Dementoren-Vakuum zehrt auch meine Energie auf, ich weiß nicht, wie lange ich noch die Gegenkraft aufbringe, meinen kleinen Bannkreis, den Patronus in Form des Protokollierens, aufrecht zu erhalten.

17.05. Nach dreieinhalb Stunden geht auch diese Konferenz zu Ende, ohne ein Fanal, ich merke nur, dass es etwas nachlässt – die Dementoren werden abgezogen. Hätte uns die Konferenz nach zwei Stunden die Freiheit gegeben, wäre ich froh gewesen, aber jetzt kommen keine Gefühle mehr. Ich stehe mit ein paar Kollegen pinkelnd im Klo, wir wollen nur noch weg, aber ich muss erst den Laptop wegsperren, damit der nicht auch geklaut wird, deshalb verpasse ich den nächsten Zug. Also redigiere ich noch das Protokoll, drucke es aus, lege es dem Kollegen B ins Fach. Um 17.40 bin ich bei der Bahn-Haltestelle, da ich wähne, dass der Zug um 17.45 führe – böser Irrtum, ich vergaß: ausgerechnet in dieser Stunde fährt die Bahn unregelmäßig, nämlich um 17.35. Nächster Zug: 18.11.

Diesen Schlag nun verkrafte ich nicht mehr. Mir fällt nichts anderes mehr ein, als dass ich das Opfer sei.

Strafe des Wartens auf dem Bahnsteig, ich sitze auf einem Eisengitter, das eine Bank ersetzt, starre auf die leeren Gleise, denke nichts, spüre nur langsam, wie durch Hose und Jacke die Kälte dringt. So ist es, Kälte frisst mich auf, und Kopfschmerzen breiten sich aus, ich fühle mich absolut als Opfer, opfere mich für nichts, für nichts als die Pflicht, mein Leben für etwas hinzugeben, das nichts ist, nichts.
Der nächste Zug ist ein Regionalexpress, da blendet mich das grelle Neonlicht, und ich muss auch noch die Stunden-Protokolle führen: viele viele Minus-mit-Rufzeichen für die Elfer, durchwachsene Leistungen für die Zwölfer. Der RE hält leider nur am Hauptbahnhof, ich muss durch die ganze Stadt zurück fahren, durch einen Regenguss, auf den ich nicht vorbereitet bin. Nichts kann mich mehr retten; zuhause reiße ich mir Jacke und Hose vom Leib, weise meine Frau ab, die mir Essen warm machen will: „Das dauert zu lang“, fauche ich und schlinge es kalt in mich herein, die Kopfschmerzen werden gnadenlos, ich werfe mich ins Bett, meine Kraft reicht aber noch aus, um meinen Sohn anzumotzen, der an meinem PC geräuschvoll nervend Ausdrucke für sein Referat macht: Er soll aus meinem Zimmer verschwinden. Ich will meine Ruhe haben! Noch vor halb neun fliehe ich in einen unruhigen Schlaf.

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