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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Radical Conceptual“ im Frankfurter Museum für Moderne Kunst

Radikal konzeptuell – was ist das, werden sich manche fragen? Versuchen wir eine kurze Antwort.

Konzeptkunst – so lehren uns die Kunst-Weisen – hat ihre Wurzeln im Minimalismus. Der US-amerikanische Künstler Sol LeWitt (1928 bis 2007) soll den Begriff der Konzeptkunst entwickelt haben, einer ihrer Vorreiter war Marcel Duchamp (1887 bis 1968). Und was ist nun Minimalismus? Zunächst eine amerikanische Kunstrichtung als eine Gegenbewegung zur spontanen, emotionellen, zumeist abstrakten, teils auch figürlichen, von dynamischem Farbauftrag gekennzeichneten, Freiheit und Liberalismus verpflichteten Malerei des amerikanischen Abstrakten Expressionismus. Minimalismus strebt demgegenüber nach Objektivität und Klarheit, nach der Reduzierung eines Werkes auf das Grundsätzliche, auch in seiner seriellen Wiederholung.

Wie schon der Name sagt, fusst die konzeptuelle Kunst auf Konzepten und Ideen, sie erschliesst sich durch Kontextualisierung und Verknüpfung, Vorstellung und Bedeutung wie auch durch Assoziation. Ihr Verständnis setzt nicht selten eine intensivere Auseinandersetzung mit Absichten und Denken des Künstlers voraus. Sie grenzt sich, wie Duchamp formulierte, von einer sogenannten „retinalen“, also auf eine sinnliche Wahrnehmung vorwiegend durch das Auge abstellenden Kunst ab.

Folgerichtig schliesst die Präsentation „Radical Conceptual“ des Frankfurter Museums für Moderne Kunst MMK an seine vorangegangene „Yellow and Green“ an, welche den Minimalismus und die Pop-Art in den Vordergrund stellte. Wiederum zeigt das Haus verschiedene Werkgruppen aus seinem eigenen, ebenso reichhaltigen wie prominenten Bestand.

Nun aber ist Eile geboten: „Radical Conceptual“ läuft noch bis zum 22. August 2010. Wer die Ausstellung noch nicht gesehen hat, sollte sich alsbald auf den Weg in das Haus an der Frankfurter Domstrasse begeben. Und einen Vor- oder Nachmittag sollten er oder sie angesichts der Komplexität des Dargebotenen als Zeitbudget einplanen. Wir versichern: Es winkt ein reicher Lohn.

Eine spektakuläre Arbeit im Rahmen der konzeptuellen Kunst – Florian Heckers Klang-Installation „Event, Stream, Objekt“, haben wir bereits vorgestellt. Heute wollen wir, für nur ein weiteres, jedoch hoch interessantes Beispiel, den Fokus auf die aussergewöhnlichen Bilder von Alighiero Boetti richten, die sich ebenfalls im Bestand des MMK befinden.

An der Museumswand eine der Arbeiten des Künstlers, mehr als sechseinhalb Meter breit: Wie geht man damit um? Treten wir nahe heran, offenbaren sich in der grossen viele kleine und kleinste Welten, je weiter wir uns entfernen, umso mehr davon werden sichtbar. Treten wir gänzlich zurück, stehen wir vor einem kaum mehr überschau- und identifizierbaren Komplex an Farben und Formen. Natürlich ist es ebenso reizvoll, umgekehrt zu verfahren. Und wir machen bei genauer Betrachtung aus der Nähe eine merkwürdige Entdeckung: Das Bild ist nicht gemalt, sondern gestickt! Von Stickerinnen in Afghanistan, wohin Boetti eine Zeitlang jährlich reiste.

„Miniaturen des Welterlebens, gefasst in klar voneinander abgegrenzte Formen“, schreibt Sabine Sutter. „Eine Vielzahl von Geschichten lässt sich anstossen, meist sind sie inspiriert von persönlichen Erfahrungen und stets verbunden über einen Wesenskern. Jedes Emblem steht für den Einzelfall und transportiert gleichzeitig dessen ‚Idee‘ … Die Weltganzheit zeigt sich in den multiplen Erscheinungsformen des Einzelnen.“

Alighiero Boetti war einer der bedeutendsten Vertreter der aus Italien kommenden Arte Povera. Arte Povera – „arme“ Kunst – ist eine Spielart der Konzeptkunst, die vorwiegend als Objektkunst einfache, banale Materialien des Alltaglebens verwendet. Als einer ihrer prominenten Wegbereiter gilt Lucio Fontana (1899 bis 1968).

Boetti, 1940 in Turin geboren, vielseitig an Philosophie, Literatur und Musik wie auch an Naturwissenschaften interessiert, brach sein Studium an der Universität seiner Heimatstadt ab und widmete sich autodidaktisch der Kunst. Neben Lucio Fontanas Schaffen beeindruckten ihn besonders die Werke von Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze, 1913 bis 1951). 1971 reiste Boetti ein erstes Mal nach Afghanistan und beschloss, seine Arbeiten dort von afghanischen Frauen sticken zu lassen (wie auch viele andere konzeptuelle Künstler ihre Arbeiten nach ihren Vorgaben von Dritten verrichten liessen und lassen). Bis 1979 reiste Boetti jährlich in dieses Land, und auch nach der sowjetischen Invasion setzte er die Zusammenarbeit mit afghanischen Frauen fort. Sie realisierten seine Entwürfe nach einer Vielzahl formaler Vorgaben des Künstlers, konnten dabei aber in einem gewissen Umfang ihre eigenen Fantasien und Intuitionen einfliessen lassen.

Boetti war mit seinen Arbeiten in der Kasseler Documenta 5 und 7 vertreten. Er verstarb 1994 in Rom. In seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten trat der Künstler als ein Duo „Alighiero e Boetti“ auf. Er wollte auf diese Weise den Dualismus zum Ausdruck bringen, der seinen Werken innewohnt: Individuum und Gesellschaft, Ordnung und Unordnung, Unregelmässigkeit und Perfektion.

Auffällig die „Dreidimensionalität“ der – gestickten! – Werke Boettis (wir wissen um die naturwissenschaftlich begründete Unzulänglichkeit dieses Begriffs in einer alle Erscheinungen umfassenden Multidimensionalität des Universums); ihre  dadurch offenbarte Objekthaftigkeit (die uns lehrt, dass auch ein vermeintlich „zweidimensionales“ Gemälde etwa in Öl auf Leinwand selbstverständlich ein in der Raumzeit existierendes Objekt darstellt).

Noch eine zweite der gezeigten, typisch konzeptuellen Arbeiten Alighiero Boettis: Der Künstler recherchierte in mehrjähriger Arbeit die eintausend längsten Flüsse der Erde, angefangen vom Nil (der allerdings mit dem Amazonas – jeweils rund 6500 km Länge – um den Champion-Titel konkurriert) und aufgehört mit dem philippinischen Agusan mit eher bescheidenen rund 390 km Länge. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Annemarie de Sauzeau Boetti verarbeitete er seine Erkenntnisse zu einem 1000seitigen, 1977 im Selbstverlag publizierten – im MMK neben der Wandarbeit ausgestellten – Buch „Classifying the thousend longest rivers in the world“.

In dem monumentalen Stick-Bild sehen wir die schier kaum enden wollenden, mit weissem Garn auf verschieden getönte grüne Hintergründe eingestickten Zeilen mit Namen und Zahlen, jedoch in der rechten Bildhälfte durch unregelmässig eingewobene, unerschlossen-geheimnisvoll erscheinende weisse Punkte unterbrochen – Symbol für Ordnung und Unordnung, Erfassbares und sich dem analytischen Zugriff Entziehendes. Zeugnis für die aufgrund unterschiedlicher wie widersprüchlicher Erkenntnisquellen kaum jemals zu einem Ende zu bringende Recherche allein nur der eintausend längsten Flüsse dieses Erdballs – aller Vermessungstechniken und geografischen Verwissenschaftlichung zum Trotz.

„Einordnen,  Sortieren, Vergleichen oder Zerteilen sind Strategien der Weltaneignung“, schreibt Sabine Sutter weiter. „Der Versuch, für einen Moment die Zeit und somit den Lauf der Dinge anzuhalten, ein Stück Welt mit unserem Stempel zu versehen und in den Mikrokosmos unserer Lebenswirklichkeit hereinzuholen“.

„Radical Conceptual“, Museum für Moderne Kunst MMK Frankfurt am Main, nur noch bis 22. August 2010

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