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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Frankfurter Kunstverein: “Bilder vom Künstler” (4) – Manuela Kasemir

“Bilder vom Künstler” – von den sieben Positionen zum Selbstverständnis des Künstlers und den Rollenbildern der Gesellschaft vom Künstler, die der Frankfurter Kunstverein noch bis zum 17. Januar 2010 zeigt, stellen wir heute fotografische Arbeiten von Manuela Kasemir vor.

Es sind die subtilsten, intimsten, „stillsten“ der in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten, Bilder von berührender Poesie und – im wohlverstandenen Sinne – Schönheit. Sieben digital bearbeitete Fotografien umfasst die Serie mit dem Titel „Urd“. Der Name steht für „das Gewordene“, für die Norne der Vergangenheit aus der altnordischen Edda.

„Eine Esche weiss ich,
heisst Yggdrasil,
Den hohen Baum
netzt weisser Nebel;
Davon kommt der Tau,
der in die Täler fällt.
Immergrün steht er
über Urds Brunnen.

Davon kommen Frauen,
vielwissende,
Drei aus dem See
dort unterm Wipfel.
Urd heisst die eine,
die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe;
Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,
das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,
das Schicksal verkündend.“

(aus der Völuspá der Lieder-Edda des Codex Regius, Kopenhagener Königliche Bibliothek)

Zu Urd, weiss die Künstlerin, gehören Verdandi (das Werdende) und Skuld (das Werdensollende), die beiden anderen der drei Nornen; letztere stehen für Gegenwart und Zukunft. Und mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der eigenen Existenz also, setzt sich Manuela Kasemir mit den ästhetischen Mitteln ihrer Kunst auseinander. Als Medium wählt sie hier die Schwarz/weiss-Fotografie.

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(Aus: Urd, 2008, Digital C-Prints, 33 x 46 cm, Courtesy the artist, Bild: © Manuela Kasemir; Foto: FeuilletonFrankfurt)

Eine junge Frau (die Künstlerin selbst nimmt diese Rolle ein) beschäftigt sich in einem – für den Betrachter unbewohnt wirkenden – Haus. Sie trägt einen metallenen, offensichtlich leeren Eimer eine Stiege hinunter zur Haustür – den Blick auf zwei altertümlich anmutende Hausbriefkästen gewandt, die ihre Funktion durch den Briefeinwurf in der Tür verloren haben. Mögen sie dennoch Nachrichten aus vergangener Zeit bergen? Wie aus einer zweiten Welt erscheint hinter dem Glasfeld der Tür ein verschlossen nach unten blickendes Mädchen, es trägt eine mit Uniform-Brusttaschen versehene Bluse. Was hat es mit dieser wie traumhaft wirkenden Begegnung auf sich? Rätselhaft mutet der Baum im Hof an, an dem etwas zu hängen scheint, was sich auf die Distanz nicht näher erschliessen lässt.

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(Aus: Urd, 2008, Digital C-Prints, 33 x 46 cm, Courtesy the artist, Bild: © Manuela Kasemir; Nachweis: Frankfurter Kunstverein)

Wie aus einem Schlaf erwacht, noch im Morgenrock, blickt die junge Frau auf eine mit einer eigenartigen Tapete bezogene Wand des Hauses. Wir müssen sehr genau hinschauen: Geheimnisvolles ist aus dieser Tapete zu lesen. Wir erkennen Gruppen von Gesichtern in den Ästen und Zweigen, alten Stammbaum-Darstellungen ähnlich. Die junge Frau – wieder ist es die Künstlerin – beugt sich, konzentriert suchend, zu den kleinen Bildnissen hinab, um sie zu erfassen, für sich zu deuten …

In einem weiteren Bild hängt die junge Frau Wäsche im Dachboden dieses Hauses auf – oder nimmt sie sie von der Leine ab? Es scheinen Strampelanzüge für Kleinkinder zu sein – wir sind im Unklaren, für wen sie bestimmt sind oder einst bestimmt waren: für ein eigenes Kind, für sie selbst vor langen Jahren in ihrer Kindheit oder damals für kleinere Geschwister? Über ihrem Unterkleid trägt sie ein zu kurzes und zu enges Mädchenkleid, dem sie entwachsen ist. Aber warum hängt die Wäscheleine so hoch, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen muss, um sie zu erreichen, nun wiederum wie ein Kind, das zur Welt der Erwachsenen hochlangt?

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Aus: Urd, 2008, Digital C-Prints, 33 x 46 cm, Courtesy the artist, Bild: © Manuela Kasemir; Foto: FeuilletonFrankfurt

Manuela Kasemir spielt mit den Ebenen von Gegenwart und Vergangenheit, von Realität und sich mit Traumbildern vermischender Erinnerung. Aber immer geht es um die Zukunft, um ein: Was wird sein, um ein: Worauf gründe ich, damit ich werden kann. So bleibt es gleich, ob sie sich in einem realen oder fiktiven Haus ihrer Kindheit bewegt. Ob uns die Künstlerin nur ihre Reflexionen über das eigene Ich mitteilen oder ein Potential in uns wachrufen will, das uns zu solcherlei Selbstreflexionen hinleitet, bleibt uns selbst zu ergründen.

Ausserhalb des Zyklusses „Urd“, aber doch in einem engen Kontext zu ihm,  präsentiert der Kunstverein eine Vanitas-Darstellung der Künstlerin. Die Fotografie zeigt sie, wie sie unbekleidet vor einem ovalen Spiegel steht, doch der Spiegel wirft kein Bild zurück. Statt dessen erscheint auf dem dunklen Glas, einem dünnen weissen Faden gleich, wie ihn die Nornen als Schicksalsgöttinnen spinnen, der Schriftzug „I am afraid of  death“.

Zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer Linken und ihrer verdeckten Rechten hält sie parallel zu dem Schriftzug einen gleichen Schicksalsfaden – die Künstlerin selbst als Norne, als eine Allegorie jener? Nimmt sie ihr Schicksal, die Angst überwindend, in die eigene Hand?

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Afraid of death, 2008, Digital C-Print, 60 x 80 cm, Courtesy the artist, Bild: © Manuela Kasemir; Foto: FeuilletonFrankfurt

Die 1981 in Leipzig geborene Manuela Kasemir studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig zunächst Fotografie. 2006 wechselte sie in die Klasse Installation und Raum, in der sie 2008 das Diplom Medienkunst erwarb und das Meisterschülerstudium begann. Seit 2005 stellte sie ihre Arbeiten vielfach in Leipzig aus, ferner in Breslau und Wien. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Leipzig.

Manuela Kasemir überzeugt uns mit ihren Arbeiten auf einem sehr hohen ästhetischen wie fotografischen Niveau. Dieser Künstlerin möchten wir des öfteren begegnen.


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