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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Judy Ross, „Pension Rita“ und die Frankfurter Galerie Maurer

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Galerien fördern, vermitteln und verkaufen Kunst: Das ist ihre Aufgabe.  Besonders bemerkenswert und erfreulich ist es, wenn eine Galerie eine Künstlerin mit einer ebenso anspruchsvollen wie sozusagen sperrigen Arbeit, hier einer raumgreifenden Installation vorstellt, welche – in Anbetracht ihrer Komplexität und allein schon räumlichen Dimension – als solche wohl kaum als marktgängig erscheint.

Brigitte Maurer, Inhaberin der Galerie Maurer in der Frankfurter Fahrgasse, leistet sich derzeit ein solches Unterfangen. Noch bis zum 17. Oktober 2009 präsentiert sie die in Berlin lebende Künstlerin Judy Ross: neben anderen Videoarbeiten mit einer in der hiesigen Galeriemeile so noch nicht gesehenen Videoinstallation namens „Pension Rita“.

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Im Mittelpunkt dieser narrativen Installation steht Chantal, Tochter von Fräulein Rita, der Inhaberein der Pension Rita. Chantal bewohnt ein kleines Zimmer, rund zweieinhalb mal dreieinhalb Meter im Geviert, es ist durch eine schmale Tür zu betreten, das kleine Fenster öffnet den Ausblick auf JUDY’S KINOBAR, ein Etablissement von zweifelhaftem Ruf.

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In Chantals Zimmer ein Bett, darauf ein an Kindertage erinnerndes Kissen, eine Decke, etwas Unterwäsche, weitere Unterwäsche und ein abgeschmustes Stofftierchen unter dem Bett, ein mit Wäsche und Garderobe behangener Stuhl, wiederum Wäsche und Garderobe an einem Wandhaken, in einer Zimmerecke auf einem Bord ein Fernsehgerät, daneben ein kleinbürgerlicher Nippes-Flamingo, darunter auf dem Boden zerknäult eine Decke, ein Nachtschränkchen mit Lampe und Radiowecker  …

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Chantal bleibt unsichtbar und begegnet uns doch in dem kleinen Verliess auf Schritt und Tritt: ihre kalkweissen Fussabdrücke laufen vom Fensterchen zum Bett, zum Fernsehapparat und wieder zurück.

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Chantals  „Familie“ lernen wir nur über den Bildschirm des Fernsehgeräts kennen, eigentlich besteht sie lediglich aus ihrer Mutter, die zumeist am Empfang der kleinen Pension oder mit ihren Gästen am Kaffeetisch sitzt; dann gibt es noch deren Freund, ein Professor Geiger, sowie zwei tantenhaft wirkende weibliche Pensionsgäste, „gute Leute“, wie Rita betont. Rita errötet bei Professor Geigers Eintritt, seine unzweideutigen Komplimente veranlassen sie, ihm ihr Dekolleté noch ein wenig enger anzunähern. Dieser Professor ist eine verklemmte, unterwürfig wie schmierig wirkende Figur, den Blick meist vor sich hin gesenkt. Er mutet uns als ein Hinterzimmer-Arzt an, der von illegalen Abtreibungen lebt. Am Kaffeetisch ist von Chantal die Rede, ihrer Verschlossenheit, die zwei tantigen Pensionsgäste ziehen in spiessbürgerlicher Doppelmoral über sie her, man solle ihr doch mal einen ordentlichen Freund besorgen, Rita klagt, sie könne das viele Geld für Chantals ärztliche Betreuung nicht aufbringen, Professor Geiger murmelt düster, Chantal erscheine ihm heute besonders still, er werde mal wieder nach ihr sehen …

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Der dachlose Raum mit Wänden aus rohen Holzfaserplatten, innen tapeziert, erscheint betont als Kulisse, kulissenhaft auch die  Positionierung einer Projektionsapparatur an der Aussenwand. Vier synchron geschaltete Filme als Loops, jeweils mit einer Laufzeit von 3 Minuten 43 Sekunden, erscheinen auf dem Fernsehschirm, auf einer Wandfläche über dem Kopfteil des Bettes (Chantals fiktives Kelleraquarium mit zwei Walfischen zeigend), als Blick aus dem Fenster und – in Idee und Ausführung genial – als durch das Räumchen wandelnde Fussstapfen.

Die Künstlerin versteht „Pension Rita“ als „soziale Groteske“ einer der Wirklichkeit entrückten Familie, als ein „Spiel zwischen Konstruktion und Realitätsverlust“. Auf uns wirkt die Installation noch in anderer Weise bedrückend, weil sie uns an die Geschichte der über Jahre gefangen gehaltenen Natascha Kampusch und ähnliche, aus den Medien bekannte Fälle menschlicher Exzesse erinnert. Gespenstisch, wie Chantal in Gestalt ihrer Fussabdrücke zwischen Fenster und Fernsehgerät einhergeht, zum Bett schreitet und – die Füsse verschwinden – sich darauf legt. Gespenstisch, wie Professor Geiger, ebenfalls durch kalkweisse Fussstapfen vergegenwärtigt, das Zimmer betritt, sich auf das Bett zubewegt, dort innehält und seinen Arztkoffer abstellt … was wird er mit Chantal tun?

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Judy Ross arbeitet mit den Medien Sprache, Zeichnung, Fotografie, Bildhauerei, Performance, Animation und Video, die sie in raumfüllenden Installationen miteinander verknüpft. Ihr Werk ist oft von unterschwelligem Humor und feinem Sarkasmus gekennzeichnet. Ross verfolgt, wie sie schreibt, das Ziel,  „durch das Stören der eingeübten Bilder die Erwartungen des Betrachters zu irritieren und seine Sehgewohnheiten in Frage zu stellen. Ein Thema dabei ist die Unfähigkeit zur Kommunikation.“

Judy Ross, 1978 im nordrhein-westfälischen Finnentrop geboren, studierte zunächst Bildhauerei und Grafik an der Alanus Hochschule in Alfter, anschliessend Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin bei Professor Rebecca Horn und als Meisterschülerin bei Professor Stan Douglas. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, unter anderem den Förderpreis für Bildende Kunst des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie das Stipendium Graduiertenförderung des Landes Berlin und ein Erasmus-Stipendium an der Royal Danish Academy of Fine Arts in Kopenhagen. Ross war Artist in Residence im kanadischen BanffCentre und ist Gastdozentin an der Computerwerkstatt für zeitgenössische künstlerische Praxis an der Berliner Universität der Künste. Ihre Arbeiten präsentierte sie in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland sowie auf Filmfestivals.

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„Pension Rita“: Man sollte sich diese Videoinstallation in Brigitte Maurers Galerie – und ebenso die anderen dort gezeigten Videoarbeiten der Künstlerin – unbedingt anschauen. Mitzubringen sind einiges an Zeit und die Bereitschaft, sich auf die Kunst von Judy Ross einzulassen. Ein längerer Aufenthalt in Chantals Stübchen bleibt – davor sei gewarnt – nicht ohne Wirkung, besonders wenn man mit der Galeristin scherzt, ob man die Türe denn auch schliessen könne. Die Tatsache, dass der Schlüssel von aussen im Schloss steckt und wir das Sakko samt Handy zuvor leichtfertig in die Obhut der Galeristin gegeben hatten, lässt uns von dieser Überlegung alsbald wieder Abstand nehmen. Man kann ja nie wissen …

(Installation © Judy Ross; Fotos: FeuilletonFrankfurt)


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