Erinnern, Vergessen: „Album“ von Gesine Götting
Es kommt nicht eben oft vor, dass der Laudator zu Beginn einer Vernissage die zu Laudatierende für „verrückt“ erklärt oder ihr bescheinigt, das, was sie wolle, sei schlechthin unmöglich. So geschehen im 1822-Forum der Frankfurter Sparkasse zur Eröffnung der Ausstellung „Album“ von Gesine Götting. Der Laudator: kein anderer als Professor Jean-Christophe Ammann, der sein Verdikt vor dem zahlreich herbeigeeilten Publikum alsbald augenzwinkernd wieder in Frage stellte.
Jean-Christophe Ammann und Gesine Götting im Künstlergespräch (Foto: FeuilletonFrankfurt)
In der Tat, die bienenfleissige wie begnadete Zeicherin Gesine Götting präsentiert in ihrer „Album“ betitelten Ausstellung Aussergewöhnliches: zwei Werkgruppen, die eine mit Bleistiftzeichnungen, die andere besteht aus Zeichnungen mit Kugelschreiber, wobei letztere gleichsam auf ersterer aufbaut.
Ausstellungsansicht
Die Künstlerin befasst sich mit dem Erinnern und dem mit ihm geschwisterlich verbundenen Vergessen. Arbeitsgrundlagen ihrer jetzt gezeigten Werke sind Fotografien, im ersten Fall ein 20 Jahre altes Gruppenbild ihrer ersten Schulklasse. Für jede der 26 dort abgebildeten Personen fertigte Götting eine vollständige Abzeichnung mit Bleistift im Format der Fotografie, die sie ihnen zuleitete. Sie bat die Empfänger, Gesichter oder auch Garderoben, an die sie sich nicht mehr erinnern könnten, auszuradieren. 16 derart durch Radieren bearbeitete Zeichnungen erhielt sie zurück und rahmte sie. Bei den zehn nicht mehr erreichbaren ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern vernichtete sie die Zeichnungen wieder und rahmte statt dessen jeweils ein weisses Blatt. Die auf diese Weise entstandenen 26 Bilder hängte sie zu einem Tableau, das exakt der Anordnung der Personen auf der Fotografie entspricht.
Die „interaktive“, von Witz wie Intelligenz zeugende Arbeit erschreckt spätestens auf den zweiten Blick. Menschen in ihrer Kindheit, mit denen man eine wichtige und prägende Zeit gemeinsam verbrachte, an die man sich aber jetzt nicht mehr erinnern kann, werden „ausradiert“ – in aller Mehrdeutigkeit dieses Begriffes. Die Kinder rechts unten in der Abbildung besonders häufig. Aber die Ausradierung gelingt nicht vollständig: Schatten der ursprünglichen Zeichnungen deuten ihre ehemalige Existenz an, gleichsam wie gelöschte Daten auf der Festplatte Spuren hinterlassen, die eine Rekonstruktion ermöglichen. Erinnern und Vergessen sind symbiotisch miteinander verbunden. Vergessenes kann unter geeigneten Umständen wieder erinnert werden. Gesine Götting gelingt es, dieses Beziehungsgeflecht zu visualisieren.
Die zweite ausgestellte Werkgruppe umfasst Göttings Porträtzeichnungen in Lebensgrösse. Wieder greift sie auf Erinnerungsfotos zurück – dieses Mal aus dem Fotoalbum von Max Pauer, der die Galerie betreut. Sie zeigen Pauer als Kind, als Heranwachsenden, als jungen Künstler, als den, der er heute ist.
Die Künstlerin wählt als Arbeitsmittel dieses Mal den Kugelschreiber. Ein reines Schreibinstrument, in jeder Weise ungeeignet für ein künstlerisches Zeichnen. Ein vernünftiger Strich erscheint kaum zu bewerkstelligen, Korrekturen sind ausgeschlossen. Wir erinnern uns an Jean-Christophe Ammanns einleitende Worte, ein solches Vorhaben sei verrückt, ja unmöglich.
Nun ist die konzeptuelle Arbeit aber – dank der Beharrlichkeit und der überlegenen handwerklichen Fähigkeiten der Künstlerin – gelungen, Ammann bestätigt es mit sinnendem Schmunzeln. Die Wahl des Kugelschreibers als „unmöglichem“ Zeicheninstrument versinnbildlicht den von der Künstlerin erkannten Bruch zwischen dem „Momentbild des Erinnerungsfotos“ (Ammann) und dessen „Konservierung“ (Götting). Die Vergangenheit kann im Erinnerungsbild nicht heraufbeschworen werden. Und wir erinnern an Hugo von Hofmannsthals Terzinen über die Vergänglichkeit „Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen …“.
„Mai 1963“, Max Pauer und seine Mutter
„Juli 1976“, Max Pauer mit Mutter und Schwester
„März 1992“, A. R. Penck und Max Pauer
„Dezember 2008“, Max Pauer
„Durch ihre Entscheidung, den Galeristen zum zentralen Bildmotiv zu erklären“, schreibt Lena Ronte, „entsteht eine experimentelle Verschiebung der Ausgangssituation. Der Abgebildete und sein lebensgrosses Abbild befinden sich gleichzeitig in zwei grundliegend verschiedenen Situationen – Arbeit und Freizeit – in einem Raum und erzeugen ein Spannungsfeld zwischen Privatem und Öffentlichem, Vergangenheit und Gegenwart, Erleben und Erinnern“.
Gesine Götting, 1979 in Frankfurt am Main geboren, studierte von 2000 bis 2007 an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach bei den Professoren Manfred Stumpf und Heiner Blum. Aufmerksamkeit erregte sie bereits mit ihrer damaligen Diplomprüfungsarbeit, bezeichnender Weise mit dem Titel „Zur Prüfung“: Sie zeichnete die Professoren ihres Hauptstudiums als Ganzkörperporträts in Lebensgrösse, mit den Augen den Betrachter fixierend. „Die Zeichnungen“, schrieb sie dazu, „ermöglichen dem Betrachter, sich den Blicken der dargestellten Prüfer zu unterziehen … Die Lehrenden stehen vor dem eigenen Porträt und urteilen über Bestehen oder Nicht-Bestehen“.
Die Künstlerin hat die Prüfung bestanden.
Jean-Christophe Ammann (Mitte), Gesine Götting und Max Pauer in der Vernissage (Foto: FeuilletonFrankfurt)
(Bildnachweis: soweit nicht anders gekennzeichnet 1822-Forum der Frankfurter Sparkasse)