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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Urlaubsbrief aus der Türkei / 8

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Erzählung

von © Robert Straßheim

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Letztes Kapitel

In Frankfurt

Erstmal muss ich beklagen, wie die Dörrie mich enttäuscht und, unterwegs im Bus, in Not gebracht hat: Von den vier Erzählungen, die ihr Buch „Liebe“ beinhaltet, waren drei völlig ungenießbar. So saß ich die fünf Stunden im Bus nach Istanbul und konnte kaum lesen. Zara saß neben mir, hatte Bücher und wollte nichts lesen. So ungerecht ist die Welt. Wir redeten wenig, da wir alle um sechs Uhr morgens, noch nüchtern, das Haus verlassen hatten – die Frauen und das Gepäck wurden im Taxi zur Bushaltestelle gefahren, der Enişte und ich liefen durch den Ort, niemand war auf den Straßen außer Hunden, die uns anguckten, einer kam auf uns zu gelaufen, aber der Enişte zog sich die Kappe vom Kopf, schlug damit ein paar Mal heftig Löcher in die Luft, der Hund zog wieder ab, ich war froh, nicht allein unterwegs zu sein. Wir wurden herzlich verabschiedet, von Abla mit Tüten voll Pfirsichen und Börek versorgt, und es wurde trotz der Müdigkeit geredet, bis der Fahrer uns einsteigen hieß

. Träge schaukelte uns der Reisebus über die holprige Landstraße, der Sonnenaufgang bannte uns, ein zartes rotes Licht, das über die Hügel und das Meer streifte. Die Zeit verging rasch, da die Landschaft ein würdiger Ersatz für die magere Lektüre war; am Flughafen kaufte mir Zara die FAZ, für 5,50 Lira, viel zu teuer, eigentlich lese ich keine Zeitung, die FAZ schon gar nicht, aber der Stoff verfing, ich fing sofort an zu lesen, was Zara gar nicht recht war, galt es doch, dass wir uns trennen mussten! Wir verabschiedeten uns am Gate ihres Fluges nach Adana. Ich bat, dass wir uns küssten. (In der Frühe hatten wir uns nicht einmal geliebt.) Zara erlaubte nur flüchtige Wangenküsschen. Ich umarmte sie fest, hob sie zu mir empor. Umsonst, ich musste sie gehen lassen, da half auch das Winken nicht. Trotzdem winkten wir bis zum Schluss.

Keine Traurigkeit, ich las die neuesten Meldungen, Titelthema: Grass in der Waffen-SS. Welch scheinheilige Aufregung! Verdrossen suchte ich nach gehaltvolleren Nachrichten, Reportagen, aber die FAZ versteht es, jedes interessante Thema, das nicht zum Feuilleton gehört, durch ihren ökonomistischen Ansatz zugrunde zu richten. Es war mir schade um das Geld, schade um die Zeit. Wenn ich nur ein Buch gehabt hätte!

Übrigens hat mir heute ein superschlauer Kollege geraten: Mittels Internet hätte ich auf die Gutenberg-Datenbank zugreifen können, die kostenlose Downloads von Literatur bereithält. Doch verkennt der werte Kollege die Bedingungen eines Entwicklungslands: Wenn man nicht ausdrucken kann und als Bildschirm nur eine alte, flackernde Strahlenschleuder hat, verkehrt sich das Lesen bald zur Qual. Und so ließ ich ab.

Im Nachhinein betrachtet, ein Segen, denn:

„Unsere Aufnahmefähigkeit für Wissen entspricht dem Grad unserer Leere.“ (S.21)

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Demütig ahne ich, dass ich so gut wie gar nicht aufnahmefähig bin. Vielmehr geistere ich durch ein Scheinleben.

Am letzten Abend indes war das Leben lebendig: Zara hatte mich aufgefordert, eine Abschiedsrede zu halten, die sie übersetzte. Abla und der Enişte waren ganz gerührt, wir mögen uns ohne viele Worte, und der Enişte antwortete, dass unser Besuch ihn froh machte, dass er so gern mit mir reden würde, ich sollte doch Türkisch lernen! Höflich erklärte ich, wie viel Aufwand das bedeute, dass ich Sprachen ungern und schwer lerne. Ich bin weder Sprachensammler noch Weltensammler!

Ich bin nur ein beschränkter Deutscher, der mal ein wenig herausschaut, aber gern wieder heim­kehrt. Das sagte ich aber nicht. Du kennst mich ja, ich suche das Fremde nicht, außer in mir selbst. Allenfalls noch in den Fremdsprachen. Aber wenn schon lernen, dann sicher kein Türkisch. In der Türkei zu leben kommt nicht in Betracht, und türkische Fachliteratur gibt es nicht.

Später, als ich im Bett lag und schlechten Gewissens die erste Dörrie-Geschichte las, rief mich Zara zum Fernsehen, wo sie eine Bauchtänzerin bewunderten. Ich guckte mit ihnen zu und, in schönster Zara-Manier, kommentierte ich: Diese Madonna sei nicht so besonders toll, so könne ich ja selber tanzen. – „Dann tanz doch!“ forderte Zara, und vor der Familie stellte ich mich auf, schwang die Arme hoch, miaute, drehte ein paar kunstvolle Figuren, brach aber ab, da alle schallend lachten. Wir tanzten nun alle (außer dem Enişte) zu eigenen Musikcassetten und der Fernseher war aus.

Samstag

Habe mir den Pamuk vorgenommen, der für die Türkei zu schwergewichtig und zu riskant war: „Schnee“. Auf Seite 233 finde ich die Antwort auf meine Frage, die ich mir in der Türkei oft gestellt hatte: Warum sitzen diese vielen Männer tagein tagaus auf der Straße?

„Sunay, ein Schauspieler, erzählt dem Protagonisten: Auf seinen jahrelangen Tourneen durch entlegene anatolische Provinzstädte habe er gesehen, dass alle Männer dieses Landes gelähmt von Schwermut seien. ‚Sie sitzen tagaus, tagein in Teehäusern und tun gar nichts‘, erklärte er. ‚In jeder Kleinstadt sind es Hunderte, in der ganzen Türkei Hunderttausende, Millionen von arbeitslosen, erfolglosen, hoffnungslosen, bewegungslosen Schwächlingen.‘ „

Ist diese Literatur nicht hinreißend? Das war es, was mir zum Glück fehlte, sonst nichts. Ich bin so begeistert, dass ich dir den ganzen Absatz zitiere:

“ ‚Die Brüder haben keinen Anlass, auf ihr Aussehen zu achten, keinen Willen, ihr fettiges und verflecktes Jackett zuzuknöpfen, keine Energie, ihre Glieder zu bewegen, keine Konzentration, um eine Geschichte bis zum Ende anzuhören, und keinen Grund, über einen Witz zu lachen.‘ Er behauptete, viele könnten vor Unglück nicht schlafen, rauchten Zigaretten deshalb, weil sie sie umbrächten, begriffen die Sinnlosigkeit, einen angefangenen Satz zu Ende zu bringen und ließen ihn darum unvollendet, sie schauten nicht deswegen fern, weil sie das Programm mochten und sich amüsierten, sondern weil sie die anderen Gründe für Schwermut in ihrer Umgebung nicht aushielten, wollten eigentlich sterben, hielten sich aber für einen Selbstmord nicht für wertvoll genug, stimmten bei Wahlen für die schändlichsten Kandidaten der nichtswürdigsten Parteien, damit die ihnen die wohlverdiente Strafe zukommen ließen, und zögen die dauernd von Bestrafung redenden Putschisten Politikern vor, die ihnen ständig Hoffnung machten. Funda Eser war herein gekommen und ergänzte, dass sie alle zu Hause unglückliche Frauen hätten, die auf die Kinder aufpassten, von denen sie mehr als genug hätten, und die an Orten, von denen ihre Ehemänner nicht mal wüssten, wo sie seien, putzten, Tabak verarbeiteten, Teppiche knüpften oder als Krankenschwester arbeiteten und so ein bisschen Geld verdienten. Wenn es diese Frauen nicht gäbe, die das ständige Schimpfen mit ihren Kindern und ihr ständiges Weinen an das Leben binde, würden diese Millionen von unrasierten Männern in schmutzigen Hemden, ohne Fröhlichkeit, ohne Arbeit oder Beschäftigung, diese Männer, die ganz Anatolien überschwemmten und einer wie der andere aussehen, sie würden ohne Frauen ganz verschwinden wie Bettler, die in frostigen Nächten an einer Ecke erfroren, oder wie Trinker, die aus der Kneipe kamen, in einen offenen Kanalisationsschacht fielen und nie wieder auftauchten, oder wie die verkalkten Opas, die sich im Schlafanzug und in Pantoffeln zum Krämer aufmachten, um ein Brot zu kaufen und sich verirrten. […] ihre einzige Freude sei es, ihre Frauen zu unterdrücken, denen sie ihr Leben zu verdanken hätten und denen sie mit einer Liebe anhingen, deren sie sich schämten.“

Nun, was mir jetzt fehlt, ist Zara. Selbst ihre Familie habe ich lieb gewonnen. Wer kann mich schon wochenlang so ertragen? Im Kampf gegen die Leere. Jeden Tag diese pamukschen Männer vor Augen, die diesen Kampf verloren haben und nicht mal mehr nach einem Buch dürsten.

Ich habe auch keinen Mitbewohner mehr, der mir darüber hinweg hilft. Was mir hilft, ist die Uni, die große Aufgabe der Lehre, ich freue mich auf den Semesterbeginn, ich werde das Gequirl der Seminare lichten, Klarheit und Bildung schaffen!

Morgens wache ich um sechs Uhr auf, denn ich behalte die türkische Zeit in mir (eine Stunde Verschiebung), praktiziere weiterhin die 50 Minuten Stilles Sitzen; gehe dann bibliotheken, mensen, wieder bibliotheken, oder treffe auch mal ein paar Kollegen, und am Spätnachmittag habe ich einen neuen Programmpunkt: das Café beim Merianplatz, wo ich mir grünen Tee bestelle, Zeitungen lese, zweimal heißes Wasser in die Kanne nachfüllen lasse, und darauf achte, dass ich auch mal für ein paar Minuten einfach dasitze, ohne zu lesen, nur zu sitzen, zu beobachten, freundlich und wohlgesonnen, wie ein alter Mann, den Tag genießen, als wäre er der einzige Tag, bis der Hunger mich nach Hause treibt, wo ich mir Patates koche, leider mit Quark statt Patliçan.

Jeden Abend um halb acht trainiere ich mich mit Michael im Fitnessstudio, um etwas für Zara zu tun, und den Rest des Abends fülle ich mit einem guten Buch. Damit bin ich fast glücklich – wenn nur Zara hier wäre …

Zara hat mich angerufen, mit weicher, verletzlicher Stimme, wie sie mich liebt! Auch alle anderen hätten mich vermisst. Das erstaunte mich. Was vermissen sie denn an mir? Meine Verdrießlichkeit? – Nein, meint Zara, „das Lesen“ hätte keinen gestört (dabei bin ich nur verdrießlich, wenn ich nicht lesen kann); sie meinen, ich sei so ein ruhiger, höflicher Mann, zwar mit sehr „deutschen Ansichten“ (ich und deutsch!), aber „lustigen Methoden“, seine Zuneigung zu zeigen: Besonders gefiel ihnen, wie ich mit ihnen tanzte, und wie ich mich immer zum Dank vor ihnen verbeugte.

Ich entgegne, sie solle ihnen öfter mal den Fernseher abschalten, um sich meiner zu erinnern.

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Frankfurt

Lieber Markus,

du schreibst, ich hätte offener sein sollen. Mich anpassen und mich einlassen sollen. Hätte mich mal nicht als Kasselaner, sondern als Weltbürger auszeichnen sollen?

Nun, in einem hast du zweifellos Recht: Einmal Kasselaner, immer Kasselaner, daran ändern auch ein paar Jahre Frankfurt nichts. – Wozu auch? Was macht es, ob man Frankfurter, Kasseler, Kasselaner oder Kasseläner ist? Solche Geburtstitel sind ohnehin sinnlos und töricht. Allein die Bildung zählt.

Wie aber sollte ich mich bilden lassen von einer Kultur, die das Militär mitregieren und die eine Religion erstarken lässt, die die Frauen knechtet? Eine „Bildungsreise“ in eine solche Kultur mögen Sozialpädagogen unternehmen, die mit Migranten arbeiten müssen. Mich interessiert so eine Kultur nicht. Das klingt vielleicht arrogant, aber ich bestehe auf meinem Recht.

Schon übergenug plagt mich die Verworfenheit unserer eigenen Kultur, nämlich die deutsche Unkultur, einen Großteil der eigenen Bevölkerung in Armut und Unbildung verkommen zu lassen, der undemokratische Lobbyismus, die BILD-Zeitung und die Unbarmherzigkeit gegen Flüchtlinge, die Tatenlosigkeit gegen Rechtsradikale, bis sie Immigranten und sozial Schwache ermorden, und so weiter und so fort, du kennst all unsere Übel.

Nein, es war ein Zugeständnis an Zara, in die Türkei zu reisen. Freiwillig würde ich sicher keinen Staat besuchen, bei dem man immer noch die Folter fürchten muss.

Wenn nicht gleich mein eigener Geist auch Folter wäre! Wenn ich auf dieser Reise etwas gelernt habe, dann das: Wie jämmerlich mein Gedankenapparat ins Leere läuft! Und wie seine Ressentiments alle auf ihn selbst zurückfallen! Von daher bereue ich keine Zeile von dem, was ich Gehässiges gegen die Türken geschrieben habe, denn es ist das ja alles wahr, spiegelt es doch nichts anderes als mein ureigenstes Elend wider!

Das einzige, was ich bereue, ist, dass ich Zara Kummer machte, da sie glaubt, dass ich ihr Istanbul nicht hätte sehen wollen, und sie als Türkin kann nicht verstehen, dass ich meistens etwas anderes sah, nämlich: die Projektionen eines verqueren deutschen Geistes, eines spießigen Kasselaners, wenn du so willst!

Ach ja, das Leben ist schwierig. Ich habe Zara geheiratet, und zu dem Deal gehört, dass wir unsere Kulturen miteinander teilen. Von daher hast du Recht: Ich muss mir mehr Mühe geben. Ich glaube, dass mir das leichter gefallen wäre, wenn ich genug Bücher dabei gehabt hätte. Nächstes Mal ist man immer schlauer.

So, und jetzt packe ich, auf nach Kassel, wie freue ich mich auf den Bugasee! Kassel, Kassel, die Karlsaue, die Cafés der Treppenstraße, unser Bebelplatz, die Wilhelmshöhe! Ach, das versteht ihr einfach nicht.

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(Fotos: © Robert Straßheim)

Ende

(Nachwort)


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