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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Urlaubsbrief aus der Türkei / 5

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Erzählung

von © Robert Straßheim

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Fünftes Kapitel

Nächster Tag

Was für ein Frust! Alle Maßnahmen erweisen sich als unzureichend. Ich habe noch über eine Woche zu füllen und schon das vorletzte Buch angefangen, einen Novellenband von Maupassant, der arg dünn ist, auch so einfach geschrieben, dass man das Ganze, wenn man nicht aufpasst, nach einem halben Tag ausgelesen hat. Da die Stadtverwaltung des Enişte keinen Laserdrucker hat, kann ich auch keine längeren Texte aus dem Internet ausdrucken; zwar erlaubte mir der Enişte, den Tintendrucker zu benutzen, aber Zara hat recht damit, dass ich als guter Gast an der teuren Tinte sparen sollte.

Ich passe also auf, dass ich nach jeder Novelle das Buch weglege. Ich habe ja nur noch eins: Doris Dörrie, und die muss ich reservieren für die lange Rückfahrt. Deshalb habe ich die Dosis meiner Algentabletten erhöht, so dass ich wegen der stärkeren Entgiftung mehr schlafe. Morgens schlafe ich manchmal sogar bis halb acht, mittags noch mal eine Stunde. Außerdem hilft mir der Sex, wir konnten auch hier, bei aller Vorsicht, die Dosis erhöhen.

All das erbringt nicht den Durchbruch. Zara fragt mich, ob ich glücklich sei. „Ja“, seufze ich, „wenn ich genug Bücher hätte!“

Wandern solltest du“, würdest du Naturfanatiker mir entgegenhalten, „die Berge nicht nur anschauen!“

Das ist sehr deutsch gedacht! Hier aber gibt es nichts zu wandern, höchstens zu wundern: Wie Zara mir erklärt, dürften wir nicht riskieren, uns zu Fuß von der Stadt zu entfernen, wegen der wilden Hunde und wegen mancher Landstreicher.

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So muss ich damit vorlieb nehmen, die Berge vom Bügelbrett aus zu betrachten, mit der Wäscheleine davor, die mit unseren Badesachen behangen ist. Zu genießen ist die Aussicht nur, wenn es mal still ist. Entweder töten einem die Hunde den Nerv, besonders nachts, oder, noch schlimmer, die Bauern, die überall herumkrabbeln und brummen mit ihren Mini-Zugmaschinen, die auf einer Achse laufen, die vom Anhängerchen aus gelenkt werden, mit ganzen zwei Quadratmetern Ladefläche hinter dem Fahrer – wie Spielzeugfahrzeuge, aber ein Spiel mit dem Leben, da der Fahrer direkt hinter dem Auspuff in den Abgasen sitzt, doch vor lauter Stolz auf seine Motorisierung lässt er den Motor sogar laufen, wenn er parkt. Dabei dürfte nur der Besitzer eines Traktors wirklich stolz sein, denn richtige Traktoren sind eine Seltenheit, da sich die kaum einer leisten kann. Leider sind die Bauern nicht arm genug, um Esel einzusetzen. Das ist doch kein Fortschritt, statt der Tiere diese lahmen Gift- und Lärmschleudern zu benutzen. Übrigens sind Esel auch keine Lösung, du glaubst gar nicht, wie die schreien können, im Wechsel mit dem Hundegebell. Auf Dauer ist das nicht auszuhalten.

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Einen Tag später

Kannst du dir meine Freude vorstellen, als ich erfuhr, dass die städtische Leihbücherei ein Regal mit deutschen Büchern hat? Gestern stellte ich fest, dass die Hälfte davon englisch ist – leider fehlt mir ein Wörterbuch. An deutschen Büchern gibt es: Edgar Wallace, einige andere Kriminalromane, Roald Dahl und Konsalik. Kein Goethe, kein Kafka, kein Mann, keine Weltliteratur. Welch böse Enttäuschung!

Was sollte ich tun?

Wie ein Süchtiger in der Not nahm ich den Stoff, den ich kriegen konnte: Dahl und Konsalik. Mein Sachverstand wurde betäubt von einer Notiz vorn im Konsalik-Buch: „Welt-Auflage 22 Millionen“. Kann das denn schlecht sein? So nehme ich diesen Schund auf, der ganz eingängig unterhält, aber mit schalem Nachgeschmack: die Story ist konstruiert und oberflächlich, die Protagonisten sind typisiert, besitzen kein Innenleben.

Ich wechselte zu Roald Dahl, war zunächst eingefangen von der extremen Sexualisierung, dann gelangweilt: Alles auf­schneiderisch und übertrieben, vor allem mit männlichen Omnipotenzfantasien durchseucht. Nach einer Stunde höchste Zeit, es wegzulegen.

Dann versuchte ich es abermals mit dem deutschen Landser von Konsalik, der immer penetranter beweist, wie überlegen der Arier sei, wenn er auf bolschewistische Untermenschen trifft. Also, nein, das ist das übelste Brechmittel! Dann doch eher Dahls Ejakulate.

Mein Frust stößt mich darauf, wie unerbittlich mein Geist beschäftigt sein will. Ich sitze am Meer, beobachte die Brandung, doch keine Viertelstunde lang. Ich kann nicht wie die alten Männer hier den ganzen Tag sitzen, sei es auf der Straße oder am Meer. Viele unterhalten sich nicht mal. Was denken sie? Müssen wir immer denken? Nein, ein disziplinierter Geist kann das lassen. Es wäre keine schlechte Übung, die Meditation auf den ganzen Tag auszudehnen. So etwas habe ich nur einmal bei einem Wochenend-Workshop gemacht, und selbst dort wurden wir immer unterbrochen durch Mahlzeiten und Teestunden, die einen besonderen Reiz in die Veranstaltung brachten, da schöne Frauen teilnahmen, und damals war ich ja Single. Jetzt bin ich Ehemann, und so werde ich nicht den ganzen Tag an Frauen denken.

Ach, ich armseliger Mensch! Wäre ich erleuchtet, so gäbe es keine Zeit und kein Problem für mich. So aber fehlt mir die Kommunikation, kann kaum reden: mit den Nichten ein bisschen hin und her auf Englisch, viel können sie nicht, es hapert an den einfachsten Vokabeln. Mit den Älteren geht nicht mal das. Zara übersetzt manchmal einen Satz, aber eben keinen Dialog. Besonders traurig ist das in Bezug auf den Schwager, denn wir scheinen uns in vielem zu ähneln, vor allem in unserer Ablehnung Istanbuls und der Abneigung gegen überflüssige Bewegungen (inbegriffen überflüssiges Gerede), und in unserer Verpflichtung gegenüber dem Dienst. Zara berichtete mir, wie der Enişte es geschafft hat, sich als Kurde in dieser westlichen Stadt Achtung zu verschaffen: Zuerst wurde er diskriminiert, da „Anatolier“ hier für minderwertig gehalten werden; so schien ein Kurde als Direktor inakzeptabel. Der Enişte aber versah stoisch seinen Dienst – und überzeugte mit seiner Seriosität.

Stets respektvoll begrüßen wir uns – wenn wir nur reden könnten! So aber, da es aussichtslos ist, überreicht mir der Enişte Abend für Abend den Schlüssel zu seinem Büro und ich übergebe meinen Geist dem PC.

Nun, es ist Freitag Vormittag,

die Frauen wollen schon wieder nach Tekirdag fahren, um zu shoppen und am überbevölkerten Strand zu liegen. Ich werde folgen, obwohl ich weder den Bazar mag noch diesen Sand, der von vorübergehenden Füßen aufgewirbelt und vom Wind zu uns getragen wird; so verrieselt er mir die Buchseiten, prickelt im Gesicht und verdirbt das Essen. Zudem ist der Strand ein riesiger Aschenbecher, dunkelgrau vom Schmutz. Die Nachbarn rauchen ununterbrochen, und so werden wir mehrfach vergiftet. Dazu kommen alle paar Minuten diese Nervensägen vorbei, die ständig herumschreien, weil sie etwas verkaufen wollen: Simit, gebrannte Maiskolben oder Muscheln mit Zitrone. Und die Kinder schreien immer nach Anne (Mutter): Anne, Anne! Die Anne aber stellt sich taub für das Anne-Geschrei der Kinder, so dass sie um so lauter schreien.

Und warum bevorzugen unsere Frauen diesen unhygienischen Strand bei Tekirdag?

„Da kommt Wasser nicht hoch“, schwärmt Zara – was meint sie denn damit? – Dass man einen halben Kilometer weit ins seichte Wasser hinauslaufen kann. Das ist für Zara ideal zum Schwimmen, denn sie fürchtet sich im Tiefen. Also lagern wir dort. Abla hat in der Frühe Börek gebacken, und ich drehe meinen Rücken in Windrichtung, so dass ich Börek und Oliven ohne Sand genießen kann.

Der wahre Genuss liegt natürlich in der Weite und Ruhe des Meeres. Gestern schwamm ich nach draußen, ließ die letzten Schwimmer und Boote hinter mir und erblickte die springenden Fische vor mir – Delfine! Ich schwamm ihnen entgegen: ein Pärchen, das manchmal nacheinander aus dem Wasser sprang. Doch als ich wieder zurückkehrte, waren die Frauen aufgeregt – nicht, weil sie Angst gehabt hätten, dass mir da draußen die Kraft ausginge, sondern wegen der Haifische. Angeblich seien im Marmarameer Haie gesichtet worden, und deshalb würde keiner mehr so weit rausschwimmen. Aber gefressen worden ist wohl noch niemand.

Ich weiß nicht, ob ich das Schwimmen noch genießen kann. Hier wird einem alles verleidet. Haie – so ein Problem muss man doch in den Griff bekommen: Warum setzen die nicht ihre Marine ein, die müsste doch froh sein, wenn sie etwas zu tun hat.

Gestern Abend kam Zara mit einer weiteren Hiobsbotschaft zu mir ins Büro: Am Samstag wolle uns der Enişte etwas Besonderes bieten. Er hatte von Zelal und den Kindern gehört, dass wir ihnen viele Ausflüge und Museumsbesuche beschert hatten, als sie uns in Frankfurt besucht hatten. Nun wolle er sich revanchieren: Ein Ausflug auf die asiatische Seite des Marmarameers. Ein Bekannter werde uns fahren.

Bestürzt warf ich mich in den übermächtigen Ledersessel, ließ mich einsinken, dann hielt ich mit Zara Krisenrat: Wir diskutierten, ob wir diese Einladung annehmen müssten – für Zara keine Frage: selbstverständlich wolle sie mitfahren. Für mich sehr heikel; es galt, sorgfältig abzuwägen. Was gibt’s dort zu sehen? Eine Gedenkstätte für den Sieg über die Engländer und einen Sandstrand. Dafür eine Autofahrt und die Fähre – ich studierte die Landkarte und schätzte die Fahrzeit auf zweimal zwei Stunden. Bin ich verrückt, so eine Strapaze auf mich zu nehmen? Vier Stunden in einem überfüllten Auto? Mit einem türkischen Fahrer? Niemals! Aber wäre der Enişte beleidigt?

Zara meinte, das wäre nicht so schlimm, er meine es nur als Angebot. – Mein Entschluss stand fest. – Zara aber gab nicht so schnell nach. Sie wollte mitfahren. „Das kannst du ja machen. Ich bleibe lieber hier.“ Die Idee, dass wir uns trennen, lag ihr fern. Ich musste es ihr verdeutlichen: „Ich fände es schlimm genug, wenn du verunglückst. Ich will nicht auch sterben.“

Samstag

Sie sind weg. Wie gern winkte ich ihnen nach, den Schlüssel zum Büro in der Tasche!

Sogleich schloss ich mich ein, warf den PC an. Den Vormittag bin ich sehr produktiv gewesen, will sagen restlos glücklich – während die anderen im Auto schwitzten.

Nun sitze ich gemütlich auf meinem Balkon, die Patates kochen schon, werde gleich Patliçan aufsetzen, die ich am liebsten jeden Tag essen würde: diese kleinen Patliçan sind entzückend, viel aromatischer als alles, was man in Deutschland kaufen kann.

Es ist ein Festmahl gewesen: Patates, Patliçan, dazu Yoghurt und Peynir, alles so einfach und vortrefflich (der Yoghurt hat 10 % Fett, so vermisse ich den Schmand nur wenig). Mein Bauch ist übervoll, so werde ich nun zum Strand gehen, die Steine unter mir spüren, mich so betten, dass sie nicht drücken, schlafen, in die Wellen tauchen, ein bisschen schwimmen, Sonne aufsaugen, nachschlummern, keinesfalls lesen, damit mein Verlangen nach dem Büro wächst, bis es gegen Sonne und Meer siegen wird, und nach ein, zwei Stunden werde ich wieder am PC sein, in der Musik, in der Arbeit. Mein schönster Tag des Jahres!

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(Fotos: © Robert Straßheim)

(Sechstes Kapitel)

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