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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Urlaubsbrief aus der Türkei / 4

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Erzählung

von © Robert Straßheim

(Erstes  Kapitel)   (Zweites Kapitel)   (Drittes Kapitel)

Kapitel 4


Nächster Tag

Abermals war unser Strand ungenießbar. Naja, erstmal war es amüsant. Wie immer hat Zila den herumliegenden Müll eingesammelt – ich achte sie hoch für diesen freiwilligen sozialen Dienst; Zara dagegen verspottet sie. Klar: Türkinnen haben ihre Wohnung sauber zu halten.

Jedenfalls, wir lagerten zwei, drei Stunden ganz leidlich über den Steinen, gepolstert mit allerlei Tüchern und Kissen. Ich brachte eine Plastiktüte mit aus dem Wasser, und nun musste Zara auch mich anfauchen. Zila dagegen liebte mich dafür. Wie leicht man Kinder glücklich machen kann, und wie man dabei selber glücklich wird!

Dann setzte der Krawall ein. Nicht genug damit, dass sie eine neue Fahne haben, die rot in den unschuldig blauen Himmel sticht. Nein, sie muss auch geehrt werden. Eine Blaskapelle schmetterte, dann dröhnte eine martialische Stimme aus den Großlautsprechern, um den versammelten Männern und allen, die es nicht hören wollten, die rechte Politik beizubringen.

Nach Hause geflohen, gerieten wir unter Ablas Putzbefehl. Die Schonzeit ist vorbei. Eigentlich stehen nur die Kinder unter ihrem Kommando, aber wie können wir zuschauen? Zara räumte ihre Klamotten auf, ich fuhrwerkte mit dem Staubsauger. Jetzt bekommen wir zur „Belohnung“ Fisch, den Zelal nebenbei gegrillt hat. Das fürchterliche Kohlenfeuer, das sie auf dem Balkon entfachte, wollte sie mir anvertrauen – da ich sowieso dort sitze, könnte ich auch die Fische nebenbei wenden? Doch wie sollte ich es auf dem verräucherten Balkon aushalten? Ich habe den Auftrag zurückgewiesen mit der Begründung, dass ich noch nie gegrillt habe, und bin auf den Südbalkon ausgewichen, wo es eigentlich zu heiß ist. Nein, mit dem Grillen will ich nichts zu tun haben, du weißt ja, ich bin ein Feind dieser kanzerogenen Unsitte, die jede Nahrung umbringt.

Aber ich fürchte, meine Widerstandskraft ist für heute erschöpft. Ich werde den Fisch wohl essen.

Nächster Morgen

Die Mädchen und Frauen packen und schminken sich und reden!

Um nicht zu ungehalten zu werden, nutze ich die Wartezeit für deinen Brief. Warum soviel Schönheit? Wir wollen nach Tekirdag, zum Bazar, denn der hiesige Bazar ist den Frauen zu klein. Mir ist das willkommen, denn ich hoffe auf eine deutsche Zeitung, auf dass meine Lesenot gelindert werde. Heute morgen habe ich mir verordnet, die tägliche Meditation auf 50 Minuten zu verlängern. Tatsächlich habe ich es dadurch geschafft, dass Zara schon wach war, als ich fertig meditiert hatte; so muss ich zumindest die Lücke am Morgen nicht mehr mit Lesen oder Schreiben füllen, sondern kann mich von Zara ins Bett ziehen lassen. Ob wir allerdings auch im Bett bleiben können, hängt davon ab, ob Zara sich ihren Leuten zeigt. Sobald sie aufsteht, ist sie für mich nicht mehr exklusiv, sondern Allgemeingut für die ganze Familie, die für die ganze Nacht darauf verzichten musste, mit ihr zu reden. Entsprechend hungrig stürzen sich alle mit Worten auf sie.

Mich verschonen sie ebenso wenig. Ach, ich mag es ja, ohne die Frauen wäre ich ein alter Griesgram. Wie sie mich aber umtänzeln, küssen und belachen! Zila hat mir einen Zopf gebunden, zahm und brav ließ ich es geschehen. Es kribbelte unter meiner Kopfhaut, ich genoss es. Als sie fertig war, lehnten sich Dila und Zila links und rechts an meine Schultern und jede küsste eine Wange – Zara musste das fotografieren. Warum verhätscheln sie mich? Es ist so eine natürliche Unschuld dabei, dass es passt, wenn wir sie „die Kinder“ nennen.

Einige Tage später

Du täuschst dich, wenn du glaubst, nur weil ich drei Tage lang nichts geschrieben habe, hätte sich alles zum Guten gewendet? – Keineswegs. In Tekirdag suchten wir vergebens nach deutschen oder englischen Zeitungen. Die Touristen dort sind keine Ausländer, sondern Türken, die sogar die Steinstrände fast lückenlos mit widerwärtigem Zigarettenqualm und überdrehtem Gerede füllten. Als ich allein ins Wasser ging, sprach mich ein Türke an: Woher ich denn käme? Er berlinerte. Normalerweise flögen deutsche Touristen an die Südküste, sagte er, denn am Mittelmeer sei es viel heißer. Wir wurden uns schnell einig, dass das Marmarameer milder und genießbarer sei.

Ich glaube, dass die Deutschen aus einem anderen Grund nicht hierher kommen: Es gibt hier nichts als das Meer; keine antiken Ruinen, keinen Wasserfall, keine Sicherheit beim Wandern. Das aber sagte ich dem Türken nicht.

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Zara, die uns aus der Ferne beobachtete, sorgte sich, dass ich Ärger bekäme, weil ich eine viel zu kurze Badehose trug – nicht diese halblange Mode beziehungsweise Moral, wie sie hier üblich ist. Die Frauen haben mehr Möglichkeiten: Bikinis, Badeanzüge oder ganz fromme Ganzkörperanzüge mit Kapuze. Es sieht lustig aus, wie sich diese Musliminnen so zugekleidet in die Fluten begeben: Der Anzug lässt die Luft nur langsam entweichen, die Haut bläht sich auf und ohnehin dicke Frauen verlieren dann jedes Maß. Trotz der mitgenommenen Luft schwammen sie nicht; sie planschten mit den Kleinkindern.

Überhaupt sind die Türken ängstliche Wassergänger; die meisten können gar nicht schwimmen, andere schwimmen nur unwesentlich über die Bojen hinaus. Gerade das liebe ich: Hinter der Linie fangen erst Freiheit und Erholung für mich an, all das lärmende Volk lasse ich im Seichten hinter mir und habe nichts als Tiefe und Weite und Meer vor mir. Natürlich wär’s nachts noch erhebender: den gestirnten Himmel über mir!

Zara ahnt von solchen Idealen nichts. Sie wäre lieber am Mittelmeer: Dort könnte sie ihre Brüste bräunen; dass man dort sogar im Schatten schwitzt und im brühwarmen Mittelmeer keine Linderung findet, schreckt sie nicht.

Zurück zur Hauptsache. Wirksamere Maßnahmen sind erforderlich geworden, seit das vierte Buch ausgelesen ist:

Erstens: Mit Zara habe ich verabredet, dass wir uns jeden Tag mindestens eine Stunde Zeit für uns allein nehmen, und zwar nicht erst im Bett. So waren wir gestern Tee trinken gegangen – was erst gelang, nachdem ich Zara recht unhöflich aus der Familie herausgezerrt hatte. Zum Strand, zu volkstümlichen Cafés: Plastiktische, Plastikstühle unter Plastikplanen oder Bäumen, Blick aufs Meer, das aber die wenigsten würdigen, weil sie miteinander reden oder mit den Spielsteinen des Cafés stundenlang Okey (Rummikub) spielen. Was es nicht gibt, ist genießbarer Tee. Notgedrungen bestellten wir Pommes, saßen nebeneinander, schauten uns an oder das Meer und brachten eine Unterhaltung in Gang. Das geht nicht ganz leicht, wie du weißt, dränge ich niemandem meine Geschichten auf, man muss mich fragen, nicht oberflächlich, sondern interessiert, aber Zara fragt nicht viel, wie auch, sie ist ja gewöhnt, dass alle ungefragt reden, ohne Unterlass, und wenn ich mich nicht aufnötige, hält sie mich für schweigsam oder langweilig.

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Zweitens: Die wichtigste Maßnahme verdankt sich dem privilegierten Status des Enişte: In den Amtsräumen befinden sich mehrere Computer, sogar mit Internetzugang, wenn auch stark gebremst. Und: Der Enişte, der Direktor, erlaubt uns Zugang und Nutzung nach Feierabend! – Nun, ich bin sehr zufrieden! So arbeitete ich von Freitagabend bis Sonntag­nacht am Bildschirm, formulierte die Skripte für die Uni aus; ich glaube, dass es ganz gut wird. So bin ich hier zum ersten Mal vollkommen glücklich gewesen, ungestört mit dem PC, einem Kanister Wasser, einem Klohockloch. Zum Essen werde ich abgerufen, was ich mir gerne gefallen lasse, zumal ich sicher bin, dass Patates für mich bereitstehen (als Ersatz für das gräuliche Ekmek, das heißt Gummibrot, denn unser deutsches Vollkornbrot ist schon lange aufgezehrt).

Heute, am Montag, muss ich wieder vor dem Papier sitzen, habe kein Flimmern vor mir, sondern die Olivenhaine und Weinfelder und das ganze Zeug, das noch zur Landschaft gehört. Ich weiß jetzt, warum ich keinen türkischen Wein kannte: Gestern früh gegen sechs Uhr erwachten wir von horrend lauten Zweitaktmotoren, die sich die Feldarbeiter zusammen mit der Giftbrühe auf die Rücken gepackt hatten, um sich selbst und den Wein zu vergiften. Auch die Verarbeitung des Weins ist suspekt, denn es gibt hier keine Winzer, sondern nur Weinfabriken und Tanklaster. Nicht nur in Istanbul, selbst auf dem Land ist der Giftkonsum normal. Gestern bemerkte ich spät abends einen sonderbaren Geruch, da mahnte der Enişte, die Fenster zu schließen: Die Straßen wurden mit Insektizid eingenebelt. Mücken und Fliegen haben wir trotzdem.

Meine Träume sind glücklich: aus der Kindheit, zum Beispiel von der Freude des ersten Schultags nach den Ferien, da ich alle Leute wiedersehen konnte. Heute will ich mich wieder mit Zara verabreden (am Wochenende haben wir damit pausiert, da ganztägiger PC-Zugang). Mal sehen, ob ich ihr etwas aus der Kindheit erzählen kann. Wenn sie nur fragen würde!

Zara küsst mich, fragt, wem ich schreibe?

Immer noch Markus, sage ich, und sie staunt: „Immer noch nicht fertig!“

Ja, das Leben geht doch weiter, also schreibe ich.

Einen Tag später

Die anderen waren noch nicht aufgestanden (außer dem Enişte schlafen sie alle lang); nach dem Stillen Sitzen fand ich Zara erwacht im Bett vor, sie bat mich, sie zur Toilette zu geleiten. Warum konnte sie nicht allein gehen? Ich sollte sie hinter meinem Rücken verstecken (wir haben keinen Flur, sondern das Wohnzimmer ist Durchgangszimmer überall hin, und dort schlafen die Nichten). So stahl sie sich an den schlafenden Ungeheuern vorbei – wären sie wach geworden, hätte ihr Geplapper Zara eingefangen und unseren schönen Plan zunichte gemacht. Auf dem Rückweg waren Zilas Augen schon aufgeschlagen und auf mich gerichtet, so musste sie auch Zara hinter mir entdecken, aber bevor Zila sich berappelte und Worte hätten hervorsprudeln können, huschten wir vorüber und schlüpften in unser Schlafzimmer. Wir nahmen das Risiko in Kauf, und es ging gut: Wir konnten noch eine Stunde im Bett genießen. Eine effektive Maßnahme zur Verhütung des Lesens!

Während unserer Teestunde berichtete mir Zara:

Dila hat Liebeskummer. Ihr Freund, ein Bäcker, stamme aus einer streng religiösen Familie und wolle Dila heiraten; dafür darf sich Dila nicht normal anziehen, darf nicht allein ausgehen – jeder sieht, wie dieser Muselmann sie kontrolliert und unterdrückt. Zila sei davon so abgeschreckt, dass sie Single bleiben wolle. Dila sei sogar willens, ihr hervorragendes Informatikstudium wegzuwerfen, um als Lehrerin zu arbeiten. Vom Lehrerinnengehalt kann zwar keine leben, aber dieser Beruf ist dermaßen unbeliebt, dass sie sich den Dienstort aussuchen, also in der Nähe ihres Geliebten gelangen könne! Jeden Tag telefoniere sie heimlich mit ihm, obwohl die Eltern ihr die Beziehung verboten haben. Gestern, als Dila mit ihrem Handy auf den Balkon ging, um zu telefonieren, bestieg Zelal im Bad einen Hocker, um das verdächtige Gespräch durch das geöffnete Oberlicht abzuhören; hinterher gab es ein Drama, da herauskam, dass Dila den Sunniten immer noch heiraten will. Zara nahm sich Dila an, ging mit ihr allein spazieren, redete ihr gut zu, sie kenne diese Zwickmühle: „Du schläfst mit einem Mann, merkst später, dass er nicht der Richtige ist, denkst aber, du müsstest ihn heiraten, weil deine Ehre nicht anders zu retten wäre.“ Dila habe Angst. Zara fragte sie, was sie machen würde, wenn ihr Vater diese Eheschließung verweigert? – Dann würde sie nicht heiraten. Welche horrenden Probleme diese Kultur erzeugt und wie einfach die Lösung sei!

Zara und ich sind uns schnell einig gewesen – was mich immer wieder erstaunt. Ihre Generation hat eine Emanzipation erreicht, die jetzt wieder bedroht wird. Übertriebene Formen von Religiosität drängen Freiheit und Fortschritt zurück. Warum sind die Menschen so streng religiös? Wegen des Hasses auf die Amerikaner? Wir begreifen es nicht.

Jetzt brutzeln meine Bratkartoffeln auf kleiner Flamme, in einer zweiten Pfanne habe ich Patliçan (Aubergine), mein Leibgericht; Dila und der Enişte essen meine Bratkartoffeln gerne, sie wissen die Qualität meines langsamen Bräunens zu schätzen. Wenn meine Kartoffeln länger als eine halbe Stunde auf dem Herd stehen, handle ich mir den Spott von Abla und Zara ein. Für sie zählt nur das hitzige Braten, bei dem es schneller schwarz als gar wird; sogar gekocht wird mit einem Übermaß an Feuer, warum, weil sie glauben, je mehr Dampf, desto schneller werde es gar. Trotz meiner Aufklärungsversuche ignorieren sie die physikalische Binsenweisheit, dass Wasser bei Atmosphärendruck nicht heißer als 100° werden kann. Andererseits schaltet Zelal überflüssige Lampen im Wohnzimmer ab, klagt, dass der Strom so teuer sei. Ich schlug ihr vor, das Wasser zum Spülen mit Gas zu erwärmen anstatt elektrisch, aber sie meinte, Gas sei genauso teuer. Ich konnte nicht herausfinden, was sie mit dieser Gleichheit meint: gleiche Kosten pro Joule (ich bezweifle, dass sie die Äquivalente von kWh in m³ umgerechnet hat) oder, was mir eher so schien: gleicher Rechnungsbetrag? Aber es geht hier ja gar nicht um Rationalität: Ich kritisierte, dass sie, wie es hier üblich ist, das Wasser für den Çay stundenlang verkochen lässt (per Gas) anstatt es in eine Thermosflasche zu füllen oder zumindest die Flamme so zu drosseln, dass es nicht so arg sprudelnd kocht. Zelal stimmte bei, aber heute morgen züngelten die Flammen wieder an den Wänden der dampfenden Teekanne empor. Auch Zaras Schwester Rojda, die im allgemeinen noch sparsamer ist, verschwendet doppelt: Da ihre Teekanne viel kleiner ist als ihre elektrische Kochplatte, gehen 50 % der Energie verloren, und 90 % werden durch unnötig langes Kochen verheizt. Es handelt sich anscheinend um eine tief verwurzelte Unvernunft, vergleichbar mit dem Bleifuß des Autofahrers. Was ließe sich durch vernünftiges Kochen an Energie einsparen! Wie können die Frauen Physik in der Schule lernen und im Leben verachten!

Ich rege mich auf. Warum? Die Fehler der anderen stoßen einem immer auf. Was sind wir Deutschen erst für Verschwender! Ich fliege und halte mich für vorbildlich …

Ich mache mir zu viele kleine, unnütze Gedanken, die quälend werden, wenn ich sie nicht abstelle. Das kommt davon, wenn der Geist unterbeschäftigt ist.

Das Wesentliche ist: Ich freue mich, dass dem Enişte schmeckt, was ich brate.

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(Fotos: © Robert Straßheim)

(Fünftes Kapitel)

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