Jürgen Todenhöfer im Frankfurter Presseclub
oder: Des Kaisers neue Kleider
Manchen mag sie nicht so recht gefallen haben, die Neujahrsbotschaft von Jürgen Todenhöfer im Frankfurter Presseclub. Sie lautete: Machen Sie es nicht so wie die Menschen in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, sondern haben Sie den Mut, auszusprechen, was Sie mit Ihren eigenen Augen wirklich sehen. Loben Sie nicht deren prächtige Gewänder, wenn Herrscher, Politiker oder Banker-Manager in Wirklichkeit „nackt“ vor Ihnen stehen.
Wir erinnern uns: In dem Märchen fallen der gesamte kaiserliche Hof und das Volk auf zwei Betrüger herein, die vorgeben, prächtige Kleider zu weben, die nur von Würdigen und Klugen gesehen werden können, nicht aber von Unwürdigen und Dummen. Die gesamte Gesellschaft verstrickt sich daraufhin in Eitelkeit, Leichtgläubigkeit und unkritischer Akzeptanz angeblicher Autoritäten und Experten in eine grosse Lebenslüge.
Jürgen Todenhöfer: 1940 in Offenburg geboren, promovierter Jurist und Staatswissenschaftler, langjähriger Richter, knapp zwanzig Jahre lang für die CDU Mitglied des Deutschen Bundestages und dort entwicklungs- und abrüstungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, bis 2008 Stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Hubert Burda Media-Konzerns, Ehrenoberst der US-Army, intimer Kenner Afghanistans, engagierter Kritiker der US-Feldzüge gegen dieses Land und gegen den Irak, erfolgreicher Buchautor. Auf Einladung des Frankfurter Presseclubs hielt er die Festansprache zu dessem Neujahrsempfang, die er mit Andersens Märchen einleitete.
Wie es „in Zeiten wie diesen“ (beschönigender Slogan aus der hessischen Politszene) nicht anders sein kann, bildete die weltweite Finanzkrise und deren Genesis einen Schwerpunkt seiner Ausführungen. Todenhöfer legte dar, wie diese Krise nicht schicksalhaft über die Welt gekommen ist, sondern von (Zitat) „skrupellosen“ Finanzmanagern mit zum Teil „hoher krimineller Energie“ verursacht wurde, gegen jedwede durchaus vorhandene bessere Einsicht in die finanzwirtschaftlichen Abläufe und deren Konsequenzen beim unausweichlichen Platzen der von der Finanzwelt selbst erzeugten „Blasen“. Alle jene Manager, die sie stützenden Politiker, aber auch das leichtsinnige Anlegerpublikum hätten wie in Andersens Märchen „des Kaisers neue Kleider“ niemals gesehen und diese dennoch beschworen. Warner vor dieser Entwicklung habe es genug gegeben. Wir führen hier – nur als ein Beispiel von vielen – den Ökonomen, Moralisten, Autor und Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2008, Paul Krugman, an, der frühzeitig die radikale Deregulierung der Finanzmärkte mit den absehbar katastrophalen Folgen geisselte.
Das zweite Thema des Ehrengastes war seine bekannte kritische Position gegenüber den militärischen Aktivitäten der westlichen Welt in Afghanistan und im Irak, aber auch denjenigen des Staates Israel etwa im Gazastreifen mit allen ihren „Kollateralschäden“. Jede im Zuge solcher Kriegshandlungen getötete unschuldige Familie, jedes getötete unschuldige Kind in der arabischen Welt, mahnte er, würden Anlass zu neuen terroristischen Gewalttaten geben.
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Um die Erinnerung aus alten Kindertagen aufzufrischen, hier noch einmal Hans Christian Andersens altbekanntes Märchen in einer gekürzten Fassung:
Hans Christian Andersen (1805 bis 1875), 1867 fotografiert von Thora Hallager
Des Kaisers neue Kleider
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, dass er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Garderobe!“
Eines Tages kamen zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, dass sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verstanden. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.
Das wären ja prächtige Kleider, dachte der Kaiser; wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muss sogleich für mich gewebt werden! Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.
Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.
Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind, dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, dass keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne. Er glaubte zwar, dass er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wussten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.
Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden, dachte der Kaiser, er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!
Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger sassen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. Gott behüte uns, dachte der alte Minister und riss die Augen auf. Ich kann ja nichts erblicken! Aber das sagte er nicht.
Beide Betrüger baten ihn näher zu treten und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme, alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureissen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. Herr Gott, dachte er, sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!
„Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der eine von den Webern.
„Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst“ antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses Muster und diese Farben – ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt!“
„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch.
Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold zum Weben. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.
Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er guckte und guckte; weil aber ausser dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen.
„Ist das nicht ein ganz besonders prächtiges und hübsches Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war.
Dumm bin ich nicht, dachte der Mann; es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muss man sich nicht merken lassen! Daher lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist ganz allerliebst“ sagte er zum Kaiser.
Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.
„Ja, ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. „Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?“ und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, dass die andern das Zeug wohl sehen könnten.
Was, dachte der Kaiser; ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte. „Oh, es ist sehr hübsch“, sagte er; „es hat meinen allerhöchsten Beifall“, und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus als alle die andern, aber sie sagten gleich wie der Kaiser: „Oh, das ist hübsch!‘ und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei dem grossen Feste, das bevorstand, zu tragen.
„Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und taten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit grossen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Sieh, nun sind die Kleider fertig!“
Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst, und beide Betrüger sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider, hier ist das Kleid, hier ist der Mantel!“
„Ja!“ sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da.
„Belieben Eure Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen“, sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem grossen Spiegel anziehen!“
Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzogen, die fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.
„Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!“ sagten alle. „Welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!“
„Seht, ich bin ja fertig“, sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ Und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte.
Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fussboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.
So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen.
„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.
„Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: Nun muss ich aushalten. Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.