Tiahuanaco
Fahrt nach Tiahuanaco – Von Peru nach Bolivien
Text und Fotografien: © Ingrid Malhotra
Ein Katzensprung, sollte man meinen. Schliesslich sind die beiden Länder Nachbarn. Sicher, es wird nicht ganz so einfach sein, wie von Deutschland nach Frankreich zu fahren. Schliesslich schaffen Grenzformalitäten dringend benötigte Arbeitsplätze – und auch Einnahmen. Aber ein Problem sollte es eigentlich nicht geben.
Denkt man.
Und wundert sich bei Durchsicht der Reiseunterlagen im Flugzeug nach Lima, warum der Veranstalter, der sonst grossartige Arbeit geleistet hat, mich am Titicaca-See dazu verurteilt hat, zwei Touristeninseln anzuschauen, die sich dadurch auszeichnen, dass auf der einen Schilfboote gebastelt werden und auf der anderen es strickende Männer und webende Frauen gibt.
Sicher hochinteressant. Aber um so etwas zu sehen, setze ich mich doch nicht zehn Stunden in einen Bus und fahre auf über 4000 m Höhe.
Wenn ich schon einmal da oben bin, will ich Tiahuanaco sehen!
Also setze ich nach der Ankunft in Lima Himmel und Hölle in Bewegung, damit man mir einen Ausflug nach Tiahuanaco verschafft.
Die örtlichen Büros haben sehr gejammert: es sei so schwierig, und es sei doch ein anderes Land, und es würde extra Geld kosten, und sie hätten keinen Führer für Bolivien, weil die Bolivianer das nicht erlauben würden.
Aber es nützt alles nichts – ich bin stur wie ein Panzer. Und bei der Ankunft in Puno, einer bemerkenswert hässlichen kleinen Stadt am Titicaca-See, erfahre ich, dass es geklappt hat und ich am nächsten Morgen nach Tiahuanaco fahren kann.
Plaza de Armas in Puno
Meine neue Führerin kommt mit. Sie ist ganz stolz darauf, dass sie als erste in ihrer Familie studiert hat: Deutsch, ein ganzes Jahr lang.
Man merkt’s.
Zeitig am nächsten Morgen geht es los. Wir fahren mit dem Auto teilweise am See entlang,
teilweise durch malerische kleine Ortschaften, sehen Bauern mit Holzpflügen, Lamas, Rinder, Flamingos (recht unerwartet!), gewaltige spanische Kirchen mit viel Gold im Innenraum und kommen schliesslich zur Grenze.
Dorf am Titicaca-See
Bauer mit Holzpflug
Es ist tatsächlich ein bisschen komplizierter.
Erstens einmal giesst es in Strömen.
Zweitens muss ich nicht nur aussteigen, sondern darf auch nicht mit dem Auto weiterfahren.
Drittens muss ich angeben, dass meine Führerin eine gute langjährige Freundin ist, die mir die Schönheiten Boliviens zeigen will – sonst wird sie eingesperrt. Sagt sie.
Die Grenzformalitäten sind langwierig und umständlich. Wenn es nicht so kalt wäre, könnte ich glauben, in Indien gelandet zu sein. Hier in eine vergammelte Amtsstube und Formulare ausfüllen, dann auf der anderen Strassenseite in eine andere vergammelte Amtsstube, um sie stempeln zu lassen. Zurück in die erste für irgendeinen Eintrag. Dann in eine weitere für den Stempel im Reisepass. Und zum Schluss noch in eine Wechselstube, um ein wenig bolivianisches Geld einzutauschen.
Aber alle scheinen sich zu kennen und gehen recht herzlich miteinander um.
Dann geht es im strömenden Regen über eine Brücke. Auf der anderen Seite des Flusses wird kontrolliert, ob wir auch alles haben: Formulare, Visum, Geld. Gestempelt werden muss natürlich auch. Eigentlich die gleiche Prozedur wie gerade eben. Dann warten wir auf ein bolivianisches Auto, das uns abholen soll.
Das dauert. Und der Regen hört nicht auf.
Warten an der Grenze
Schliesslich kommt der Wagen, und man sieht da schon einen beachtlichen Unterschied zu Peru. Wenn ich dachte, dass das peruanische Auto schon bessere Tage gesehen hatte, dann kommt es mir jetzt, im Vergleich zu diesem hier, hochmodern, gepflegt und luxuriös vor.
Naja, wenigstens ist es trocken und halbwegs warm. Ich mache es mir auf dem Rücksitz bequem, polstere die eine oder andere harte Kante mit dem Anorak ab – hier ist Hochsommer, aber auf über 4000 m Höhe entspricht das nicht den Vorstellungen, die man so hat – und erwarte, bis zur Ankunft ein wenig schlafen zu können.
Aber das geht gar nicht! Ich muss viel zu viel gucken.
Was für eine Landschaft! Diese Felsformationen!
Wenn die in einer noch so abgelegenen Gegend in Amerika lägen, dann würde es hier von Touristen wimmeln. Aber sie liegen in einer abgelegenen Landschaft am Titicaca-See. Das einzige, wovon es hier wimmelt, sind Lamas. Und hie und da am seichten See-Ufer von Flamingos. Und auf den Feldern von Bauern, die noch mit einfachsten Holzpflügen arbeiten.
Schon allein für diese desolate, aber unglaublich schöne Felslandschaft hat sich die Anreise gelohnt.
Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir ja schon einige Sorgen gemacht, diesen ganzen Aufwand umsonst zu treiben. Alles, was man so über Tiahuanaco liest, klingt unglaublich spannend, aber die Fotos wirken eigentlich eher langweilig. Auf den meisten Bildern sieht das berühmte Sonnentor aus wie aus Beton und steht irgendwie recht unmotiviert in der Gegend herum. Jetzt weiss ich doch wenigstens, dass sich die Anreise und der Aufwand lohnen, selbst wenn Tiahuanaco selbst enttäuschend sein sollte.
Schliesslich kommen wir an: eine düstere, verregnete, stürmische Hochebene, das Altiplano.
Sommer auf dem Altiplano
Der Eingang zum Ausgrabungsgelände? Sehr unspektakulär. Eine Tafel, auf der die einzelnen Bereiche eingezeichnet sind, ein kleines Museum, ein vergammelt wirkendes Lokal, ein paar unlustigeVerkaufsstände – kein Wunder, dass sie unlustig wirken – ich bin hier weit und breit der einzige Tourist …
Museum
Aber jetzt kommt unser Führer, ein junger Archäologe, stellt sich vor und erklärt, dass er nur spanisch spricht. Und mein Spanisch reicht eigentlich nur zum Einkaufen und um im Restaurant etwas zu bestellen. Meine Führerin lächelt strahlend, tätschelt mir den Arm und erklärt beruhigend, sie werde schon übersetzen.
Sehr beruhigend – ein Jahr Deutschunterricht und keine Ahnung von Archäologie!
Ich bitte den jungen Mann, ganz langsam zu sprechen und eine Pause zu machen, wenn ich die Hand hebe, damit Unklarheiten geklärt werden können. Und los geht’s.
Übersichtsplan
Also, ich gebe zu, es ist sicher gar nicht so leicht, hier aufregende Fotos zu machen. Dafür sind das Gelände zu flach, die Hintergründe zu eintönig – aber die Details!
Und die Dramatik der Gesamtanlage!
Das Sonnentor ein Betonklotz? Unmotiviert? Nein, nur auf Fotos. In der Realität ist es extrem eindrucksvoll.
Hier herrscht die gleiche Atmosphäre wie in Stonehenge …
Komischerweise fällt mir das erst jetzt, zuhause, während des Schreibens, auf.
In Tiahuanaco fühle ich nur, dass mir alles irgendwie vertraut erscheint. Vielleicht liegt es ja auch nur daran, dass auch in Stonehenge trübes, dunkel bedrückendes Wetter herrschte, als ich dort war, aber ich glaube nicht. Die Stimmung ist ja geradezu greifbar …
Natürlich kann der Grund auch einfach sein, dass sich um Tiahuanaco, ebenso wie um alle anderen uralten Überreste unbekannter Kulturen, so viele Sagen und Legenden ranken, die im Unterbewusstsein ihre Wirkung entfalten.
Den Führer verstehe ich ganz gut; er spricht langsam, verwendet sehr viele Fachausdrücke, die ja in allen europäischen Sprachen sehr ähnlich klingen – es geht. Meine Führerin muss selten einspringen. Ich stelle fest, dass hier viel gefunden worden ist, seit ich das letzte Buch über die Ausgrabungen gelesen habe; es wird wohl Zeit, sich mit etwas neuerer Literatur einzudecken. Aber noch ist vieles nicht klar, bei vielen Umrissen weiss man noch nicht, wofür die Räume gedient haben könnten. Bei der Rekonstruktion der Mauern ergibt sich zwar vieles, aber nicht alles, zwangsläufig aus der Form der Steine. Aber es ist spannend, wie für einige Ecken gewachsener Fels behauen wurde und als Stütze für die anschliessenden Wände dient.
Das ist alles nicht so monumental und gigantisch wie in Sacsayhuaman, aber trotzdem kommt die immer gleiche Frage: „Wie, um alles in der Welt, haben sie die Steine transportiert?“ Immerhin wiegen die schwersten ca. 100 Tonnen …
Wie fast alle Fragen um Tiahuanaco scheint auch die nach der Herkunft der Steine nicht endgültig geklärt. Ein in Frage kommender Steinbruch soll 300 km entfernt sein, ein anderer nur fünf km, was angesichts des Gewichts einiger Steine auch noch beachtlich genug ist.
Trotz der teilweise starken Verwitterung sieht man auch hier, dass die Steine fugenfrei aneinander gefügt sind, wie dies auch für Inkabauten typisch ist. Aber Tiahuanaco ist einwandfrei keine Anlage der Inka. Das ist unübersehbar. Und als die hier ankamen, soll Tiahuanaco schon in Ruinen gelegen haben. Manche schätzen das Alter der Anlage sogar auf 17.000 Jahre, was Esoterikern und Autoren wie Erich von Däniken sehr gefällt. Andere nehmen an, dass Tiahuanaco in mehreren Bauabschnitten zwischen 1500 v. Chr. und ca. 1000 n. Chr. erbaut worden ist. Aber diese Schätzungen beruhen auf Keramikfunden, von denen durchaus nicht feststeht, ob sie aus der gleichen Zeit stammen wie die Bauten und aus umstrittenen Datierungen mit der C-14-Methode.
Pyramide
Eigentlich ist alles umstritten, was man über Tiahuanaco weiss oder zu wissen glaubt. Fest zu stehen scheint, dass die Anlage nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet ist, dass sie präinkaisch ist und dass es sich um Tempel- und Wohnbereiche mit einer Stufenpyramide in T-Form handelt.
Leider ist vieles zerstört, weil die Steine von Tiahuanaco bis in die jüngste Zeit als Material für andere Bauvorhaben der Umgebung benutzt worden sind. Fest steht auch, dass die Stadt und die Anlage Tiahuanaco ursprünglich am Ufer des Titicaca-Sees lagen und über einen Hafen verfügten. Inzwischen ist der See stark geschrumpft, und das Ufer liegt in etwa 20 km Entfernung.
Auch hier gibt es einen Sintflut-Mythos, was die Datierungsversuche derjenigen, die nicht streng wissenschaftlich vorgehen, weiter verwirrt.
Das Gesicht oben am Sonnentor soll Viracocha, den Sonnengott, darstellen. Die ihn betreffenden Mythen und Legenden ähneln in vielerlei Hinsicht denen über Quetzalcoatl bei den Azteken.
Ein weiteres Rätsel sind die Abbildungen von Tieren, die seit dem Pleistozän ausgestorben sein sollen …
Und wer sind die Leute, deren Konterfeis aus den Wänden des „Versenkten Tempels“ schauen? Wenn das reine Dekoration wäre, dann gäbe es doch nicht so starke individuelle Züge – jedes Gesicht ist anders …
Und wozu diente der „Lautsprecher“, ein Loch in einer der Mauern, der die Stimme unglaublich verstärkt …
Man könnte sich ewig damit beschäftigen und käme wohl doch nie zu einem Ergebnis.
Und deshalb dauert die Führung auch nicht ewig, sondern sie geht zu Ende, und ich muss in das wenig einladende Restaurant, um zu Mittag zu essen. Meine Führerin und ich setzen uns draussen auf die kleine Terrasse, denn drinnen sind alle Tische mit Pappbehältern gedeckt. Ich mache deshalb noch ein lahmes Witzchen darüber, dass jetzt nur noch eine Horde deutscher Touristen in dieser Einöde fehlt. Der Satz ist kaum ausgesprochen, was fährt vor? Ein Studiosus-Bus, und eine Horde deutscher Touristen strömt zu den Tischen mit den Papp-Behältern!
Wie schön, draussen zu sitzen, allen möglichen Tieren zuzuschauen und original bolivianisch zu essen (obwohl es nicht überwältigend gut war, aber besser als etwas, das lange vorher in Papp-Behälter gefüllt werden konnte, war es ganz sicher).
Und dann kam die Rückfahrt mit denselben prachtvollen Landschaften, den gleichen Formalitäten an der Grenze
Kleiner Grenzverkehr
Bauarbeiten an der Grenze
und dem Wechsel zu meinem peruanischen Auto.
Noch eine Besichtigung einer prachtvollen spanischen Kirche,
bei deren Gestaltung sich die einheimischen Künstler und Handwerker die allergrösste Mühe gegeben hatten, ihre eigenen Sitten, Gebräuche und Mythen deutlich sichtbar und doch so unterzubringen, dass die Spanier es nicht merkten – worauf die Einheimischen heute noch stolz sind.
Und dann war’s leider schon vorbei.
Titicaca-See
Meine Erlebnisse mit den Bankautomaten von Puno wären sicher für alle amüsant, die nicht daran teilhatten, aber auch das nimmt man gerne in Kauf, wenn man vorher in Tiahuanaco sein durfte.