Samuel
Von Erhard Metz
Wir kennen Nicole Ahland und ihre unlängst in der Galerie Greulich ausgestellten Arbeiten. Heute nähern wir uns ihrer Installation Samuel im Frankfurter Dommuseum.
Schauplatz: der überdachte, von dem kleinen Kreuzgang des Domes umgebene, Quadrum genannte Raum. Licht fällt durch die Dachverglasung auf den bekannten, im Frankfurter Stadtgebiet vielerorts anzutreffenden warmtönigen Buntsandstein dieser Mauern mit ihren Grabmalen und den breiten, dreiteilig gegliederten gotischen Fensterbögen des Kreuzgangs.
Wir sehen eine etwa dreieinhalb Meter hohe, rund sieben Meter breite, ungeteilte Projektionsfläche aus Stoff, ein gegenüber aufgestellter Projektor strahlt ein Dia auf diese Wand. Es handelt sich um eine schemenhaft in hellem Licht erscheinende Figur, ein Jüngling, ein junger Mann, die volle Höhe der Projektionsfläche einnehmend, den Kopf und die Füsse leicht angeschnitten, bekleidet ist diese Figur lediglich mit einem weissen Slip. Links und rechts der aus hellem Licht hervortretenden Figur verdunkelt sich die Wand in einem bräunlichen Ton.
Der junge Mann, vom Licht des Hintergrunds nahezu überstrahlt, scheint seinerseits in seiner linken, dem Betrachter zugewandten Seite seines eher schmächtigen Körpers zu erstrahlen. Und wir erinnern uns an den Umgang der Fotokünstlerin Nicole Ahland mit dem Licht, das sich in ihren Bildern gleichsam materialisiert.
Der Jüngling steht mit geschlossenen Beinen, den Kopf nach vorne gesenkt, mit herabhängenden Schultern und Armen wehrlos, verletzbar erscheinend, als müsse er sich vor einer unsichtbaren Instanz verantworten.
Auf dem steinernen Fussboden vor der Projektionswand liegen verstreut weisse Kartons, bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als Postkarten, das Adressfeld zum Beschriften mit feinen Linien angedeutet, mit einem Stempel der Künstlerin versehen. Auf der Rückseite einer jeden Karte ist eine Zeile in Bleichgoldpigmentfarbe handschriftlich aufgetragen, es gibt diese Karten in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache:
Nichts getan.
Il n’a rien fait.
Non fatto niente.
Nothing done.
Der freundliche Herr am Eingang des Dommuseums bedeutet uns, wir sollten ruhig einige Karten vom Boden aufheben und mitnehmen. Sie werden offenkundig, so lassen weitere Besuche am Ausstellungsort erkennen, jeweils um neue Exemplare ergänzt.
Ist es der junge Samuel, den Nicole Ahland darstellt, der alttestamentliche Prophet? Der Sohn der Hanna, jener unfruchtbaren Frau des Elkana, dessen weitere Frau Peninna ihm im Gegensatz zu Hanna viele Söhne und Töchter geschenkt hatte? Sohn jener Hanna, die dem Gott Zebaoth gelobte, wenn er ihr einen Sohn beschere, wolle sie diesen „dem Herrn geben sein Leben lang“, wie es dann auch geschah? Warum gibt die Künstlerin ihrem Werk diesen Namen?
Oder ist die Darstellung ein Ecce homo, ein Sehet, welch ein Mensch, im Ausstellungsduktus des Dommuseums auf die Passions- und Osterzeit fokussiert?
Bekennt dort ein Mensch eine Schuld, die wir nicht kennen, aber vielleicht erahnen können?
Oder steht der junge Mann als ein Sinnbild für die zur militärischen Musterung Vorgeführten, in Kontrollen aller Art „Gefilzten“, vor einem Tribunal Verhörten, steht er für die Beschimpften, Gedemütigten, Versklavten, Gefolterten, Entrechteten dieser Welt?
Und was ist das überhaupt für eine Frau, was für eine Mutter, diese Hanna, die Gott mit jenem Gelöbnis um einen Sohn bittet und diesem Samuel jedweden Raum für ein eigenes, selbstbestimmtes Leben nimmt? Was für eine Mutter-Sohn-Beziehung?
Aber ergibt sich nicht zwischen all den genannten Deutungsmöglichkeiten ein tiefer innerer Zusammenhang, ein Sinn?
Es stehen ein paar Stühle im Quadrum gegenüber der Installation, wir sollten das Angebot zum Niedersetzen und Innehalten annehmen. Und wir sollten eine dieser goldbeschriebenen Karten vom Boden aufheben und mit nach Hause nehmen oder in die Welt tragen, uns an den Goldpreis von eintausend Dollar die Unze und daran, wem dies alles nützt oder schadet erinnern, oder an den alttestamentlichen Tanz um das Goldene Kalb, und an dieses Nichts getan, dieses Il n’a rien fait, Non fatto niente, Nothing done.
Die Ausstellung dauert bis zum 27. April 2008.
Dommuseum im Kreuzgang des Kaiserdomes zu Frankfurt am Main, Domplatz 14, 60311 Frankfurt am Main.
(Bildnachweis: © VG Bild-Kunst, Bonn; Fotos: © Dirk Uebele)
20. März 2008 14:05
Die unsichtbare Instanz ist in meiner Vorstellung das Gewissen. „nichts getan“ könnte die verteidigende, entschuldigende und reaktive Antwort eines Kindes der äußeren, Norm setzenden, Rechenschaft fordernden und Strafe androhenden Instanz gegenüber lauten. So könnte auch ein Dritter den noch kindhaften Jüngling einem anderen gegenüber verteidigen. Wollen wir diese kindliche Haltung nicht ein Leben lang beibehalten, so sind wir irgendwann dran uns auf r e c h t e s T u n u n d L a s s e n immer wieder neu zu besinnen, bis wir selbst wissen wo`s lang geht. Vielleicht. Endlich.
„Mit siebzig bedurfte ich, dem Zuge meines Herzens folgend, keiner Norm mehr.“ Konfuzius.
Danke für die Präsentation! Stoff zum Nachdenken!
26. März 2008 09:02
Bei neuerlicher Betrachtung: personifizierte Scham nach dem Sündenfall! Die alte Geschichte?? Nein, die ganz aktuelle: Unsere Entfernung und Entfremdung von Natur, Himmel und Erde, Wasser und Luft, Pflanze und Tier, von uns selbst und von einander. Das alles interessiert uns nur noch zum Zwecke der Vernutzbarkeit. Was bringt`s? Was bringt`s mir? Feigenblätter werden genug verteilt, die Interessen oft prächtig verhüllt, da wirkt Samuels Windel vergleichsweise lächerlich. Sie kann die Scham nicht verdecken, denn wenn ich mich auf Nicole Ahlands Samuel einlasse, widerwillig und zögernd einlasse, so e m p f i n d e ich Scham. – Und jetzt? Was hast du davon? Nix und jetzt! Nix hab ich davon! Schwamm drüber und weiter im Text!