Ina Holitzka
Räume, Abformungen, Schritte
Ina Holitzka erkundet die Raumzeit
Die Künstlerin, wunderbar neugierig auch nach einem zwei Jahrzehnte umfassenden schöpferischen Prozess, auf der Suche nach immer neuen Möglichkeiten des Raum- und Zeitausmessens, überzeugt, Grenzen, die ihre bisherigen künstlerischen Erfahrungen aufgezeigt haben, versetzen und aufbrechen zu können, bereit zu Umbrüchen und Neuansätzen: Ina Holitzka.
Es erweist sich unversehens als schwierig, im Rahmen unserer kaleidoskopartigen „Porträts“ dem künstlerischen Werk Ina Holitzkas gerecht zu werden, weil sich dieses Oeuvre über den angedeuteten Zeitraum von zwanzig Jahren erstreckt, weil der eine Werkzyklus auf dem anderen aufbaut und die Beschreibung eines solchen Prozesses eine eingehende monografische Befassung erforderte. Weil wir erst dann, wenn wir alle diese Schritte mitzuvollziehen versuchen, im Sinne der künstlerischen Intention unsere räumlichen Seh- und Interpretationsgewohnheiten hinterfragen und uns dabei auf eine neue, den altgewohnten Rahmen sprengende Betrachtungsweise, ein neues Verständnis von Raum – und auch Zeit – und zugleich auf eine neue, lustvoll-bereichernde ästhetische Erfahrung einlassen können.
Ina Holitzka, 1957 in Offenbach geboren, studierte an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste – Städelschule – in Frankfurt am Main bei Michael Croissant Bildhauerei und bei Herbert Schwöbel Fotografie. Ihre anschliessende freie künstlerische Arbeit baut wesentlich auf Erfahrungen auf, die sie im Umgang mit dem Herausbilden plastischer Objekte machte: beispielsweise mit der Erkenntnis, dass beim Bronzeguss die die Tonform umkleidende Gipsummantelung zerstört werden musste. Die Ummantelung gewann Eigenständigkeit und führte in folgerichtigen Schritten zur Technik des Abformens mit Papier. Konsequent wandte sich Ina Holitzka nicht mehr dem geschlossenen Volumen einer Plastik zu, sondern gleichsam deren ausgehöhlter Oberfläche. Sie betrat damit gestalterisches Neuland.
Die Künstlerin realisierte diese Erkenntnisse alsbald in monumentalen Werken, beispielsweise der Abformung eines mächtigen, vielfach gerippten gotischen Pfeilers im Frankfurter Dominikanerkloster. Wie sehen wir dieses architektonische Gebilde, seine statischen Aufgaben, Decken- und Dachlasten aufzunehmen und in die Fundamente weiterzuleiten? Zunächst nur seine äussere Gestalt. Sehen, erleben wir den Pfeiler als Raum, umgeben wiederum von Raum? Wie grenzen sich diese beiden Räume, in ihrem wechselseitigen Prozess des Korrespondierens, von- und gegeneinander ab? Ina Holitzka nimmt von dem Pfeiler Abformungen, mit dünnem Papier und Leim. Verfestigt zeigt uns die Abformung von der einen Seite wiederum die äussere Pfeilergestalt, von der anderen Seite betrachtet enthüllt sie uns hingegen die Ansicht von innen auf die imaginierte „Hülle“, die den Pfeiler umgibt. Wir gewinnen auf diese Weise eine gänzlich andere Wahrnehmung des Pfeilers als Raum, im Raum.
Diese Technik der Abformung kennzeichnet bereits ein frühes, klein dimensioniertes, intim erscheinendes Werk Ina Holitzkas: die Ecke. Eine Zimmerecke in einem früheren Atelier. Wieder nehmen wir beide Räume wahr, den massiven Raum von Wänden und Zimmerdecke, zugleich den Raum, den Wände und Decke umschliessen, ja erst ermöglichen. Den Raum also, in dem wir atmen und leben.
Ecke (Abformung)
Ein gewaltiger, zugleich ungemein reizvoller Kontrast wohnt der Abformung der „Ecke“ inne: Wir wissen um die Schwere der beiden Wände, die Schwere der Decke, die auf deren rechtwinkeligem Zusammentreffen lastet. Mit ihrem Werk dokumentiert Ina Holitzka die dem konstruktiven Zusammenhalt dieser drei architektonischen Elemente innewohnende Kraft, macht diese Kraft in ihrer Räumlichkeit erlebbar – aber auf welch atemberaubende Weise: Die Abformung scheint zu schweben – ein hauchzartes, ja zärtliches, ein verletzlich, zerbrechlich anmutendes Gebilde, von manchem Tages- und Nachtlicht wunderbar patiniert, man wagt es nicht zu berühren, befürchtet man doch, dass es darauf zu Staub zerfiele. Wucht und Zerbrechlichkeit, Dynamik und Anmut – in einem kleinen Meisterwerk versammelt!
Ecken: Was bedeuten uns eigentlich diese geheimnisvollen Raumgebilde? Flüchten, kuscheln wir uns in sie hinein, Schutz, Geborgenheit, Liebe suchend? Aber bedrängen-beengen sie uns dann nicht auch in ihrer Ausweglosigkeit, die allein die Flucht nach vorne zulässt, eine Flucht, die uns aber wieder in die kalte Welt der Auseindersetzung und der Verletzbarkeit führt? Ina Holitzka lebt und arbeitet in diesem Spannungsverhältnis, die nachstehende Zeichnung ihrer Ecke macht es uns sinnlich-erfahrbar.
Ecke (Zeichnung)
Räume – wir erleben sie, leben in ihnen, durchschreiten sie – mit den Füssen! Indem wir ihn mit den Füssen erkunden, be-greifen wir den Raum – im wahrsten Sinne des Wortes. Schreiten nimmt Zeit in Anspruch: Raum-Zeit. Der Fuss verbindet Mensch und Raumzeit. Wie es ohnehin den Raum nur in der Zeit gibt. In einer eigenen Werkgruppe Quo vadis untersucht Ina Holitzka dieses Phänomen.
„Dem architektonischen Raum“, schreibt sie, „in dem wir uns definieren, abgrenzen und organisieren, galt über viele Jahre meine Aufmerksamkeit. Heute liegt mein Fokus auf unserem Körper-Raum; genauer auf dem Bereich, mit dem wir den Raum durchschreiten. Dem beachtenswerten unteren Endpunkt unseres Körpers, den Füssen. Zwei Füsse, ein Paar, stehen in Beziehung zueinander. Füsse bewegen sich – auf Menschen / Situationen zu oder auch von ihnen fort. Füsse bewegen mich. Durchs Leben, durch den Raum und in meiner Arbeit.“
Ina Holitzka arbeitet dazu mit einem haptisch warmen, sympathischen Material: Teppichfilz, in den beiden Farben dunkel-weinrot und tief-dunkelblau. Der besondere Reiz dieser Arbeiten: Die Füsse schreiten aus der zunächst zeichnerischen – wie wir wissen fiktiven – Zweidimensionalität in den Raum als dritte Dimension. Die Ausschnitte geben wiederum den Raum hinter dem Objekt frei, die Wand wird zu einem Teil des Objektes. Spielerisch-leicht verselbständigen sich die Ausschnitte-Ausschritte zu gaukelnden, gleichsam lebendigen Wesenheiten.
step out Schritt
step out Baumler III
Simili – eine jüngere Werkgruppe der Künstlerin. Sie verfeinert in ihr ihre Filzschnitt-Technik zu filigranen Gebilden. Wiederum steckt sie mit diesen neuen Arbeiten Positiv- und Negativ-Räume ab. Die jüngsten simili „scheinen eigene organische Strukturen geworden zu sein, die hängend, wabbernd oder schlabbernd wie neurobiologische Systeme um sich greifen“ (Beate Kemfert). Eigentümlich der Reiz, der sich aus den Schichtungen der Filze ergibt: Assoziationen an Ablagerungen, Sedimente, an Erd- und Gesteinsschichten vergangener Urwelten werden wach. Aus ihnen erwächst in der Gegenwart ein spielerisch-buntes Treiben.
simili XIII
simili XIV
Von den simili ist der Weg nicht weit zu den Fotomontagen Neuro, Ausdruck der interdisziplinären Fragestellungen der Künstlerin, die sich seit längerem sowohl mit meditativen als auch mit neuro- und molekularbiologischen Phänomenen befasst. Erkennbar bauen die Neuro-Arbeiten auf den simili auf, ein Wesenszug des gesamten Schaffensprozesses von Ina Holitzka.
Neuro 1
Ina Holitzkas Arbeiten irritieren uns in einem positiven Sinne. Mit ihren Anstössen wecken sie uns auf aus Wahrnehmungsgewohnheiten. Alle, ja wirklich alle ihre Arbeiten sind schön, von sinnlich-ästhetischer Schönheit.
In zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen hat Ina Holitzka die Ergebnisse ihres künstlerischen Arbeits- und Lebensprozesses aufgezeigt. Viele ihrer oft mit Preisen versehenen Werke haben den Weg in öffentliche Räume und zu privaten Sammlern gefunden. Ihre monumentalen Installationen und ihre fotografischen Arbeiten haben wir in diesem kleinen Porträt aussparen müssen. Die Liste der sich mit ihrem Schaffen auseindersetzenden Bibliografien ist lang. Die Kataloge in ihrem Atelier laden zum Studium ein. Ina Holitzka gibt ihre künstlerischen Erfahrungen in Lehraufträgen und in ihrer Kunstschule „fein art“ an andere, insbesondere an junge Menschen weiter. Nicht nur dieser Gestus macht sie als Künstlerin und Mensch liebenswert.
Ina Holitza ist eine Künstlerin, die nicht stehen bleibt. Eine Grenzgängerin hat man sie genannt. Wir dürfen gespannt sein auf ihr künftiges Oeuvre, wie es unseren Verstand und unsere Gefühle in Anspruch nehmen, wie es uns zu neuen intellektuellen Herausforderungen und zu neuen sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungen führen wird.
(Abgebildete Werke © VG Bild-Kunst, Bonn)
23. November 2007 10:16
Bin begeistert von der ausführlichen Dokumentation der Kunst in Frankfurt.
Meine Äusserungen zu Rilke nehme ich als kleinbürgerlichen Bewusstseinsrückfall mit Bedauern zurück, will nicht mehr beckmesserisch über Kunst urteilen. An Rückantwort wäre mir gelegen.