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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Mein Schlafanzug hat zwei Taschen

Von Monika Müller-Löwenberg
(Text und Illustration)

Mein Schlafanzug hat zwei Taschen – oder die Geschichte einer großen Liebe

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Mein Schlafanzug hat zwei Taschen. In der linken Tasche finde ich ein Päckchen Erdnüsse, in der rechten befinden sich Schokolade und ein Zettelchen: „Schlaf gut mein Schatz“.
Ich schlucke und kämpfe mit den Tränen.
Keine der Mädels hat in diesem Moment einen Blick für mich. Wir wollten gleich schlafen.
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, um meine Tränen zu verbergen. Heimweh ist für mich ein körperlicher Schmerz.
Ich habe Heimweh nach meinen Eltern.
Es ist ein tolles Zimmer, das schönste im gesamten Haus. Der Tannenblick mit fünf Betten. Unter dem Dach. Ein sehr romantisches Giebelzimmer und sehr begehrt bei den Mädels in der Klasse.
Wir sind meist zu viert. Die Lieblingsfreundinnen teilen sich diesen Raum. Wir sind privilegiert, wir haben dieses Zimmer immer.
Das Haus, ein altes Holzgebäude. Es ist romantisch, verwinkelt, geheimnisvoll. Wir geniessen dieses Haus fast zweimal pro Schuljahr.
Eine Stiftung, von den Eltern finanziert.
Wir verbringen hier eine Woche. Eine Woche von zuhause entfernt.

Warum habe ich immer wieder Heimweh? Es ist doch so schön hier, wir sind im Hintertaunus – nicht in einem Land weit weg.
Meine geliebte Mami hat mir natürlich meinen Koffer gepackt.
Sie vermisst mich wohl genauso wie ich sie.
Wir wohnen im Westend, Bockenheimer Landstrasse, Ecke Brentanostrasse, wo sich auch meine Schule befindet. Mittags, wenn ich aus der Schule komme, hat Mama einen bestimmten Ritus eingeführt. Wir essen zusammen Mittag dann laufe ich zum Cafe Laumer gegenüber und hole uns Kuchen zum Nachtisch. Unser Favorit: Erdbeersahne für Mama, Schokosahne für mich.
So zögert sich der Beginn der Hausaufgaben etwas hinaus. Mama versuchte mir dann schon sanft beizubringen:
„Du weißt, Papa wird dich heute Abend noch Vokabeln abfragen“!
Ich wickelte meine Mutter nie um irgendwelche Finger. Sie war Freundin und Verbündete.
Sie wusste genau, dass ich Karl May unter dem Lateinbuch liegen hatte.
Am Montag, Dienstag oder Mittwoch, klingelt es im Haus des Schullandheimes im Hintertaunus.
Das war das erste Mal. Da standen meine Eltern und wollten nur kundtun, dass sie zurzeit eine Rodelwoche im gleichen Dorf, Eppenhain, verbrachten.
Das war peinlich gegenüber meinen Klassenkameradinnen und den Lehrern. Gleichzeitig war es für mich eine große Freude.
Die Beiden hatten dieselbe Sehnsucht nach mir, wie ich nach ihnen.
Das zweite Mal im Hintertaunus kam ein Päckchen mit Süssigkeiten. Wir vier Mädels genossen diesen Abend beim Naschen sehr.
Mir war zu der Zeit nicht klar, dass ich auch beneidet wurde.
Im Moment habe ich nahe am Wasser gebaut. Ich stelle ganz nüchtern fest, dass ich heute ohne diese Kindheit keine Kraft mehr hätte.
Ich will es herausschreien, jeder soll es hören, was Liebe und Heimat bedeutet. Es ist nicht das Land, es ist nicht der Erdteil, es ist nicht die Sprache, es ist sich geliebt zu wissen, geborgen fühlen, aufgehoben sein, vertrauen zu können, wissen, wo man Unterstützung und Verständnis bekommt.

Woher kommt diese enge Bindung, diese innige Liebe zu meinen Eltern?
Es hat viel mit der Liebe und der Liebesgeschichte der Beiden zu tun.
Ein See in Oberhessen, im Wald, gefährlich, für Mama nicht erkennbar. Ein Frankfurter Grosstadtkind, sie schwimmt, und geniesst. Ein freier Kopf. Was hat sie alles zu verarbeiten.
Eine Ehe, die sie nicht wollte, eine Kriegsehe hat man das damals genannt.
Geliebt hat sie ihn nie, dennoch ist ein Kind entstanden.
Evakuiert in diesem Oberhessen, auf dem Land, beim Bauern, der gibt ihr Milch für das Kind von einer tuberkulösen Kuh, sie weiss es nicht.
Er fiel ihr schon mal auf, auf dem Feld. Braungebrannt und gut aussehend. Er kam aus russischer Gefangenschaft.
Ich kenne den Acker, es war der beste, der den Großeltern gehörte. Gleich zu Anfang des Dorfes an der Dorfstrasse. Sie, eine verheiratete Frau mit Kind.
Wir schreiben das Jahr 1946/1947. Ein kleines Dorf.
Die Schlingpflanzen umfassten sie. Wie im Märchen hat er sie gerettet. Sie schrieben Liebesbriefe, legten sie im Wald unter einen Stein und trafen sich heimlich.
Ich bin romantisch. Sehr romantisch.
Manfred. Manfredchen ist besser, denn der Kleine wurde ja nicht einmal ein Jahr alt. Mein Brüderchen. Wie sehr habe ich mir immer einen großen Bruder gewünscht.
Ein kleiner weisser Sarg mit einem Baby.
Heute als Mutter kann ich ahnen, was es bedeutet, das eigene Kind zu beerdigen. Die eigene Mutter liegt nach einem Schlaganfall im Koma. Sie kann nicht mehr trösten.
Kein Wunder, dass ich überbehütet aufwachse.
Ein kleines Vögelchen wurde halb tot auf dem Schulhof gefunden. Ich, direkt um die Ecke der Bettinaschule wohnend, nahm natürlich das Vögelchen mit.
Mama sorgte für einen Käfig und die Verpflegung, Anrufe und Informationen beim Zoologischen Garten.

Ich wünschte mir natürlich einen kleinen Hund, wie alle Kinder. Vorerst siegte die Vernunft meiner Eltern und ich bekam eine Schildkröte: Susi. Susi war sehr anhänglich, sie durfte ausserhalb ihres Kästchens auch auf dem Balkon herumlaufen. Sie liebte die rot bemalten Fussnägel meiner Mutter und biss immer in den großen Zeh. Sie liebte Erdbeeren.
Die Füsse von Schildkröten sehen aus wie klitzekleine Elefantenfüsse. Kleine Elefanten fand ich immer schon süss.
Das war in der Zeit, als ich noch Nonne in Afrika werden wollte. Ich hatte einen Film gesehen mit Audrey Hepburn, als Nonne. Natürlich eine große Liebesgeschichte mit einem praktizierenden Arzt im „afrikanischen Busch“.
Ich hatte auch einen Wellensittich, Hansi. Hansi war, wie sich herausstellte, eine Frau Hansi. Nach einiger Zeit lag fast jeden Morgen ein Ei im Käfig.
Es kam in die Toilettenschüssel. Ich verstand es nicht. Meine Mutter wollte mich auf die Gefahren der Sexualität vorbereiten, mich auch mit dem Leben als Frau vertraut machen – bevor ich meine Menstruation bekomme.
Ich sollte nicht genauso erschrecken, wie sie in ihrer Kindheit.
Ich nahm ihr das Thema ab und erklärte, wir besprechen dies in der Schule. Anhand der Kaninchen. Mit Sex hatte das nichts zu tun. Meine Mutter sagte mir, es geht um Männlein und Weiblein. Ich wusste immer noch nichts. Da ihr das Thema vermutlich genauso unangenehm war wie mir, beliessen wir es dabei.
Mein erster Hund. Meine Mutter bestellte heimlich, ohne meinen Vater einzuweihen, aus dem Dackeldorf einen kleinen Langhaardackel. Selbst mein Vater, der abends Gassi ging, war von diesem kleinen Wesen gefangen genommen. Er war natürlich auch derjenige, der ihn zum Tierarzt brachte. Wir hatten ihn nur kurze Zeit. Er hatte die Staupe.
Mein Vater musste sich einen halben Tag Urlaub nehmen.
Er war nicht fähig, gleich zum Alltagsgeschehen zurückzukehren.
Tot. Wie oft wurden wir schmerzlich noch mit dem Tod konfrontiert. Alle, die ganze Familie, eingeschlossen mich.
Mama schenkte mir ein kleines Kreuz mit einem Weihwasserkesselchen. Sie war katholisch erzogen worden.

Nun war ich pubertär, und machte meinem Sternzeichen Stier alle Ehre.
Ein Abend, den ich nie vergessen werde: Mein Vater, ein Widder – sprich also zwei, die mit den Hörnern kämpfen können – hatte mir „Etwas“ nicht erlaubt.
Jeden Abend, bevor ich in mein Bett ging, gab ich meinen Eltern einen Gutenachtkuss. An diesem Abend bekam nur meine Mutter den Kuss.
Natürlich konnte ich nicht einschlafen.
Spät am Abend kam mein Vater leise in mein Zimmer, guckte ob ich schon schlafe, was ich vorgab, und küsste mich.

Ich hatte viele männliche Freunde und nur eine Busenfreundin, Sabine.
Christian – es war Tanzstundenzeit – sass ganz brav im Sessel. Alle Fragen beantwortete er zur Zufriedenheit meines Vaters. „Bringen sie mir meine Tochter wieder gut nach Hause“.
Wir waren auf einem Jazz-Konzert außerhalb Frankfurts auf einer Burg. Mit einem alten Fiat cinquecento.
Auf der Rückfahrt ging nichts mehr. Es dauerte Stunden, bis wir wieder fahren konnten.
Ich weiß nicht, wann wir ankamen. Alle Rollläden waren hochgezogen, ich sah Licht.

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2 Kommentare zu “Mein Schlafanzug hat zwei Taschen”

  1. Miri
    16. August 2007 23:57
    1

    Bitte fortfahren mit diesen Erzählungen

  2. claudia johann
    17. August 2007 20:00
    2

    Warum „ging auf der Rückfahrt nichts mehr“?
    Lag’s am Alkohol, hatte es geschneit, oder gab es andere Gründe?
    Folgte ein Donnerwetter?

    Würde auch gerne weiterlesen… :-)

    P. S.: Ich war auch mal in so einer Situation: Es war Fasching, ich war 17 .. und kam gegen 5.00 Uhr heim… und mein Vater ist Widder…