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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Grotesk“- Das Ende der Welt als Zusammenhang

Ein „falsches Zugleich“

Reflexionen des Frankfurter Autors Peter Christian Hall über das Groteske. Von römischen Ausgrabungen über Max Klinger bis hin zu Paul Clean. Eine Buchbesprechung von Alf Mayer

Tanz der Gerippe von Michael Wolgemut – Schedel’sche Weltchronik

„Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, – wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“ Paul Celan: Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960

Peter Christian Hall steigt in seine Untersuchung des Grotesken mit einer nur als „grotesk“ zu umschreibenden Schlüsselszene, nämlich der Begegnung des deutschen Bildungsbürgertums mit seinen Verstrickungen ins (damals noch kein Jahr vergangene) „Dritte Reich“.

Am 3. Mai 1946 trat Gustaf Gründgens, soeben aus neunmonatiger Haft in einem sowjetischen Lager entlassen und sein Entnazifizierungsverfahren noch nicht abgeschlossen, auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin auf – in der Rolle des Christian Maske in Carl Sternheims Komödie „Der Snob“. Ob er auftreten dürfte, war bis kurz vor der Premiere noch offen.

Stürmischer Beifall brach los, als sich der Vorhang hob. Man konnte das noch als Willkommensgruß interpretieren. Dann aber die ersten Worte: „Das ist grotesk!“ Und wieder Beifall, fünf bis zwanzig Minuten, die Angaben der Zeitzeugen unterschiedlich, der Vorgang aber klar. Der Beifall sollte sagen: „Es ist grotesk, dass dieser Mann verhaftet war und verhört wurde, es ist grotesk, in welcher Situation er ist“, so Peter Michalzik 1999 in der „ZEIT“ dazu. Er nennt es einen jener typischen Nachkriegspakte, die wortlos geschlossen werden und länger halten als schriftliche Verträge.

Bei Sternheim selbst ist der Satz die Reaktion des verbissenen Emporkömmlings Christian Maske auf die Bitte seines ihm unterlegenen kleinbürgerlichen Vaters um Hilfe aus einem finanziellen Engpass, eine Reaktion also auf die Wiederbegegnung mit seinem Herkunftsmilieu. Die Kategorie „grotesk“ wird nicht (mehr) auf die Gestaltungsweise eines Kunstwerks, sondern auf spezifische Lebenswirklichkeiten bezogen.

Der Palazzo Farnese (Caprarola), berühmt für die zahlreichen manieristischen und grotesken Wand und Decken-Fresken  

Peter Christian Hall zieht dazu auch noch ein, nein zwei Beispiele aus Büchners „Woyzeck“ heran, ortet ein Zitat von Friedrich Schlegel und konstatiert: „Die ästhetische Kategorie grotesk ist also schon seit über 200 Jahren aus der Fachterminologie der systematischen Ästhetiker auch ins allgemeine Weltverständnis ästhetisch sensibilisierter Betrachter eingewandert.“

Keine andere ästhetische Kategorie, stellt Hall in seiner Untersuchung fest, hat in den letzten 500 Jahren eine so sonderbare Konjunktur erlebt wie der Begriff grotesk. Geprägt wurde er ursprünglich aufgrund eines archäologischen Missverständnisses als kunsthistorischer Fachterminus für eine in der frühen Renaissance wiederentdeckte spezifische Form von Architekturdekoration aus dem antiken Rom. Zuerst wurde daraus ein Sammelbegriff für befremdliche, regelwidrige, nicht naturnachahmende Darstellungsweisen auch in anderen Bereichen der Kunst, später wurde er in die nicht-fiktionale Welt und in den umgangssprachlichen Bereich überführt und zu einem Max Klinger „Tod am See“ Leitbegriff auch außerästhetischer Befindlichkeiten und Weltdeutungsmuster.

Zuflucht zum Dämonischen

Die Bildung des Begriffs und dessen radikaler Bedeutungswandel tragen selbst groteske Züge, selbst wenn dies wie ein Kalauer klingt, meint Hall. Etwa den, dass Wolfgang Kayser, einer der jüngsten Germanisten der jungen Bundesrepublik, elf Jahre nach Gründgens Auftritt das Groteske als einen Einbruch des Dämonischen in die Welt definierte. Diese im metaphorischen Niemandsland angesiedelte Begriffsdeutung half dabei mit, dass das Dritte Reich „als Überwältigung durch eine unpersönliche, unheimliche, aus der Finsternis aufgestiegene irrationale (Über-)Macht deutbar wurde“, so Hall.

Die erste Opposition gegen Wolfgang Kaysers Grotesk-Begriff kam 1967 ausgerechnet von jenseits des Eisernen Vorhangs, nämlich vom sowjetischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin. Im Lachen über das Groteske manifestierte sich ihm die befreiende Antwort auf jede Form von Einschüchterung, Einschränkung oder Zwang, manifestierte sich die Utopie einer schranken- und klassenlosen Gesellschaft. Das Groteske als das Subversive. Als ästhetisches Verhältnis zur Welt.

Peter Christian Hall, geboren 1940,
studierte Germanistik, Kunstgeschichte
und Philosophie in Tübingen und Zürich.
Er war Nachrichtenredakteur beim
Süddeutschen Rundfunk,
Chefredakteur der Fachzeitschrift „medium“,
stellvertretender Chefredakteur
beim Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel,
lange Jahre auch mit den
Mainzer Tagen der Fernsehkritik befasst.
Zuletzt besorgte er Ausstellung
und Katalog zu „Delphine in
Offenbach“ über den Illustrator Marcus Behmer

Ein „falsches Zugleich“

Das Groteske, so arbeitet Peter Christian Hall in 15 Kapiteln, 20 Seitenstücke und zwei Etüden heraus, versetzt Kunst und Welt in einen disparaten, stets unversöhnlichen Spannungszustand. Es impliziert Verstörendes, Normabweichendes und Unangemessenes. Ist ein ästhetischer Grenzwert, ein „falsches Zugleich“. Als gängige, umgangssprachliche Synonyme zitiert er:

aberwitzig, absonderlich, absurd, abstrus, abwegig, abweichend, auseinandergehend,
beängstigend, bedrohlich, befremdlich, bizarr,
divergierend,
eigenartig, eigentümlich, eigenwillig, extravagant,
fratzenhaft,
gegensätzlich,
irrational,
kafkaesk, kauzig, komisch, kurios,
lachhaft, lächerlich,
makaber, merkwürdig, mysteriös,
närrisch,
paradox, phantastisch,
rätselhaft, ridikül,
seltsam, skurril, sonderbar,
ungeheuer, unglaubwürdig, unheimlich, unlogisch, unsinnig, unwahrscheinlich,
verschroben, verzerrt,
widersinnig, widersprüchlich, wunderlich,
zweifelhaft.

Blendend formuliert, kundig und skrupulös argumentierend spürt Peter Christian Hall dem Grotesken von römischen Ausgrabungen über Max Klinger bis zu Paul Celan und Hermann Kant nach. Am Beispiel von Kafkas „Verwandlung“ zeigt er den Umschlag von Fiktion in Lebenswirklichkeit, in Paul Celans „Todesfuge“ ist ihm der Tod kein Meister aus Deutschland, in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss sieht er die Wahrheit im Unglaubwürdigen. Bertolt Brecht verarbeitet den 17. Juni am besten auf groteske Weise und Günter Grass war nie ein Blechtrommler.

Ausschnitt aus: Pieter Bruegel der Ältere, 1562, Der Sturz der rebellierenden Engel, Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel

Hall untersucht die groteske Gefühlsseligkeit von Auschwitz-Tätern, Himmlers Umlügen der Judenvernichtung zur heroischen Tat, die Schriftfamilie der Sans-Serif-Typografie, den scheinbare Unsinn eines Mörike-Gedichts, das „Weltende“ bei Karl Kraus und den „Letzten Tage der Menschheiten“. Seine Betrachtung zur Komik des Grotesken in Max Klingers Gemälde „Tod am See“ war als Textauszug innerhalb des CulturMag-Spezials NATUR zu lesen. Und auf Seite 203 gibt es das Seitenstück „Eine leere Seite“ als „Einladung an die Deutungskraft der Leserinnen und Leser“.

Schon in unserer gemeinsamen Zeit bei „medium“ zitierte er mir oft das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis. Erstmals abgedruckt wurde es in der Zeitschrift „Der Demokrat“ vom 11.1.1911. Halls Buch hat die Handschrift von Hoddis und das Zeitungs-Faksimile, das Kapitel ist überschrieben: „Die Urzelle grotesker Lyrik im frühen Expressionismus oder Vom Ende der Welt als Zusammenhang.“ Hier das Gedicht:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Hall, ein großer Kenner des Expressionismus, des Jugendstils und des Surrealismus, über viele Jahre oft irgendwo in einer Ausstellung zu finden, richtet seinen Blick auch auf einen vergessenen Nachkriegsbestseller, auf den 1955 erschienenen Erfolgsroman „Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman“ von Hans Scholz, der einer der ersten deutschen Fernsehmehrteiler wurde.

Lange vor der Wehrmachtsausstellung wird bei Scholz „in noch heute verstörender Offenheit“, so 2010 der Literaturkritiker Walter Nell, die Beteiligung der Wehrmacht an Judenerschießungen geschildert – im Gegensatz zur Fernsehadaption von Fritz Umgelter, in der die gängige Legende von der Trennung von SS und Wehrmacht befördert wurde. Die Kritik schlug den Roman, der schon im Untertitel die eigene Fiktionalität relativiert, dem U-Bereich zu – sie hat sich ihm nicht gewachsen gezeigt, konstatiert Hall trocken.

Infos:

Peter Christian Hall
Grotesk.
Der Vermittlungsmodus
‚falsches Zugleich‘.
Textem Verlag,
Hamburg, 2019.
380 Seiten, 16 Eur

Der Kulturjournalist Alf Mayer kennt Peter Christian Hall seit 1977. Acht produktive Jahre lang waren sie die Zwei-Mann-Redaktion der legendären Zeitschrift „medium“, der ersten Medienzeitschrift der Bundesrepublik.

 

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