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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Geschichten aus dem Wiener Wald“ – einmal anders

Ein Spiel mit der Illusion –  Eine ungewöhnliche Inszenierung am Bochumer Schauspiel

Von Simone Hamm

Mourad Baaiz, Marina Galic Foto: Mourad Baaiz, Marina Galic© Lalo Jodlbauer / Schauspielhaus Bochum

Eine Bühne wie nach einem Schlachtfeld, eine blutige Schweinehälfte, aus der Gedärme quellen. Abgerissene Arme und Beine. Menschliche Körper, die in weiße Plastikfolien gewickelt sind, verrenkte Füße lugen heraus. Ein kleines Grab, ein Kindergrab. Aus einer der Folien wird eine junge Frau gezogen und an einem Schürhacken aufgehängt. Es ist Marianne, die Tochter des Zauberkönigs.

„Was ist Liebe?“ hatte sie gefragt. An ihrem Hochzeitstag lässt sie ihren Verlobten, den Metzger Oskar, sitzen und folgt stattdessen dem schönen Halunken Alfred. Sie badet mit ihm an der Donau, sie gestehen sich ihre Liebe. Marianne ist ausgelassen. Die Donau ist auf Thilo Reuthers ansonsten schwarzer und fast leerer Bühne nichts als ein riesiger Abfluss mit einem Kanaldeckel, der sich öffnet und schließt. Die schöne blaue Donau ist nichts als eine Illusion. So wie die große Liebe von Marianne und Alfred.

Als Marianne ein Baby bekommt, gibt es Alfred in die Wachau zu seiner Großmutter. Die teuflische, geizige, bigotte alte Frau lässt das Kind sterben. Alfred verlässt die mittellose Marianne. Dabei war er fürs Publikum nie ein Frauenschwarm. Ulvi Teke schlackert mit den Armen wie eine Puppe, lässt sich mit saurer Milch füttern von seinem Vater.

Marianne, vom Vater verstoßen, von den Männern benutzt, vom Geliebten verlassen, wird in Wienerwald Inszenierungen meist als eine traurig-tragische Figur gezeichnet.

Karin Henkel bringt eine andere Marianne auf die Bühne. Schulterzuckend betrachtet Marianne ihre Umwelt, mitleidlos erkennt sie die Menschen um sich herum. Sie weiß doch, dass der Vater sie nur möglichst gewinnbringend unter die Haube bringen will, dass der Mann der sie heiraten will, sie nur besitzen und demütigen will. Sie wundert sich auch nicht, als sie von dem spielsüchtigen Hallodri Alfred verlassen wird, für den sie so viel aufgegeben hat.

Marina Galic ist eine Puppe im Reifrock mit dunklem Liedschatten und zugleich eine große, bisweilen spöttische Kämpferin. Sie kann auch zaubern wie ihr Vater. Sie klettert mit acht Ebenbildern aus einer Tiefkühltruhe. Geschichten aus dem Wienerwald ist ihr Abend.

Karin Henkels Marianne ist eine überragende Figur. Sie ist und bleibt stolz. Selbst dann, als sie in einem zwielichtigen Varietee auftreten muss, um nicht zu verhungern.

Bernd Rademacher, Mourad Baaiz, Ulvi Teke, Marius Huth, Gina Haller, Marina Galic (vorn), Karin Moog (v. li.)
Foto: © Lalo Jodlbauer

Lars Wittershagen hat die Musik dazu geschrieben – dumpf-dunkle Beats. Das lässt nichts Gutes ahnen. Die Trafikanten Valerie (Karin Moog) mit dem übergroß grellrotgeschminkten Mund in ihrem engen roten Lederkleid sieht aus, als würde sie geradewegs aus einem Gemälde von Otto Dix entsteigen. Man spürt es förmlich. Es ist der Vorabend des Faschismus. Der Hitlerjunge in den kurzen Hosen dreht im Laufe des Abends immer mehr auf und reckt die Hand immer höher.

Ein im besten Sinne verstörender Abend.

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