home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kultur-Reform: Wird hr 2 ein Opfer der Digitalstrategie?

Eine leidenschaftliche öffentliche Diskussion – und ein Kommentar

von Uwe Kammann, Medienjournalist

Ja was denn nun? Ist die geplante Reform beim Radioprogramm hr2-Kultur als einschneidender Umbau gedacht, hin zu einer „Klassikwelle“, verbunden mit einer Abwanderung der bislang dort beheimateten Wortsendungen ins Netz? Oder soll es behutsamer zugehen, mit einigen neuen Akzenten – und zusätzlichen Kulturangeboten auf den Online-Plattformen?  Müssen/sollen diese Netz-Angebote ganz anders zugeschnitten sein als die bisherigen Wortbeiträge im herkömmlichen Kulturprogramm, vor allem mit dem Ziel, mehr junge Hörer zu gewinnen? Soll die Kultur im Programm insgesamt ‚ausgedünnt’ werden und weniger Platz bekommen?

Diskussion in der Deutschen Nationalbibliothek, v.l.n.r.: Buchhändlerin, Barbara Determann, Marion Tiedtke, Schauspiel Frankfurt, Autor Matthias Altenburg, Michael Ridder (epd), Michael Herl (Stalburg Theater) und eine HR-hörerin aus dem Publikum, Foto: Petra Kammann

Verspielt der Hessische Rundfunk an einer zentralen Stelle seine Legitimation als gemeinwohlorientierter Rundfunk, weil er das jetzige, auf musikalische Vielfalt setzende Kulturprogramm auf ein Publikumssegment eingrenzen will, das vor allem auf Hochkultur und klassische Musik fixiert ist? Will der Sender im jetzigen linearen Radio generell auf das Prinzip der Durchhörbarkeit setzen, ein Prinzip, das in der Regel für ein gleitendes Programm ohne Ecken und Kanten steht?

Solche Fragen bestimmen in Hessen eine ganz spezielle und heftig ausgefochtene Diskussion über das Radioprogramm hr2 Kultur, seit im Sommer bekannt wurde, dass bei diesem Kulturradio wesentliche Änderungen anstünden, angestoßen durch eine allgemeine Zukunfts- und Strategiedebatte des Senders.

Es ist eine Debatte, die aufnimmt (und die alle Sender führen), dass sich die Medienlandschaft aufgrund der durch die Digitaltechnik ermöglichten unendlichen Verzweigung rasant ändert und dass sich ein Meta-Medium – eben das globale Netz – gebildet hat. Mit der Folge, dass sich bisherige Gewohnheiten des Sehens und Hörens (wie auch des Lesens) verschieben und vor allem für jüngere Menschen das Netz mehr und mehr zur zentralen Medienstation wird. Und dies für alle erdenklichen Formen der Nutzung, ganz unabhängig von linearen Programmvorgaben, wie sie bis vor einem Dutzend Jahren noch gang und gäbe waren.

Die Leitung des Hessischen Rundfunks zog aus den Gesprächsergebnissen einer „Portfoliogruppe“ für Kulturbeiträge im Radio den Schluss, Wortinhalte zu Kulturthemen künftig auf mehreren Wegen zu verbreiten, so auch auf der Informationswelle „hr-info“, im Internet auf den Portalen „hessenschau.de“ und „ARD Audiothek“. Das erklärte Ziel: auch jüngere Zielgruppen – die bislang kaum oder gar nicht das lineare Programm hr 2 Kultur einschalteten – zu erreichen und zu gewinnen, auf der Basis eines breiten Kulturbegriffes.

Die Proteste aus der hessischen Kulturszene waren und sind heftig. So hat eine Internet-Petition in kurzer Zeit mehr als 10.000 Unterstützer gefunden. Sie wird seit einer Diskussionsveranstaltung der „Initiative hr2-Wort“ unter dem Titel „hr2 minus Kultur?“ von einer dort von annähernd 400 Teilnehmern befürworteten und verabschiedeten Resolution begleitet, in der die Absicht verurteilt wird, „das Kulturangebot des HR in eine linear ausgestrahlte Klassikwelle und in eine vorrangig über online-Kanäle laufende Kulturinformation zu spalten“.

Fast wäre die Diskussion (1. Oktober) in der gastgebenden Deutschen Nationalbibliothek allerdings zu einer verengten Einverständnis- und Kritikrunde „unter sich“ – also Vertretern der Kulturszene und eines Fachjournalisten – geraten, wenn nicht doch noch, sozusagen in letzter Minute, mit dem leitenden HR-Redakteur Alf Mentzer ein Vertreter des Senders selbst eingeladen worden wäre. Der dann auch aus erster Hand – weil er wesentlich am zweiwöchigen Diskurs der „Portfoliogruppe“ im April beteiligt war und auch die jetzt im Herbst einsetzenden, auf konkrete Realisierungen zielenden Gespräche der Reformgruppe leiten wird – das skizzierte und umriss, was der Kern der bisherigen Überlegungen war und ist.

Alf Mentzer (HR) und Moderatorin Marion Tiedtke, Schauspiel Frankfurt, Foto: Petra Kammann

Mentzer hatte es naturgemäß nicht leicht, weil die Vertreter auf dem Podium und auch das Publikum im Saal erkennbar das verteidigen wollten, was bislang den Charakter und die Mischung des Kulturprogramms hr2 ausmacht. Beides wird offenkundig geschätzt, ganz so wie es auch die „gegen den Kulturabbau in den öffentlich-rechtlichen Medien“ angetretene Initiative ausdrückt und bekräftigt. Was Mentzer – der die ersten Reformvorstellungen durchaus positiv sieht und sie deshalb auch offensiv verteidigt – von einer „gespaltenen Brust“ sprechen ließ: denn trotz seiner Haltung sei er durchaus „erfreut, beeindruckt, gerührt“ von der Anhänglichkeit an das bisherige Programm. Nach der Statistik findet es täglich rund 90.000 Hörer, gegenüber den 2,1 Millionen Gesamt-Hörern der sechs HR-Radioprogramme natürlich ein geringer Wert. Der sich noch einmal relativiert, wenn angeblich nur 7000 Hörer unter 35 Jahren hr2 Kultur einschalten. Diese Zahlen sind allerdings, wie jeder Insider weiß, nur ein grober Anhaltspunkt, weil sie auf Umfragen beruhen, nicht jedoch auf einer technischen Messung wie bei den Fernseh-Quoten.

Einige Klarheit aber brachte der Auftritt des HR-Vertreters in Kernfragen. Das Programm hr2 Kultur werde „nicht abgeschafft, es wird auch keine Klassikwelle“. Dieser vom Programmdirektor eingebrachte Begriff sei irreführend gewesen. Es gehe vielmehr um klassische Musik, welche das Programm künftig dominieren solle, auch in den Magazinsendungen. Bislang liege der Anteil von Klassik zu Folk, Jazz, Singer Songwritern, Chanson, Weltmusik bei 60:40. Doch die auch darin ausgedrückte Breitband-Kultur funktioniere nicht. Dagegen werde jetzt das Ziel gesetzt, über das lineare Radio-Kulturprogramm dasjenige Publikum zu erreichen, das einen „distinktiven, hochqualifizierten Kulturbegriff“ bevorzuge. Auch Kulturangebote wie Hörspiel, Feature oder Gesprächssendungen wie „Doppelkopf“ werde es weiter geben.

Ein größeres, offeneres und jugendlicheres Publikum wolle der Sender künftig eher über Angebote im Netz gewinnen (in Verlautbarungen greift der HR dabei den vielzitierten Grundsatz des einstigen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann auf: „Kultur für alle“). Solche Angebote („Formate“) funktionierten aber nicht durch einen einfachen Transport der originären Sendungen aus dem linearen Programm ins Netz. Sie müssten jeweils eigenständig entwickelt und gestaltet sein. Dies aber dürfe „nicht mehr kosten“.

Dies, auch das stellte Mentzer als grundlegend vor, solle durch Zusammenarbeit über die verschiedenen Medienformen ermöglicht werden. Hierfür sei eine „crossmediale Kultur-Unit“ zu bilden, deren Mitarbeiter sowohl für das lineare Programm als auch für die spezifischen Bearbeitungen und eigenständigen Formen im Netz zuständig seien.

Als Reaktion auf einen Publikums-Zuruf mit Zweifeln am Erfolg einer solchen Strategie und internen Umschichtung zugunsten des Netzes räumt der reform-positive HR-Redakteur allerdings ein: „Wir tappen noch im Dunkeln“. Wie die einzelnen Formen aussähen und auf welchen Wegen man über die Plattformen das erwünschte jüngere Publikum erreichen könne, gehöre in jenen Bereich, den Kanzlerin Merkel einmal mit einem Begriff gekennzeichnet habe, der ihr viel Häme eingebracht habe, der aber gleichwohl die sich entwickelnden Netz-Realitäten treffe: „Neuland“.

Die Schauspielerin Anke Sevenich verlas die Resolution, Foto: Petra Kammann

Die Kultur-Vertreter auf dem Podium – eine Buchhändlerin, ein Schriftsteller, ein Theatermann/Autor (ein weiterer Schriftsteller war verhindert, ließ jedoch ein Statement durch den früheren HR-Moderator Ruthard Stäblein verlesen – vertraten erkennbar Positionen, welche die vorhandenen, tradierten Formen des linearen Radioprogramms noch lange nicht verabschieden, sondern sie unbedingt weiter bewahren wollen. Der Hauptgrund: Eine Zusammenstellung von Podcasts auf Abruf ersetze nicht ein farbiges, vielstimmiges Programm, das mit Überraschungen aufwarte, das dem Hörer Zufallsfunde beschere und Neugier belohne, das nicht Faulheit bediene und Zerstreuung anstrebe, sondern Interesse wecke. Ein Programm zudem, das nicht zuletzt auch dann empfangen und gehört werden könne, wenn man nicht am Rechner sitze – in den klassischen Situationen also, von der Frühstücks-Begleitung über das Autofahren bis zu den Hausarbeiten.

Der Medien-Fachjournalist Michael Ridder („epd medien“) bescheinigte dem bisherigen hr2-Programm, dass es den öffentlich-rechtlichen Auftrag „mustergültig“ erfülle. Es sei zu befürchten, dass bei einer neuen Aufteilung viele Formate wegfielen (was Mentzer später bestritt, obgleich andere Platzierungen denkbar seien, so ein Wechsel der Sendung „Der Tag“ nach hr-Info). Ridder vertraut darauf, dass die jetzige öffentliche Diskussion mit ihrer heftigen Kritik an Eckpunkten der Reformen nicht zuletzt die Gremien des Senders beeindruckt und zum Umdenken führt. Denn sonst werde den Gegnern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der sich auch allgemein in einer Legitimationskrise befinde, für ihre Grundkritik eine Reihe von Gründen geliefert, welche sich auf die (Nicht-)Erfüllung des Programmauftrags beziehen. Und noch eines unterstrich der Fachjournalist: Es sei „alles falsch gemacht“ worden, was die Darstellung des Vorhabens und die begleitende Kommunikation betreffe.

Große Zustimmung für die Resolution, Foto: Uwe Kammann

Kommentar:

Der Vorwurf „Alles falsch gemacht“ ist, in der Tat, mehr als berechtigt. Denn wenn man als Außenstehender die Äußerungen aus dem Sender nimmt – dazu gehören Interviews mit dem Intendanten und dem Hörfunkdirektor, dazu gehören ein im Netz zu findender „Faktencheck“ (22. August) unter dem Stichwort „Digitale Neuausrichtung & hr2-kultur“ und aktuell eine auf die jetzige Diskussion und die Resolution der „Initiative hr2-Wort“ bezogene Pressemitteilung –, dann klingt vieles merkwürdig nebulös oder irreführend („Klassiksender“), dann steckt darin viel zu viel Marketing-Denken, Trotzreaktion und in der Sache Unlogisches, Unausgegorenes und Ungewisses. Und dies, obwohl doch andere Diskussionen zu Radioreformen zeigen (so, als vor sieben Jahren die Kulturwelle WDR 3 einer Komplett-Revision unterzogen werden sollte), wie sensibel gerade das Kulturpublikum (zu dem auch viele ‚Macher’ gehören) grundlegende Veränderungen aufnimmt und kritisch hin- und herwendet. Und dies beileibe nicht nur (wie es manchmal leicht abgetan wird), weil dessen Akteure mit großem Beharrungsvermögen am Bestehenden hängen, Neues scheuen und den Verlust des Status quo (der auch eigene Vorteile bringt) fürchten.

Nein, schlicht, weil es nicht ausreicht, gleichsam alternativlos Neuerungen als unausweichlich zu deklarieren. Das wird gern mit dem Zauberwort „digital“ unterfüttert, wobei oft allzu deutlich das Mode-Vokabular der Beraterfirmen durchschimmert (auch hier, beim HR, wenn beispielsweise von „Portfolio-Gruppe“ oder von der angetrebten „crossmedialen Kultur-Unit“ die Rede ist). Helmut Thoma, RTL-Pionier, hat diese Schein-Modernität einmal auf eine schöne Formel gebracht: Ein Joghurt verwandele sich nicht zu einem ganz anderen Produkt, nämlich einem Elektro-Joghurt, nur weil er auf einem Elektrokarren transportiert werde.

Das Wesentliche an der digitalen Technik ist, dass sie mit dem Netz und über das Netz eine Art Universal- oder Metamedium erzeugt, das bei den herkömmlichen Medien neben einer (stark begrenzten) linearen Verbreitung von Inhalten auch die Jederzeit-Verfügbarkeit auf vielen Geräten ermöglicht und damit eine hochgradig individuelle Nutzung. Das ist ein großer Vorzug – und gleichzeitig ein fundamentaler Einschnitt, weil die eingeschränkten bisherigen Verbreitungswege (das gilt für Audio, Visuelles und Print gleichermaßen) naturgemäß an Bedeutung verlieren und weniger in Anspruch genommen werden. Das ist unausweichlich. Dafür bieten diese Alt-Medien eine Reihe anderer Qualitäten – beispielsweise eine professionelle Vorauswahl und spezifische Bearbeitung.

Natürlich ist es richtig, dass auf den Portalen im Netz bestimmte Formen spezifische Vorzüge aufweisen. Aber das heißt dann auch: Dafür müssen Extra-Kapazitäten (Personal) und Finanzmittel bereitgestellt werden. Wenn man das Herkömmliche und das Neue, auch das Andersartige zugleich bedienen will, gleicht das einem Ritt auf der Rasierklinge. Sicher, an manchen Stellen lassen sich die gerne bemühten Synergieeffekte erzielen – dann nämlich, wenn vorher Fett angesetzt wurde und aus Bequemlichkeit alte Strukturen beibehalten werden. Ob das im konkreten Fall bei den HR-Kulturredakteuren der Fall ist? Ob sie wirklich in Zukunft ohne Beeinträchtigung leicht die bisherigen Radioformen und die Variationen für jugendlich zugeschnittene Netz-Formen herstellen können, bei unverminderter Qualität?

Wenn aber für die neuen Formen nicht zusätzliche Mittel zu beschaffen sind, dann ist es wahrscheinlich doch probat, die vorhandenen Sendungen ins Netz zu stellen, um eine weitere Nutzung zu ermöglichen: zeit- und ortsunabhängig, eben in einer ständig verfügbaren Mediathek, die zudem endlich ein Gedächtnis schafft (statt des schnellen ‚Versendens’). Das ist für viele Seher und Hörer schon jetzt ein hochgeschätzter Vorteil, wie die Klickzahlen belegen.

Hingegen ist es ein riskantes Spiel, auf Kosten des linearen Programms die neuen Formen zu installieren (und darauf liefe es auch beim HR hinaus, allen Beteuerungen zum Trotz). Der Intendant des Deutschlandradios, Stefan Raue, und der Hörfunkdirektor des Norddeutschen Rundfunks Joachim Knuth, haben gerade in aktuellen Interviews ohne jede Einschränkung vorausgesagt, dass das herkömmliche lineare Radio noch lange Zeit überleben wird. Bei klarer paralleler Verfügbarkeit der Inhalte auf den Netzplattformen – was ja in der Regel keine hohen zusätzlichen Kosten verursacht.

Wenn hingegen die Netz-Inhalte auch der öffentlich-rechtlichen Sender ganz spezifisch auf diesen Medien-Rahmen zugeschnitten werden sollen, es also nicht um eine einfache 1:1-Präsenz geht, muss dies mit den besten professionellen Instrumenten und entsprechenden Mitarbeitern geschehen. Und die sind nicht umsonst zu haben. Weil aber das Gebühren-Budget seine klaren Grenzen hat, ist gründlich über den Einsatz der Mittel nachzudenken.

Und hier springt der HR, wie in der Regel alle Beteiligten aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Reich, viel zu kurz. Denn tatsächlich gibt es viele Möglichkeiten (gerade im Blick auf den Gesamtverbund der neun Landesrundfunkanstalten, vom Deutschlandradio und vom ZDF einmal abgesehen), das lineare Programmangebot zu durchforsten, auf eine verstärkte Zusammenarbeit in vielen Bereichen zu setzen und tatsächlich Synergieeffekte zu heben, ohne an Einzelqualität einzubüßen. Allein sechs Radioangebot beim HR, insgesamt 64 bei allen Landessendern, dazu drei bundeweite Programme vom Deutschlandradio: Das ist des Guten (besser: oft nur Durchschnittlichen) viel zu viel.

Dieser Befund des Viel-zu-viel gilt inzwischen auch für die Netz-Plattformen. Da sind viele Etiketten zu finden – in den Sendern selbst ebenso wie im ARD-Verbund – , die wie in einem Verwirrspiel aufzusuchen sind und keinem klaren Prinzip gehorchen. Um ganz konkret beim jetzigen Projekt zu bleiben: Wie sinnhaft ist es, Radioangebote unter „hessenschau.de“ zu suchen?

Das Immer-mehr im dichten föderalen Geflecht ist allerdings eine heilige Kuh bei jeder Reformdiskussion. Zwei mutige ARD-Vorsitzende sind jeweils komplett gescheitert, als sie hier ein grundlegendes Umdenken und eine gehörige Straffung der Gesamtstruktur vorgeschlagen/gefordert haben, um die Apparate zu verschlanken, zugunsten der Inhalte (was keine Vermehrung, sondern eine qualitative Anreicherung bedeuten sollte).

Anlass zur Skepsis bei Reformbestrebungen wie jetzt bei hr2-Kultur liefern auch die bisherige Springprozessionen bei solchen Prozessen. Sie sind angeblich immer unterfüttert von neuen Entwicklungen, wie sie aus den Darstellungen der Medienforschung abgeleitet werden. Was hat es da auch in Hinsicht auf das Radio nicht schon alles gegeben. Alf Mentzer beispielsweise war vor fünf Jahren beim jetzigen Kulturprogramm mit dem Ziel angetreten, es breiter anzulegen, auf Vielfalt (so auch bei der Musik) und einen offeneren Kulturbegriff zu setzen.

Jetzt, hoppla, soll das Gegenteil gelten, ist auf einmal der Kreis enger zu ziehen, wird eine Hörer-Gruppe angepeilt, die oberflächlich imprägniert ist mit einer Hochkultur-Firnis („Distinktionsgewinn“!), die aus Klassik-Partikeln zusammengesetzt ist. Und im Netz sollen sich jetzt die Jung-Nutzer verfangen, die mit Kultur bislang wenig bis gar nichts am Hut hatten, sie jedenfalls nicht bei hr2 gesucht haben (wobei es ja immer um vermittelnde Kultur-Berichterstattung als auch um eigene Kultur-Produktionen wie Hörspiel und Feature geht). Wer, wie der Autor dieser Zeilen, in vier Jahrzehnten –zig Konferenzen über Kultur in den Medien verfolgt hat, der weiß: Der Kreis derer, die sich als „kulturinteressiert“ oder gar als  „kulturaffin“ bezeichnen (das macht sich in Befragungsgruppen natürlich gut), ist in der Realität viel kleiner als die Eigen-Deklaration hergibt.

Wenn es tatsächlich fünf Prozent sein sollten (das scheint die Realzahl zu sein), dann lassen sich die Hörerzahlen für ein Kulturprogramm leicht erklären. Das ist auch in anderen Ländern zu sehen. „France culture“ beispielsweise, das landesweite (und einzige richtige) Kultur-Radioprogramm in Frankreich, hat einen Publikumsanteil von 2,3 Prozent. Arte und 3sat, die kulturgeprägten Fernsehprogramme, kommen auf knapp über 1 Prozent am tatsächlichen Zuschaueranteil, allen immer wieder beschworenen Bemühungen um eine Ausweitung des Interesses (auch der Jüngeren) zum Trotz. Und Kulturmagazinen wie „ttt“ und „aspekte“ geht es nicht viel anders.

Insofern ist es mehr als ratsam, wenn die Verantwortlichen und Entscheider diesen Realitätsrahmen anerkennen – allerdings mit der erklärten Zusage, für eine qualifizierte Minderheit ein qualitätsvolles Programm zu wollen, zu erstellen und zu verteidigen. Wobei eine Radiominderheit in einem Bundesland wie Hessen, welche an der 100.000er-Grenze kratzt, doch aller Ehren wert ist. Und wenn sie dann noch, wie in der aktuellen Diskussion zu erkennen, eine solche Leidenschaft für ein Programm zeigt, eine geradezu liebende Zuneigung, dann wäre es fahrlässig, dies als unzureichendes Echo anzunehmen oder auszugeben.

Die Jugend, so heißt es aus der HR-Spitze, werde mit der jetzigen Konstellation „eher abgehängt“. Wie steht es dann mit den Programmanstrengungen, die ganz gezielt auf das Jugendsegment gerichtet sind, unter dem strahlenden Titel „youfm“? Und, umgekehrt: Ist hr3 die Großattraktion für alle? Oder müssen hier die Oldies im Publikum eher ein lautes Mainstream-Radio umschiffen? Nein, bei solchen Umständen ist vieles ein Spielen mit der Schrotflinte, die flott als Digitalwaffe deklariert wird. Beim ZDF wurde vor zwei Jahrzehnten in einer medienkritischen Konferenz über das Thema „Jugendwahn und Altersängste. Kommunikation in der Zielgruppengesellschaft“ debattiert. Man sieht, gewisse Themen …

Aber auch die Verteidiger des Bestehenden aus dem Kultursektor müssen sich fragen (lassen), ob all ihre Argumente über Vorurteile, Pauschalschelte oder engeres Eigeninteresse hinausgehen. Auch auf dem Podium der „Initiative hr2-Wort“ und in der begleitenden „Frankfurter Erklärung“ wurde wieder die Quote als vermeintliche Zwangsjacke bemüht, war vom „statistischen Wahn“ die Rede, wurde eine allgemeine Einengung von Kulturangeboten beklagt. Wer die öffentlichen Aufwendungen von mehr als 10 Milliarden Euro sieht (Bund, Länder, Kommunen), die in zehn Jahren um 30,5 Prozent gestiegen sind; wer weiß, dass die renommierte BBC nur wenig mehr als die Hälfte des Gebührenaufkommens hat, über das der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland mit mehr als 8 Milliarden verfügt, der kann in dieses Klagelied nicht einfach einstimmen.

Dass leidenschaftlich darüber zu streiten ist, wofür und in welchen Proportionen die Gelder auszugeben sind, auch darüber, welcher Bonus an Qualität zu erzielen ist: Das ist völlig klar. Der vorläufige Kostenrahmen von 450 Millionen Euro für ein Museum der Moderne in Berlin, dass in dieser Form und an diesem Platz, mitten auf dem Kulturforum, von einer übergroßen Mehrheit (auch der Kulturvermittler) als monströs, hässlich und falsch abgelehnt wird und trotzdem aufgrund einer einsamen Entscheidung der Kulturstaatsministerin ‚durchgezogen’ werden soll, belegt im ganz großen Maßstab, was schieflaufen kann, wenn der Begriff Kultur für persönliche Vorlieben als Schutzschild und Speer zugleich herhalten muss.

Schön wäre es deshalb, wenn die berühmte, von Frankfurt ausgehende Formel „Kultur für alle“ nicht allzu forsch bemüht würde, um eine in vielerlei Hinsicht fragwürdige Radioreform einfach durchzusetzen, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne ausreichende Scheinwerfer im Dunkel. Sonst könnte sich leicht bewahrheiten, was in Leserforen prophezeit wird: „Die Hörer von hr 2 gehen verloren, die Jugend wird nicht im Netz gewonnen.“ Am Ende des Tages – ja, so sagen die Manager der Beratergurus gerne –, am Ende des Tages wäre das jammerschade.

 

 

Comments are closed.