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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Hochverdient: Friedenspreis des Deutschen Buchandels für den Fotografen Sebastião Salgado

Weltweite Wirkung durch eindringliche Bilder einer intensiv gelebten Humanität

Von Uwe Kammann

Friedenspreisträger 2019: Sebastião Salgado, Foto: Taschen Verlag

Meine erste Begegnung mit Salgado war ein regelrechter Schock. Ein gewichtiger, großformatiger Band in einem Museumsladen zog den Blick auf sich, schon nach wenigen Seiten war der Bann groß. Schwarzweißfotos mit intensiver Tiefenwirkung aus einer brasilianischen Goldmine ließen den Atem stocken: diese Schlangen und Massen von halbnackten Leibern auf halsbrecherisch steilen Leitern, aufgestellt an Abgründen, Erdhügeln, Schluchten; dann Nahaufnahmen von Gesichtern, schwindelerregende Perspektivwechsel, und in jedem Moment das Gefühl: Man sieht in den Urgrund der condition humaine, einer Existenz, die reduziert ist auf Mühe und Qual, geformt zu einem unbegreiflichen Muster.

Gold mine of Serra Pelada, State of Pará, Brazil, 1986 © Sebastião SALGADO p. 77

Jeder, der mit Fotografie zu tun hat, weiß natürlich: „Gold“, dieser Bildband einer Reportage aus Brasilien Mitte der 80er Jahre, zählt zu den Ikonen des Genres, das hier mit sozialdokumentarisch nur unzureichend beschrieben ist. Denn es steckt viel mehr darin, Sebastiao Salgado weitet mit der äußeren Dokumentation den inneren Blick und setzt ein komplexeres Verständnis in Bewegung, das über diese Bilder hinausgeht. Der Fotograf selbst sah und sieht darin, im Sekundenbruchteil zusammengefasst, „die Geschichte der Menschheit“.

Nach diesem ersten starken Eindruck – dem dann eine intensive Beschäftigung mit dem Werk folgte – erschien auf einmal vieles, was rundum in Museen an zeitgenössischer Kunst zu sehen war, als belanglose Spielerei, als Augenkitzel nur für drei flüchtige Momente, als selbstbezügliche Beschäftigung mit unverbindlichen Eigenschaften. Ganz anders also als das, was der in Brasilien auf einer Rinderfarm aufgewachsene Sebastião Salgado in seinen Fotoarbeiten – immer auf das strenge, aber in sich hochdifferenzierte Schwarz-Weiß beschränkt – in jedem Moment sowohl darstellte als auch verkörperte: eine intensive Annäherung an die Menschen, ein Ausmessen ihrer Schicksale, eine Empathie mit ihren Leiden, eine nachhaltige Anteilnahme an ihrer Heimatlosigkeit, ein tiefempfundenes Mitgefühl gerade mit den Schwächsten der Schwachen, oft schon Todgeweihten.

Keine Frage also, dass der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nicht einen Moment zögernd fragen musste, ob denn einem Fotografen diese Auszeichnung zugesprochen werden sollte, die wie keine andere in Deutschland die Kernfragen nach einem gelingenden gesellschaftlichen Leben umkreist. Indem dieser Preis, wie das Statut sagt, dem Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker dienen soll. Indem, wie es weiter heißt, der Friedenspreis einer Persönlichkeit zugesprochen wird, „die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat.“

Es gab auch früher einige Beispiele, dass dies nicht im Sinne einer vornehmlich literarisch-wissenschaftlichen Auszeichnung einengend zu verstehen ist. So mit der Verleihung des Preises an den Musiker Yehudi Menuhin oder den Künstler Anselm Kiefer. Mit Salgado ist – anders als manche schnelle Mutmaßung nahelegte – auch nicht die Bedeutung des Buches relativiert. Denn Salgados Wirkung wird – stärker noch als in den immer punktuell verorteten Ausstellungen – durch das Buch getragen.

Die Titel dieser Bände (in Deutschland vorbildlich vom Taschen Verlag betreut) lesen sich wie eine hochkomprimierte Programmatik. Nach „Gold“ waren es beispielsweise „Exodus“, „Workers“, „Kinder“, „Afrika“, „Genesis“. Sie verweisen damit auch auf das Momumentale, alle (auch zeitliche) Grenzen sprengende Maß dieser Arbeiten, die immer auch als Projekte zu verstehen sind (bezeichnenderweise oft unterstützt von Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Reporter ohne Grenzen, UNICEF, UNESCO).

Von mancher Seite gibt es Zweifel: Ob die Fotos nicht in sich zu perfekt seien, zu sehr einer Suche nach den besten Licht- und Schatteneffekten verpflichtet, auch einer Komposition, die in sich eine eigene Schönheit berge und damit das eigentliche Sujet in den Hintergrund treten lasse. Doch diese Vorbehalte werden für die meisten Betrachter nicht schwer wiegen. Denn tatsächlich sprechen die Bilder sehr direkt, sie zeigen die schreckensgesättigten Realitäten in aller Deutlichkeit, gesteigert durch das abstrahierende Schwarz-Weiß, das eine andere, härtere Ebene einzieht und das Elementare, Existentielle herausarbeitet und betont. Nein, ein ästhetisierendes Ausweiden von niederschmetternden Geschehnissen gehört nicht zu den Konditionen oder Begleiterscheinungen dieser Fotos. Zu konstatieren ist vielmehr grundsätzlich, dass eine Gefahr nie auszuschließen ist: dass unsere Erschütterung einhergeht mit dem Gefühl der Ohnmacht (wahrscheinlich auch der Erleichterung, nicht direkt betroffen zu sein).

James Nachtwey, ein vielfach gerühmter Kriegs- und Krisenfotograf, hat diese Ambivalenz selbst thematisiert, aber daraus immer wieder den Schluss gezogen: Doch, es sei richtig, all die Grausamkeiten vieler Welterfahrungen und ihre Schrecknisse in Bildern festzuhalten und damit in unsere Aufmerksamkeit und unser Bewußtsein zu transportieren. Begründet sei dies mit der Hoffnung, doch etwas bewegen zu können, so über die politische Intervention, so über vielfältiges Engagement in der Bürgergesellschaft. Ähnlich hat es auch Anja Niedringhaus formuliert, die sich trotz aller Gefahren immer wieder dieser Mission gewidmet hat – und dabei auf einer Reportagereise im Nahen Osten ermordet wurde. Eine gerade zu Ende gegangene Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf hat dieses Themen- und Spannungsfeld vorbildlich beleuchtet.

Wim Wenders, 2014, Foto: Petra Kammann

Der deutsche Filmemacher Wim Wenders hat die Arbeit Salgados vor fünf Jahren in einem Dokumentarfilm (unterstützt vom Sohn Salgados, der ebenso Fotograf und Filmemacher ist) in vielen Facetten dargestellt, alles unter dem Titel „Das Salz der Erde“. Er hat ihn beim Fotografieren unter schwierigsten Umständen begleitet, er zeigt biografische Linien, flicht Selbstaussagen des Fotografen ein, kommentiert knapp einige der Haupteigenschaften dieses wahrhaft epochalen Werkes, dessen einzelne Schwerpunktphasen oft mehrere Jahre umfassen.

Und er zeigt die Scharnierstellen. Die wichtigste: Die Hinwendung zu einem Projekt, das als Hommage zu verstehen ist: eine Hommage im direktesten Sinne – als sichtbare Ehrerweisung, ja als Lobpreis an die Schönheit der Erde, in ihren Landschaften, mit ihrer Pflanzen- und Tierwelt. „Genesis“, so der Titel dieses in seinen staunenswerten Bildern unendlich reichen Fotobandes. Ob Salgado dies biblisch versteht, wenn er den Begriff der Schöpfung als einigende Bezeichnung wählt? Das bleibt offen. Ganz eindeutig allerdings ist, dass Salgado hier eine neue Phase beschwört, nämlich die einer ehrfürchtigen Bewunderung dessen, was er an positiven Kräften entdeckt und festhält.

Zuvor, so konstatiert Wenders, habe Salgado schließlich „ins Herz der Finsternis“ geblickt, bei den Aufnahmen der menschlichen Verheerungen, die der Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda angerichtet hatte. Auch die Fluchtbewegungen in der Sahelzone waren mit Bildern verbunden, die an die Grenze des Zeigbaren gehen. „Wir sind bösartige, schreckliche Tiere, wir Menschen“, so hat es der Fotograf zusammengefasst, erschrocken nicht zuletzt, dass dies für alle Gegenden der Welt zutrifft – wie er es auch im Jugoslawienkrieg erlebt hatte. Weshalb sich ihm eine weltweit gültige Generalformel aufdrängt: „Unsere Geschichte besteht aus Kriegen, eine endlose Geschichte, auch eine Geschichte der Unterdrückung, des Irrsinns.“

Diese letzte erdrückende Anschauung und Einsicht, so Wenders, habe Salgado zur Frage gebracht, was nach Ruanda noch zu tun sei. Womit er sich als sozialer und humaner Fotograf zutiefst in Frage gestellt habe. Die Wende dann: „Das Land heilt seine Verzweiflung“. Das Land: Das war die Rinderfarm seines Vaters, abgeholzt, unfruchtbar. Die rettende Idee kam von seiner Frau Lelia (die einst bei seinem beruflichen Beginn in Europa – er floh vor der brasilianischen Militärdiktatur – auch seine fotografische Passion angestoßen hatte): nämlich die Wiederaufforstung von über 600 Hektar des mittlerweile kahlen und unfruchtbaren Farmgeländes. Über 2 Millionen Bäume wurden gepflanzt, das von ihm gegründete „Instituto Terra“ wurde damit zu einem anstiftenden Vorbild für eine positive Umkehr von der Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Freunde,  so Salgado, hätten gewarnt, diese neue Lebenserfahrung nun als Anlass für eine fotografische Hommage an den Planeten zu nehmen, so, als sei das ein Verrat an seiner früheren sozialkritischen Arbeit. Seine Antwort sei einfach gewesen: „Egal, ich mach’s“. Das Ergebnis dieser Entscheidung ist wahrlich atemberaubend. Es wirkt mit seinen Einblicken in die noch unberührten weiten Landschaften des Planeten noch intensiver als die in dieser Hinsicht schon beeindruckenden Dokumentarfilme der BBC („Unser blauer Planet“). „Genesis“ ist dabei in jeder Aufnahme auch als Aufforderung zu verstehen: Alles zu tun, um die Grundlagen dieser Schönheiten – ja, dieses Wunders – zu bewahren.

Sebastião Salgado, South Sandwich Islands. Chinstrap penguins (Pygoscelis antarctica) on icebergs located between Zavodovski and Visokoi islands. South Sandwich Islands. 2009

In dieser Aufforderung steckt sicher die Kernbotschaft, welche der Stiftungsrat des Friedenspreises mit seiner hohen Auszeichnung des Fotografen Salgado verbindet. Gekoppelt ist dies sicher mit dem beflügelnden Optimismus: Ja, das kann gelingen. Lelia jedenfalls, Salgados Frau, nimmt die Bilder dieser Feier des Planeten (sie steht abwägend vor einer Fotowand) und verbindet sie mit der direkten Anschauung der gelungenen Verwandlung der einst fast lebensfeindlich gewordenen Farm und der umgebenden, nun dicht begrünten Hügel. Es sei wunderbar, dass sich eine Idee entwickeln und immer weiter wachsen könne. Und sie erweitert die Perspektive: „Diese Idee gehört nicht mehr einem allein, sondern allen.“

Damit ist eine  überaus produktive Brücke geschlagen. Denn wer Salgado, den bereits Vielgeehrten, heute ehrt, der preist das Gesamtwerk als vorbildlich, gerade weil es nichts unterschlägt. Weil es also unerbittlich die dunkelsten Seiten des menschlichen Lebens (Krieg, Völkermord, Armut, Hunger, Vertreibung, Flucht) in unvergesslichen Bildern vor Augen führt. Aber weil es auch, gestützt auf individuelle Erfahrung und hoffnungsvolle Veränderunen, offene Augen hat für das, was der Planet an Schönheit und Versprechungen (noch) bereithält.

In der Laudatio wird dies bei der feierlichen Preisverleihung am 20. Oktober in der Paulskirche sicher so differenziert wie bewundernd gewürdigt werden. Auch wenn die Entscheidung noch nicht feststeht: Wer wäre für diese Rolle geeigneter als Wim Wenders? Eine Formel für diese Würdigung eines der ganz Großen der Fotografie hat er ja schon gefunden: „Das Salz der Erde“. Ja, es gibt Menschen, welche für die Erde ein solches Lebenselement sind. Sebastião Salgado zählt unbedingt dazu. Gratulation an den Stiftungsrat des Friedenspreises für diese Wahl. Und Gratulation sowie Dank an den Preisträger – für beispielhaft gelebte Humanität.

Der Fotograf:

Sebastião Salgado begann 1973 seine berufliche Karriere als Fotograf in Paris und arbeitete in der Folge für die Fotoagenturen Sygma, Gamma und Magnum Photos. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado die Agentur Amazonas images, die sein Werk exklusiv vertritt. Salgados fotografische Projekte wurden in zahlreichen Ausstellungen und Büchern gezeigt, darunter Sahel, L’Homme en détresse (1986), Other Americas (1986), Arbeiter (1993), Terra (1997), Migranten (2000), Kinder der Migration (2000), Africa (2007), Genesis (2013) und Kuwait, Eine Wüste in Flammen (2016).

http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

 

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