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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Remember – 30 Jahre himmlischer Frieden? Alles ist Kunst- Alles ist Politik?

Dem Vergessen entreißen

von Petra Kammann

Vor 30 Jahren, am 4. Juni, fanden auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, dem Tian‘anmen-Platz, friedliche Studentenproteste statt. Anlässlich der blutigen Niederschlagung hat der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu sein Langgedicht „Massaker“ geschrieben. Es sollte sein Leben fundamental verändern. Als er versuchte, die unfassbaren Erlebnisse des 4. Juni in dem Film, den er „Totenmesse“ nannte, zu verarbeiten, wurden er selbst, seine Filmcrew sowie seine schwangere Frau im Februar 1990 inhaftiert und gefoltert. Vier Jahre musste er im Gefängnis verbringen. 2011 konnte er dann über Vietnam aus der Volksrepublik China nach Deutschland fliehen.

Für sein 1989 entstandenes Gedicht „Massaker“ bekam der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu vier Jahre Gefängnis, Fotos: Petra Kammann

Als er 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, bezauberte er die Anwesenden in der Frankfurter Paulskirche mit seinem Flötenspiel.

Inzwischen lebt und arbeitet Liao Yiwu in Berlin, wo er schon mehrere Bücher geschrieben hat, zuletzt: „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand: Texte aus der chinesischen Wirklichkeit“ (S. Fischer Verlag). Darin erinnert er nicht nur  an das Massaker, sondern auch an das Schicksal anderer Zeitzeugen wie an den in der Haft verstorbenen Nobelpreisträgers Liu Xiaobo und dessen Frau, die Poetin und Künstlerin Liu Xia, die ebenfalls von der Regierung kriminalisiert worden waren. Obwohl scheinbar alles zum Massaker und der Diktatur gesagt zu sein schien, fühlt Yiwu sich verpflichtet, weiter für seine in China verfolgten und teilweise inhaftierten Freunde und Weggefährten zu streiten.

In dem Kapitel „Aus dem Leben meiner Gefängnisbrüder“ trägt er hoch emotionale Texte, die einen nicht kalt lassen können, zusammen – biografische Porträts seiner ehemaligen Mitgefangenen. Nach und nach wird man Zeuge der absoluten Verrohung im Gefängnis: Homo homini lupus est. Yiwu beschreibt, wie der Mensch unter den menschenunwürdigen Haftbedingungen zum Wolf wird. Neben den Gewalterfahrungen und Suizidversuchen habe er wiederum im Gefängnis gelernt, „im Geheimen zu schreiben“, und er habe von einem 80 Jahre alten Mönch das Flötespiel gelernt. Dabei habe er verstanden, „dass Freiheit im Inneren entspringt.“ Wer innerlich frei ist, sei der „natürliche Feind jedes diktatorischen Regimes“.

In dem schmalen roten Büchlein erinnert er vor allem aber auch an seinen Freund, den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der nach langjähriger Gefängnishaft im Sommer 2017 todkrank starb. Da konnten seine Interventionen im Westen bei seinem Berliner Schriftstellerfreund Wolf Biermann, der sich wiederum an Angela Merkel wandte, nichts mehr ausrichten. Liu Xiaobo konnte nicht mehr ausreisen. Dafür wurde wenigstens der ebenso angeschlagenen Witwe Liu Xia der Weg nach Deutschland im vergangenen Jahr geöffnet. Sie durfte nach strenger Überwachung nach Liu Xiaobos Tod, 2018 ausreisen, leidet aber immer noch stark unter ihren Traumata.

Artikel anlässlich des Friedenspreises für Liao Yiwu in der Zeitschrift …IN R(H)EINKULTUR 4/2012 von Petra Kammann

Liu Xia in ihrer Ausstellung in Frankfurt

Dabei erinnert Yiwu sich an Zusammentreffen mit der Poetin Liu Xia, die früher immer so gerne gelacht habe, der jedoch unter den Belastungen ihres inhaftierten Ehemannes das Lachen gründlich vergangen war. Und dessen Erbe weiterzutragen, dazu fühlte sie sich verpflichtet. Liao Yiwu zitiert noch ein Gedicht des verzweifelt Inhaftierten, eine Art Vermächtnis an sie:

„Verantwortung an meine leidende Frau“

Bevor Du in die Grube fährst
vergiss es nicht, schreib mit Deiner Asche
vergiss es nicht, lass den Schatten deine Anschrift da“

Man kann aus diesen Zeilen nur erahnen, wie schwierig es gewesen sein muss, die Frau von Liu Xiaobo zu sein, wie unmöglich, unter den vergifteten Bedingungen in das normale Leben der Durchschnittschinesen zurückzukehren. Und Yiwu selbst nimmt sich auch in die Pflicht, wenn er sagt: „Entscheidend ist, dass man den Schrecken und die Trostlosigkeit des Freiheitsverlustes und des Ausgeliefertseins erfahren hat, erst dann kann man mit allem, was man hat, für die Freiheit der anderen kämpfen“, so Liao Yiwu. Und er weiß, dass die Erinnerung an das Leid wachgehalten werden muss und dass es nur von außerhalb gefahrlos möglich ist.

↑ Ai Weiwei, Liu Xia und Liao Yiwu – sie alle stehen als Konterrevolutionäre für den Widerstand:

Von ebenso großer Wucht ist das Werk des Regimekritikers Ai Weiweis, dessen eindrucksvolle Ausstellung mit Arbeiten aus vier Jahrzehnten „Everything is art. Everything is Politics“ derzeit in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu erleben ist.

Wie sich das Leben in der Gefängniszelle anfühlt, lässt sich anhand der großen Installation von Ai Weiwei im Düsseldorfer K 21 nacherleben. Aus dem Gedächtnis hat Ai Weiwei die Verhör-Situation während seiner Einzelhaft in einem chinesischen Gefängnis in der Arbeit S.A.C.R.E.D. , die zwischen 2011 und 2013 entstand, nachgebaut. Darin verarbeitet der Künstler seine 81-tägige Haft vom 3. April bis zum 22. Juni 2011. Durch kleine Öffnungen können sich die Besucher einen Einblick in unterschiedlichen alltäglichen Szenen verschaffen, welche er rekonstruiert hat, in dem man wie durch ein Schlüsselloch oder gar wie bei einer Peep-Show von außen in eine beleuchtete Zelle schaut. Da sieht man Ai Weiwei, flankiert von zwei Bewachern, unter Aufsicht alltägliche Dinge verrichten, beim Essen, Schlafen, Waschen, bis hin zum Toilettengang. Der chinesische Künstler, Dissident und Menschenrechtler Ai Weiwei hat diese Szenen ganz naturalistisch und dreidimensional aus der Erinnerung nachgebaut. Es gruselt einen, wenn man sieht, wie in einer engen Zelle zwei Männer einen mit Handschellen an den Stuhl gefesselten Mann verhören. Diese bedrückende erlebte Szene sitzt tief. Denn es war ihm während der Haft nicht erlaubt, etwas aufzuzeichnen. Die aus Fiberglas gestalteten Wächter in chinesischen Uniformen verfolgen den Gefangenen auf Schritt und Tritt.

Ai Weiwei, Installationsansicht /Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, 2019, ©Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Foto: Achim Kukulies

Mit den Zellen-Nachbauten in sechs rostigen Stahlkisten thematisiert der Bildhauer und Konzeptkünstler nicht nur die Einzelhaft, die er seine 81 Tage lang unter unwürdigen Bedingungen verbringen musste. Er schuf so auch ein allgemeingültiges Werk zum Thema Unterdrückung, dass auch in anderen diktatorischen Ländern so stattfinden könnte.

Die Buchstaben des Namens S.A.C.R.E.D. sind den einzelnen Szenen in den sechs rostigen Eisenkisten zugeordnet: „S“ steht für „Supper“ und meint das Abendessen, „A“ für „Accusers“  und benennt die „Anklagenden“ in Verhören, denen er täglich ausgesetzt war. „C“ steht für „Cleansing“ und bezeichnet die Körperreinigung, „R“ deutet auf das „Ritual“ des Auf- und Abgehens in der Zelle, während „E“ die Abkürzung für „Entropy“ ist und den bewachten Häftling im Zustand der Entropie des Schlafs zeigt. Zuguterletzt steht „D“ für „Doubt“ („Zweifel“) und zeigt den Häftling, der in Anwesenheit und durch ständige Beobachtung der Wächter auf der Toilette sitzt.

Abgesehen von der Gesamtheit des Wortes „SACRED“, was im Englisch sowohl wie „heilig” bedeutet, galt der „Homo sacer“ oft für jemanden, der als vogelfrei deklariert wurde und nur auf die Gunst der Götter hoffen konnte. Insofern wird dieser Begriff häufig auch für die Schutz- und Rechtlosigkeit in totalitären Systemen verwendet. Gruselig, wenn man wie ein solch rechtloser Gefangenen lediglich auf die bloße Situation des Körpers reduziert wird.

Wie auch in anderen Exponaten, die jeweils eine Extra-Würdigung verdienten, gehen Kunst und politisch-ethisches Engagement bei Ai Weiwei immer einher. Wie schnell eine Situation kippen kann, das sollten wir uns im „demokratischen Westen“ immer wieder vor Augen halten, ist doch auch der Fall der Mauer gerade mal dreißig Jahre her.

„Mich interessiert …, dass seine Kunst immer einen ethischen oder humanitären Anspruch hat – gerade auch dann, wenn die Grenzen zwischen Kunst und politischem Aktivismus nicht mehr klar sind“, sagt die neue Museumschefin Susanne Gaensheimer, die Ai Weiwei sowohl von der Biennale in Venedig her kennt als auch von ihrer Arbeit als Museumsdirektorin des Frankfurter MMK, die sich gerne mit Grenzüberschreitungen in den Künsten beschäftigt, und weiter: “ ich empfinde es als eine wichtige Aufgabe der Kunst, dass sie dazu beiträgt, die Krisen unserer Zeit zu reflektieren und zu problematisieren. Ich hoffe, dass darüber debattiert wird.“ Man kann es ihr nur wünschen, für uns alle…

Medienrummel bei der Ausstellungseröffnung, v.l.n.r.: Selfie mit Ai Weiwei mit Prof. Susanne Gaensheimer, Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRWOB Thomas Geisel  

Ai Weiwei

Ai Weiwei, 1957 in Beijing geboren, wird weltweit als Künstler, Architekt, Kurator, Filmregisseur und Fotograf gefeiert. Als Sohn des berühmten Dichters Ai Qing wuchs er während dessen Verbannung in Nordchina auf und kehrte 1976 mit der Familie nach Beijing zurück. 1983 zieht Ai Weiwei nach New York. Die während dieser Zeit gewonnenen Eindrücke von Konzeptkunst und Pop Art hat er für seine Arbeitsweise fruchtbar gemacht, die auf eine kritische Betrachtung von Kulturgeschichte sowie von chinesischen und globalen gesellschaftlichen Entwicklungen zielt.

1993 kehrt er nach Beijing zurück und verarbeitet dort seine künstlerischen Erfahrungen . Es entstehen Objekte, die sich mit antiken Kunstgegenständen und mit der Kulturrevolution auseinandersetzten. 2005 veröffentlicht Ai Weiwei einen Blog zu gesellschaftlichen Fragen, Kritik an der Regierung sowie Gedanken über Kunst und Architektur (der Blog wird 2009 gesperrt). Am 3. April 2011 wird Ai Weiwei in Beijing verhaftet und 81 Tage an einem unbekannten Ort festgehalten. Nach seiner Freilassung folgte eine lange Zeit der Überwachung seitens der chinesischen Behörden.

Seit 2015 lebt Ai Weiwei in Berlin..

Doppel-Ausstellung: „Everything is art. Everything is politics.“
in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

bis 1. September 2019

K20, Grabbeplatz 5, 40213 Düsseldorf

K21, Ständehausstraße 1, 40217 Düsseldorf

https://www.kunstsammlung.de/

 

 

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