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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Museum für Moderne Kunst MMK: Marianna Simnett im Zollamt

Blood In My Milk (2018), 5-Kanal HD-Videoinstallation

Von Erhard Metz

Weihnachten und Neujahr – die Feiertage liegen heuer günstig. Neben Besuchen bei Familie und Freunden sollten einige Tage der Ruhe zum Besuch von Kunstwerken einladen, etwa einem außergewöhnlichen Video auf fünf Großbildschirmen im ZOLLAMTMMK vis-à-vis dem Hauptgebäude MUSEUMMMK FÜR MODERNE KUNST in der Frankfurter Domstraße. 73 Minuten an Zuwendung fordert das einzigartige Werk vom betrachtenden Besucher. Wir versichern: es ist gut angelegte Lebenszeit.

MMK-Direktorin Susanne Pfeffer und die Künstlerin Marianna Simnett am 25. Oktober 2018 beim Presserundgang im ZOLLAMTMMK; Foto: Erhard Metz

Einen stringenten Handlungsablauf, eine durchgehende Erzählung im herkömmlichen Sinn gibt es in diesem fast schon Kinoformat einnehmenden Videoloop nicht, und doch wölbt sich über ihm ein facettenreiches Ganzes, stellt sich – insbesondere beim wiederholten Betrachten – ein umfassendes Verstehen des nur auf den ersten Blick scheinbar Unzusammenhängenden ein. Realistische Schilderungen wechseln mit Szenen wie in Träumen, die mitunter zu einem Albtraum geraten. Dem dafür Empfänglichen werden die feine Poesie, die sich durch diese 73 Minuten zieht, die sozusagen bildsprachliche Lyrik dieses auch gesungenen – wie wir sagen möchten – Melodrams so schnell nicht mehr aus dem Sinn kommen.

Wir meinen, in diesem Werk einem subtilen, genderbezogenen Feminismus begegnen zu können in einer vielfach von Maskulinität, von männlich-hierarchischer Autorität bestimmten Realität, wie sie allein schon die Überlieferung ausweist, die Marianna Simnett zu ihrer Videoarbeit neben anderem inspirierte: Saint Æbbe die Jüngere, im Jahr 870 Äbtissin des schottischen Klosters Coldingham, wie auch ihre Nonnen schnitten sich vor den heranstürmenden Wikingern Nase und Oberlippe ab, um als auf diese Weise Verstümmelte den zu erwartenden Vergewaltigungen zu entgehen; zwar ließen die vom Anblick der Frauen angewiderten Dänen von ihrem Vorhaben ab, setzten jedoch das Kloster mitsamt den darin eingeschlossenen Nonnen in Brand. Der angedeutete Eindruck stellt sich im Video bereits bei einem ersten „Kriegen-Spielen“ der drei Kinder ein, bei dem die Buben hinter dem Mädchen herjagen.

Marianna Simnett am 25. Oktober 2018 beim Presserundgang im ZOLLAMTMMK; Foto: Erhard Metz

Diese wie auch die vorangegangenen Videoarbeiten der Künstlerin lassen sich dem spekulativen (fantastischen) Realismus zurodnen. Dem jetzt gezeigten Werk „Blood In My Milk“ – aufbauend auf den Arbeiten „The Udder“ (2014), „Blood“ (2015), „Blue Roses“ (2015) und „Worst Gift“ (2017) – liegt über den genannten Grundton hinaus eine vierjährige Recherche und Auseinandersetzung mit untereinander changierenden Themen zugrunde wie Schönheit und Reinheit, Angst vor Krankheit und Gewalt, Schutz vor Infektion und Sterilität mittels medizinischer Eingriffe, Vermessung und optimierende Kontrolle von Körper und Geschlecht. Botulinumtoxin – Botox – spielt eine Rolle; eindrucksvoll die Szenen, in denen die Protagonistin – dargestellt von der Künstlerin selbst – mit staunender Faszination wie zugleich ängstlicher Distanz sich dem riesigen Fabrikkomplex mit den weitgehend automatisierten Produktionsabläufen für Botox nähert und diese beobachtet.

Episoden des Handlungsstromes über Raum und Zeit sind weiter ein Milchbauernhof, dessen Kühe von Mastitis entzündete, die Milch verunreinigende Euter aufweisen; medizinische Eingriffe wie eine unter den eingangs genannten Vorzeichen ausgeführte Entfernung der Nasenmuschelknochen des jungen Mädchens (ein Mitarbeiter Sigmund Freuds spekulierte einst über einen engen Zusammenhang zwischen Nase und Genitalbereich bei der Entwicklung von Neurosen); die vermeintlich minimal invasive Behandlung von Krampfadern an Beinen; eine mit Botox-Injektionen behandelte Puberphonie (Falsettstimme) bei Knaben.

Marianna Simnett, Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Jerwood / FVU Awards

↑ Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Jerwood / FVU Awards
↓ Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Comar
Bildnachweis: MMK

Marianna Simnett, Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Comar

Die Kamera dringt in Bereiche ein, die dem natürlichen beobachtenden Sehen verwehrt sind. Der Realismus resektierter blutiger menschlicher Körpersubstanz verstört. Schwer auszuhalten sind auch Szenen von in medizinischen Laborversuchen gequälten Kakerlaken und deren ferngesteuerter Einsatz als sogenannte Biobots. Medizinische, technologische und pharmakologische Innovationen wie auch deren unmittelbare Eingriffe in den menschlichen und tierischen Körper verselbständigen sich und korrespondieren oft mit ökonomischen, gesellschaftlichen und patriarchalischen Machtstrukturen.

Eine Hauptrolle in den einzelnen Episoden spielt wie erwähnt Marianna Simnett als „Mädchen“, in der Rolle ihres alter ego als „Junges Mädchen“ brilliert die junge Isabel Maclaren. Auch weitere Rollen werden nicht von professionellen Schauspielern verkörpert, sondern von im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit agierenden Laiendarstellern: einer HNO-Chirurgin, einem Gefäß- und einem Phonochirurgen, einem Wissenschaftler für die Kakerlaken-Experimente.

↑ Marianna Simnett im Presserundgang am 25. Oktober 2018; Foto: Erhard Metz
↓ Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Jerwood / FVU Awards (Isabel Maclaren, Darstellerin des Jungen Mädchens); Bildnachweis: MMK

Marianna Simnett, Blood In My Milk, 2018, Video Still, Courtesy the artist and Jerwood / FVU Awards

Im ehemaligen Zollamtssaal überrascht den Besucher ein wohl auch aus akustischen Gründen ganzflächig verlegter Teppichboden, ferner der die 5 Kanal-HD-Videoinstallation begleitende 9.1 Surround-Sound. Marianna Simnetts von visuellem Denken bestimmte, überaus sinnlich-bildsprachliche Arbeit von poetischer Schönheit gewinnt ihren zusätzlichen besonderen Reiz durch das Arrangement von spezifischen Klangereignissen, Musik und gesprochenem Dialog mit solistischem wie auch A Capella-Gesang zuweilen von liturgischer Feierlichkeit, ja sakraler Anmutung.

Marianna Simnett, 1986 in Kingston-upon-Thames geboren, zeichnet in „Blood In My Milk“, einer Auftragsarbeit des New Yorker New Museum, neben ihrer darstellerischen Leistung zugleich für Drehbuch, Regie, Schnitt und in Teilen auch für die Originalmusik verantwortlich. Die Videoarbeit der Künstlerin wird im ZOLLAMTMMK zum ersten Mal außerhalb Großbritanniens in Europa vorgestellt.

Marianna Simnett, „Blood In My Milk“, ZOLLAMTMMK, nur noch bis 6. Januar 2019

→ Museum für Moderne Kunst MMK: Cady Noland im Haupthaus Domstraße

 

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