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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Schirn lockt mit „König der Tiere“ und „Wildnis“ (Teil2)

Kunstwerke als Metaphern für Sehnsuchtsorte

Von Hans-Bernd Heier

Der Blick auf die Natur setzt Sehnsüchte frei. Ausstellungsansicht der Schau „Wildnis“ in der Schirn, Foto: Petra Kammann

Wilhelm Kuhnert (1865–1926) hat mit seinen naturalistischen Gemälden die westliche Vorstellung von Afrika und afrikanischer Natur geprägt wie kaum ein anderer Maler seiner Zeit. Die auf seinen Afrika-Reisen entstandenen Zeichnungen und Ölskizzen der dortigen Tier- und Pflanzenwelt dienten ihm als Vorlagen für monumentale Gemälde, die er nach der Rückkehr in seinem Atelier in Berlin anfertigte. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem nahezu in Vergessenheit geratenen Künstler die erste große Retrospektive. Parallel dazu ist unter dem schlichten Titel „Wildnis“ eine umfassende Themenschau zu sehen, welche die weitverbreitete Sehnsucht nach ursprünglicher Natur in den künstlerischen Fokus rückt. Vereint sind Kunstwerke aller Medien, die den Verbindungen von Wildnis und Kunst im 20. und 21. Jahrhundert nachgehen.

Henri Rousseau „Le lion, ayant faim, se jette sur l’antilope“, 1898 – 1905, Öl auf Leinwand, 200 x 301 cm; Fondation Beyeler, Riehen/Basel

Während von Menschen unberührte Naturräume heute weitgehend von der Erdoberfläche verschwunden sind und ein „unberührter Naturzustand“ fast nur noch in Form von ausgewiesenen Reservaten existiert, rückt die Wildnis als Metapher für Sehnsuchtsorte wieder in den Fokus der Kunst. Diese aktuelle Thematik greift die vielseitige Schau in der Schirn laut Kuratorin Esther Schlicht zum ersten Mal aus künstlerischer Sicht auf und versammelt großartige Arbeiten von der Moderne bis zur Gegenwart.

Briton Rivière „Beyond Man’s Footsteps“, 1894, Öl auf Leinwand, 119 x 184,5 cm; © Tate, London 2017

Wildnis bezeichnet im traditionellen Wortsinn Bereiche, die sich dem menschlichen Zugriff verwehren und in denen die Natur sich selbst überlassen ist. Üblicherweise wird der Begriff als Synonym für Dschungel, Urwald, Einöde oder auch Wüste verwendet. Dabei wurde in der abendländischen Geschichte das Phänomen Wildnis vor allem als Gegenpol zur Domäne des Kultivierten, des Domestizierten oder der Zivilisation schlechthin angesehen und war eher negativ besetzt. Erst im Zuge des 18. Jahrhunderts wandelte sich die westliche Wildnis-Rezeption von der schreckenerregenden, bedrohlichen Gegenwelt außerhalb menschlicher Kontrolle zunehmend zu einer positiven Utopie, die nun umgekehrt einer zur Bedrohung werdenden Zivilisation entgegentrat. Damit einhergehend entwickelte sich Wildnis als Inbegriff des Erhabenen zu einer ästhetischen Kategorie, die, vermittelt über die Romantik, bis heute wirksam ist.

Thomas Struth „Paradise 21“, Yuquehy/Brazil, 2001, 172 x 216 cm; © Thomas Struth

„Von überall her tönt derzeit ein neuer Ruf nach der Wildnis. Es ist eine weitverbreitete Sehnsucht nach ursprünglicher Natur, die wir als eskapistischen Reflex angesichts einer überregulierten und hyperkontrollierten Wirklichkeit deuten. Auch in der Kunst können wir seit einigen Jahren eine verstärkte Hinwendung zu Motiven beobachten, die mit dem kulturellen Konzept der Wildnis einhergehen“, sagt Philipp Demandt. „Mit Wildnis steht ein kulturelles Konzept zur Diskussion, das seit jeher auch als Projektionsfläche für das Andere und das Fremde, für Gegenbilder und Sehnsuchtsfantasien jenseits der Grenzen einer selbsternannten Zivilisation dien“, ergänzt Esther Schlicht. Im heutigen „Zeitalter des Menschen“ erscheint die Utopie eines von Kultur und menschlichem Einfluss fernen Naturzustands überholt. Die Auseinandersetzung mit tradierten Bildern und Fiktionen von Wildnis aber erweist sich als lebendiger denn je.

Präsentiert werden in der sehenswerten Schau über 100 erlesene Kunstwerke von 35 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, darunter Karel Appel, Julian Charrière, Ian Cheng, Mark Dion, Jean Dubuffet, Max Ernst, Camille Henrot, Asger Jorn, Georgia O’Keeffe, Richard Long, Per Kirkeby, Heinz Mack, Ana Mendieta, Helmut Middendorf, Gerhard Richter, Henri Rousseau, Frank Stella, Thomas Struth und Carleton E. Watkins.

Gerhard Richter „Tiger“, 1965, Öl auf Leinwand, 140 x 150 cm; Museum Morsbroich, Leverkusen; © Gerhard Richter 2018 (0127)

Die Ausstellung vereint Gemälde, Fotografien, Grafik, Video- und Soundarbeiten, Skulpturen sowie Installationen, die den Verbindungen zwischen Wildnis und Kunst im 20. und 21. Jahrhundert nachgehen. Besonders reizvoll ist der thematisch angelegte Dialog zwischen zeitgenössischen und historischen Werken.

Für die  Sonderausstellung konnte die Kuratorin Leihgaben aus zahlreichen deutschen wie internationalen Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen gewinnen, u. a. der Fondation Beyeler in Riehen/Basel, der Tate in London, Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk, dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid, Metropolitan Museum of Art in New York, der Fondation Dubuffet in Paris, dem Cobra Museum of Modern Art in Amstelveen, der Pinakothek der Moderne und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München, dem Museum Ludwig in Köln und der ZERO Foundation in Düsseldorf.

Ana Mendieta „Bird Transformation“, 1972, Colour photograph, Vintage print, 25 x 20 cm, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek, Denmark, Acquired with funding from Museumsfonden; © The Estate of Ana Mendieta Collection, LLC; Courtesy Galerie Lelong & Co., New York; Foto: Poul Buchard / Brøndum & Co

Gleich zu Beginn wird der Besucher mit den exzellenten Gemälden von Henri Rousseau und Briton Rivière auf die herausragende Präsentation eingestimmt. Diese beiden im Abstand weniger Jahre entstandenen Bilder umreißen das breite Spektrum dessen, was an der Wende zum 20. Jahrhundert als Wildnis verbildlicht wurde. „Rivières Darstellung eines Eisbären in der arktischen Eiswüste steht für den unwiederbringlichen Abschied von der Naturvorstellung der Romantik im Zeitalter des Darwinismus. Rousseaus naiv anmutende Dschungelfantasie hingegen stellt eine einzigartige Synthese des Urwaldmotivs – als Inbegriff einer wilden, ursprünglichen Natur – mit dem von seinen Zeitgenossen als primitiv und antimodern wahrgenommenen Malstil des Künstlers dar und weist so bereits ins 20. Jahrhundert“, so Esther Schlicht. „Die überwältigenden großformatigen Visionen zeigen darüber hinaus, in welchem Maße die Idee der Wildnis von vornherein mit Bildern und Projektionen einhergeht, in denen die Ängste und Sehnsüchte einer selbsternannten Zivilisation Ausdruck finden“.

 „Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2018, Foto: Wolfgang Günzel“

Einige künstlerische Positionen zum Faszinosum Wildnis seien kurz vorgestellt: Die ferne, unberührte Natur hat Carleton E. Watkins in seinen stimmungsvollen Fotoarbeiten eingefangen. Seine menschenleeren Aufnahmen des Yosemite-Tals haben nicht nur den Mythos des „Wilden Westens“ maßgeblich geprägt, sondern auch dazu beigetragen, dass dieses Tal – ein aus der Sicht der weißen Siedler  im wilden Zustand befindliches Gebiet – im Jahre 1864 unter Schutz gestellt wurde. Als Erweiterung der fotografischen Ansätze sind auch Werke des Malers Gerhard Richter zu sehen, der sich intensiv der Erneuerung der traditionsbeladenen Landschaftsmalerei widmete und dabei eine kritische Revision bestimmter historisch belasteter Motive der Wildnis unternahm.

Szenenwechsel: Georgia O’Keeffereduziert die menschenfeindliche Wüste des US-amerikanischen Südwestens in dem großformatigen Gemälde „From the Plains II“(1954) auf Licht und Farbe. Das Werk tritt in einen Dialog mit den in den 1960er-Jahren als Sahara-Projektbekannt gewordenen, futuristisch anmutenden Lichtexperimenten des ZERO-Künstlers Heinz Mackin der nordafrikanischen Wüste.
In den für ihn typischen Arbeiten macht auch der Brite Richard Longseit den 1970er-Jahren die Wildnis nicht nur zum Schauplatz, sondern gleichermaßen zum Medium und Thema seiner ortsspezifischen Arbeiten.

Georgia O’Keeffe „From the Plains II“, 1954, Öl auf Leinwand, 122 x 183 cm; Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid

Ein weiterer Teil der Ausstellung geht der Frage der „inneren Wildnis“ nach. Die Vorstellung einer unbekannten, vergessenen „Wildnis im Menschen“ wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auch zum Thema in der Bildenden Kunst. Künstlerinnen und Künstler verschiedener avantgardistischer Bewegungen hinterfragten den Fortschrittsglauben der europäischen Zivilisation. „Die Wildnis als Widerpart der sogenannten Zivilisation entwickelte sich zum künstlerischen Konzept, ihre Darstellung wurde gleichsam zur Metapher – für innere Zustände, für eine auf Kontrollverlust, Trieb und Zufall begründete Kunst oder die Position des Künstlers selbst“, sagt die Kuratorin. Als Sinnbild für die dunkle Seite der Natur erscheinen etwa die in den 1930er-Jahren entstandenen Natur- und Urwaldszenerien des Surrealisten Max Ernst,wie „La joie de vivre(Die Lebensfreude)“ (1937), denn die vermeintliche Idylle lässt sich zugleich auch als düstere Vorahnung einer vor dem Kollaps befindlichen europäischen Zivilisation lesen.

Ian Cheng „Something Thinking of You“ 2015, Live simulation, infinite duration, sound, Work edition, unique in series of 7 and 1 AP; Courtesy the artist, Pilar Corrias Gallery, London; Gladstone Gallery, Standard (Oslo)

Schließlich seien noch die Künstler der Gruppe CoBrA erwähnt. Sie suchten sich von kulturellen wie gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und propagierten eine neue Form künstlerischer Authentizität, die vorrangig auf Intuition und Wildheit beruhte. Ihre Suche nach dem Elementaren und Unverbrauchten schlug sich nicht zuletzt in der Vorliebe für Motive aus dem Tierreich und einer originären Konzeption des „menschlichen Tiers“ nieder, wie es das Gemälde „Eine Cobra-Gruppe“(1964) von Asger Jornverdeutlicht. Auch zeitgenössische Künstler, etwa wie Joachim Koesteroder Luke Fowler, suchen in ihren Arbeiten gleichermaßen unerforschte Bereiche des Menschlichen auf, um die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation auszuloten. „Witzig und verblüffend ist die Idee von Mark Dions Installation, der mit „Mobile Wilderness Unit – Wolf“ die unberührte Natur auf einem PKW-Anhänger in den zivilen Raum holt“ (s. Anfang des Artikels).

Die Themenausstellung „Wildnis“ wird durch die Dr. Marschner Stiftung und den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle gefördert und ist bis zum 3. Februar 2019 in der Kunsthalle Schirn zu sehen.

Abbildungen: Schirn Kunsthalle

 

 

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