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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Atmosphères – Catalogue d’Oiseaux von Messiaen mit Pierre-Laurent Aimard am Klavier

Hörabenteuer zwischen Kultur und Natur

Das Konzert „Catalogue d’Oiseaux“ von Olivier Messiaen (1908–1992) mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard fand am Sonntag, den 23.09.2018 als Teil des Musikfestes Atmosphères der Alten Oper Frankfurt an drei Spielstätten statt: im 38. Stock des Opernturms, im Gesellschaftshaus des Palmengartens und in den Faust Vogelhallen des Frankfurter Zoos.

Von Petra Kammann (Teil 1 und 2)

und Angela Federspiel (Teil 3)

SONNENAUFGANG AUS DER VOGELPERSPEKTIVE (Teil 1)

Der Bogen des Tages begann um 6.30 Uhr mit Messiaens Musik über Mittelmeersteinschmätzer, Steinrohrsänger, Pirol und Blaumerle eher gedämpft, verdeckt vom milchigen Nebel vor den Scheiben im 38. Stock des Opernturms…

Das erwachende Frankfurt aus der Vogelperspektive

Ja, wie schade und wie enttäuschend, so jedenfalls schien es. Die Krone des Opernturms lag nach der herrlich sonnenerfüllten spätsommerlichen Woche bei meiner Ankunft im Septembernebel, und es nieselte. Lässt sich da überhaupt die Stimmung eines Sonnenaufgangs erleben? Die Vorstellungen vom unvergleichlichen Licht, wie es in seiner Naturbegeisterung etwa der italienische Dichter Petrarca vor fast 700 Jahren beim Aufstieg auf den Mont Ventoux beschrieben hatte, rückt in Frankfurts Mitte eher in die Ferne. Was wird man sehen, was hören?

Um 5.45 Uhr war Einlass in den UBS-Hochhausturm am Rande des Rothschildparks gegenüber der Alten Oper, wo auf etwa 170 m Höhe das Konzert mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard, bekannt für  seine enge Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten, stattfinden sollte. Mit Blick auf die Frankfurter Innenstadt  – so war es gedacht –  sollte der geneigte Zuhörer den Sonnenaufgang mit den stilisierten Vogelstimmen, die der französische Komponist Olivier Messiaen in seinem „Catalogue d’oiseaux“ musikalisch verarbeitet hat, erleben. Der Raum im 38. Stock mit den fußhohen Fenstern zum Opernplatz hin wäre eigentlich ideal, um ein spektakuläres Lichtspiel bei Sonnenaufgang zu erleben. Es sollte anders kommen, nicht weniger eindrucksvoll, vielleicht weniger kitschig-konventionell auch als erwartet…

Verbeugen vor dem Publikum aus anderer Perspektive

Der Flügel steht eine Etage höher hinter einer Balustrade. Im Schummerlicht nimmt man das Ankommen des Pianisten durch die Fensterspiegelung der Außenscheiben wahr. Nach Aimards erstem Anschlag auf dem Flügel ist er ganz präsent. Die Töne kommen präzise, irisierend zart und „wie von weit“, von oben nämlich, weswegen sich das ständige Starren auf die Bühne fast von allein verbietet. Der Einstieg mit „Le Traquet Stapazin“ („Mittelmeerschwätzer) scheint an französisch-impressionistischer Musik orientiert zu sein und wirkt fast weltentrückt. Unmittelbar taucht man daher in Atmophärisches ein. Dann nimmt Aimards Spiel Fahrt auf, umspielt Klippen und Abgründe, lässt Pausen atmen und die gespannten Zuhörer wieder zur Ruhe kommen.

Der französische Komponist Olivier Messiaen, dessen 110. Geburtstag naht, hatte die Vögel, deren Stimmen er zeitlebens eifrig notierte, zu den „größten Musiker(n) unseres Planeten“ erklärt und daher einen “catalogue d’oiseaux“ entwickelt ähnlich wie der ungarische Komponist Béla Bartók, der für seine Kompositionen Volkslieder auf dem ungarischen Lande sammelte. Jahrelang hat Messiaen  in den verschiedensten Provinzen Frankreichs mit Feldstecher, Bleistift und Papier den Gesang der Vögel notiert. Erst in den letzten Lebensjahren ging der „komponierende Ornithologe“, wie er sich selbst nannte, dazu über, die Stimmen auf Tonband aufzunehmen. Er erwähnt es ausdrücklich in seiner künstlerischen Autobiografie, welche Bedeutung das für ihn hatte: „Rhythmische Technik, wiedergefundene Inspiration, dank dem Gesang der Vögel: das ist meine Lebensgeschichte“.  Sein Kompositionszyklus „Catalogue des oiseux“, eine Sammlung von 13 Vogelporträts, ist jedoch weit davon entfernt, eine musikalisch illustrierte Geschichte der Ornithologie zu sein. Vielmehr ist sie eine rhythmisch-musikalische Entsprechung, eine künstlerisch-synästhetische Korrespondenz zum sich wiederholenden Trällern, Gurren und Zwitschern der gefiederten Wesen. Eine Naturerfahrung in abstrakt stilisierter musikalischer Form.

Der so brillante wie experimentierfreudige Pianist Pierre-Laurent Aimard wiederum, der Messiaen – eins der großen Vorbilder zeitgenössischer Komponisten wie Stockhausen, Boulez oder Xenakis – bereits im Alter von 12 kennengelernt hatte, möchte die zeitgenössische Musik einem größeren Publikum nahebringen. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass man so etwas sorgsam vorbereiten muss, wenn es zum Erfolg führen soll: „Ich habe lange damit gewartet, den gesamten ‚Catalogue‘ aufzuführen. Solch ein Werk passt nicht in den gewohnten Rahmen eines Konzerts. … Ich denke, Messiaen wollte seinen Zuhörern eine ganz neue Erfahrung von Klang im Raum und seinen variierenden Dauern ermöglichen. Weder weiß man im Voraus, wann und wie lange ein Vogel in der Natur singt, noch, aus welcher Distanz man ihn hört. Bei meinen Aufführungen möchte ich dem Publikum vermitteln, wie diese Erfahrungen in der Natur Messiaens Komponieren beeinflusst haben.“

Wie der Tag über der Stadt erwacht, auch das reizte das Publikum, es von oben zu erleben – trotz Nebel

Beim changierenden Licht vom Opernturm aus, dem Versinken in Nebelschwaden, dem Spiel zwischen Hell und Dunkel und dem allmählich anbrechenden Tag bekam Aimards Spiel etwas Meditatives. Das Publikum, versunken in die Musik, lauschte teils mit geschlossenen Augen gebannt und wie benebelt. Der Blick auf die Scheiben mit den rhythmisch ankommenden Regentropfen, die in sich formierenden Schlieren die Scheiben entlang rannen, schienen sich den Rhythmen der Musik anzupassen.

An dem taufrischen Tag ging es dann quer durch den Rothschildpark, in dem glücklicherweise die Jogger, die diesen fragilen Moment des frischen Hörgenusses in freier Natur nur gestört hätten, noch nicht unterwegs waren, zum Frühstück nach Hause. Da fiel mir besonders das singende Erwachen und heftige miteinander Kommunizieren, Zwitschern, Trällern und Streiten der im Park lebenden Vögel auf, um deren Namen und Stimmen ich mich bislang leider nie geschert habe. Ein großer Fehler! Die Atmosphäre des frischen Morgens habe ich dafür aber umso mehr genossen.

 

MIT DEM BLICK INS PALMENHAUS (Teil 2)

Weiter ging es um 11 Uhr. Da war es zwar immer noch regnerisch, klarte aber auf, als der Bogen des außergewöhnliches Konzerttages im goldenen Saal des Gesellschaftshauses im Palmengarten weitergespannt wurde mit Messiaens umgesetzten Klängen für Alpendohle, Kurzzehenlerche, Trauersteinschmätzer, Mäusebussard und Teichrohrsänger.

Alle im Saal waren wach, still, erwartungsvoll und ließen sich vom hochkonzentrierten Pianisten mitnehmen in Messiaens Tonsystem der Unumkehrbarkeit melodischer Abschnitte und Rhythmen, in seine modalen Skalen, in die vom Dur-Moll-Schema abweichenden Tonleitern, die aber auch nicht chromatisch sind, die so konstruiert sind, dass sie nicht auf eine andere Tonstufe transponiert werden können.

Der Saal des Gesellschaftshauses mit Blick auf das Palmenhaus war bis auf den letzten Platz besetzt – der Blick ins Grüne stellte die Verbindung zum Natur- und Kunsterlebnis her

Als Messiaen die 13 Stücke des Catalogue zwischen 1956 und 1958 komponierte, hatte er sich längst angewöhnt, in seine Noten an den entsprechenden Stellen die jeweilige Vogelart anzugeben: Waren es im ersten Konzertteil der Mittelmeersteinschwätzer, der Seidenrohrsänger, der Pirol, dem Messiaen ein klingendes Denkmal setzte, und die Blaumerle, so waren es im zweiten Teil der Konzertfolge die Alpendohle, die Kurzzehenlerche, der Trauersteinschmätzer, der Mäusebussard und der Teichrohrsänger, deren gegensätzlichen Temperamente Aimard voller Elan, Konzentration, Diskretion und Wucht im Konzert zum Ausdruck brachte, die Triller des Vogelträllerns beim Teichrohrsänger ebenso voll auskostend wie das Nachklingen des Pedals oder auch die schroffen Abgründe der Mäusebussarde.

Aimard vermittelte, dass Messiaens Motive, seine elementaren Tonfolgen und irregulären Rhythmen neue Bezugspunkte schaffen, die an die Stelle der traditionellen Tonalität getreten sind. Gebannt und ohne einen Muckser verfolgte das Publikum die pianistisch bis zur Erschöpfung virtuos umgesetzten musikalischen Porträts der verschiedenen Vogelcharaktere und applaudierte stehend. Eine Steigerung der Qualität des Spiels war kaum mehr vorstellbar… Aber lesen Sie dazu Angela Federspiels Eindrücke:

Alle Fotos: Petra Kammann

HÖHEPUNKT IN DEN FAUST-VOGELHALLEN IM ZOO (Teil 3) 

Von Angela Federspiel

Konzert Catalogue d´Oiseaux von Olivier Messiaens mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard im Rahmen des Projektes Katalog der Vögel in den Faust Vogelhallen im Zoo Frankfurt in Frankfurt am Main am Sonntag, 23.09.2018. Das Konzert ist eine Kooperation der Alten Oper Frankfurt mit dem Zoo Frankfurt, Foto: Wonge Bergmann

Zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags konnten wir dann beim Verblassen des Tageslichts im Vogelhaus des Zoos erleben, wie lebendige Rotohrbülbül, Fischerturako (Kuckucks-Familie) und Schuppenkopfrötel (Drossel-Familie) mit lebhaftem Gesang in einen Dialog mit Pierre-Laurent Aimards Klavierspiel traten, wo der Große Brachvogel, Steinrötel, Waldkauz und Heidelerche auftraten. Anrührend, wie ähnliche Motive beiderseits des Durchgangs zur Freiflughalle zu hören waren. Das Klavierspiel direkt vor dem Vorhang hat die für uns unsichtbaren Vögel in ihrer Gefangenschaft hinter dem Vorhang offensichtlich zu lebhafterem Gesang animiert.

Ein Tag zwischen Aufgang und Untergang der Sonne, begleitet von künstlerischem und natürlichem Vogelgesang: ein kompromisslos ganzheitliches Erlebnis und Hör-Abenteuer zwischen Kultur und Natur.

Auch im 3. Teil des über den Kreis des Tageslichts verteilten Zyklus waren Messiaens Transformationen der Vogelgesänge von Brachvogel, Drossel,  Schleiereule und Lerche nicht als naturalistisches Abbild im Sinne von Lautmalerei zu verstehen. Jedoch entstand  durch die wiederholt gezwitscherten Terzen des Turako im Hintergrund und in den Pausen des Klavierspiels ein geradezu magischer Bezug zur Natur. Fast spürte ich eine Wehmut über den zunehmend verstummenden Vogelgesang in unseren Kulturlandschaften, wenn ich mir meine Hörersituation in einem Zoo mit vielen künstlich im Klavier zum Leben erweckten und wenigen lebendigen Vogelstimmen bewusst machte.

Andererseits schaffte das Werk Messiaens es, Erfülltheit und Inspiration zu schenken. Es verzauberte und begeisterte die Zuhörer besonders beim 2. und 3. Teil. Das liegt meines Erachtens daran, dass Messiaen die von ihm transkribierten echten Vogelstimmen mit ihren markanten Vogel-Intervallen und komplizierten Rhythmen, Tonrepetitionen, flirrenden Trillern und luziden Klangfarben zu fasslichen musikalischen Strukturen gestaltet. Diese kontrastiert er mit warmen, tiefen, oft extrem kraftvollen Klavierklängen oder bettet sie in diese ein. Manche an Debussy (z.B. La Cathédrale Engloutie) anknüpfenden tonalen, sehr „schönen“ Akkord-Verbindungen streicheln das Ohr und machen es aufnahmebereit für wiederum darauf folgende freitonale Motiv-Serien.

Keine Frage, dass der „Katalog der Vögel“ für Klavier mit einer insgesamten Länge von über drei Stunden ein äußerst anspruchsvoller Kunstgenuss war. Pierre-Laurent Aimard hat durch sein begnadetes Spiel das hochabstrakte Werk in einen emotionalen Genuss verwandelt.

Ein ganz außergewöhnliches Programm-Konzept wie dieses, das den Künstler mit seinem Instrument hinaus wandern lässt aus den Kulturtempeln (hier der Alten Oper) ins „echte“ Leben und in Kontakt zu anderen Domainen – wie Architektur, Naturwissenschaft und Urbanität – bringt, ist ein Format der Zukunft. Nur durch neue Vermittlungskonzepte kann die komponierte Musik – insbesondere die Neue Musik nach 1945 – auch einem jüngeren Publikum und neuen Hörerkreisen zugänglich gemacht werden.

Sie brauchen diese Kunst zum Leben.

Zum Nachhören  

Olivier Messiaen: Catalogue d’oiseaux, Pierre-Laurent Aimard, Klavier, Label Pentatone, Bestellnummer PTC 5186 670

Alle Fotos, falls nicht anders bezeichnet: Petra Kammann

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