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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Raffaela Zenoni: Malerei, Skulptur

Begegnungen mit Ahnen, Ariel und Alberich. Und: Es schläft sich kreativ im Mosaik

Von Erhard Metz

„Den Zufall bändige zum Glück“ heißt es bei Goethe. Gerade auch Zufälle führen uns zur Kunst, wo die Suche nach ihr oft in der Vergeblichkeit des Strebens endet. Wir zögern nicht, Goethe zu folgen und einen unverhofften Fund in das Licht einer willkommenen, in der Unergründlichkeit des Lebens vielleicht vorbestimmt erscheinenden Betrachtung zu stellen. Der Fund ist das malerische und skulpturale Werk der Schweizer Künstlerin Raffaela Zenoni. Er bringt uns Betrachtenden indes in eine gewisse Verlegenheit: ob der Authentizität, der von uns empfundenen Übereinstimmung von innerer Persönlichkeit der Künstlerin mit ihrem schöpferischen Werk, wie uns in Begegnungen mit ihr erahnbar und erfahrbar wurde. So obliegt uns, zur Künstlerin, wenn wir coram publico einige Gedanken über ihre Werke entfalten, eine geziemende Distanz zu wahren; nicht zuletzt auch um unseren geneigten Leserinnen und Lesern zum eigenen Umgang mit diesen Werken den gebührenden Spielraum zu eröffnen, wiederum ganz im Sinne Goethes: „Ich lasse mir nur alles entgegenkommen und zwinge mich nicht, dies oder jenes in dem Gegenstande zu finden“, wie er einmal an Charlotte von Stein schrieb. Oder wie es Raffaela Zenoni mit ihren eigenen Worten so trefflich zu formulieren weiß: „Wir sehen in einem Werk das, was wir selber zulassen“.

V.l.n.r.: Aus Serie „Die andere Ahnengalerie“, 2014, Acryl auf Leinwand, 60 x 180 cm; „Stabat Mater“ Gute Nachricht, 2015, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm; aus Serie „Die andere Ahnengalerie“, 2014, Acryl auf Leinwand, 60 x 180 cm

Beginnen wir mit einer von Raffaela Zenonis eigens arrangierten Komposition dreier Bildtafeln, kein Triptychon, ein jedes Werk kann gut für sich allein bestehen, vielmehr eine Art Trilogie: in der Mitte das „Stabat Mater Gute Nachricht“, links und rechts umrahmt von zwei schlanken Leinwänden aus der Serie „Die andere Ahnengalerie“ – eine wirkmächtige Gruppierung.

Die den Mittelpunkt bildende wuchtig wie asketisch-minimalistisch erscheinende „Stabat Mater“-Tafel wird unschwer als eine abstrahierte Kreuzigungsszene mit der Schmerzensmutter – „Stabat mater dolorosa / Iuxta crucem lacrimosa, / Dum pendebat filius …“ gelesen werden können. Das Bild wurde im Februar 2016 im Rahmen eines Konzerts mit sakraler Musik (Philippe Partridge: „Stabat Mater“ für Mezzosopran, Chor und Instrumentalensemble; „Qui seminant in lacrimis“, Motette für Chor à capella) in der Basilika St. Willibrord im luxemburgischen Echternach gezeigt, bereits zuvor hatte die Musik die Künstlerin zu dem Gemälde inspiriert. Rätselhaft bleibt der Beititel dieser Arbeit „Gute Nachricht“ nur denjenigen, die ihn nicht mit der gleichlautenden Übersetzung des Begriffs „Evangelium“ aus dem Altgriechischen konnotieren.

Im Kontext zu dem eindringlichen Schwarz und Weiß dieser Leinwand stehen die seitlich positionierten schmalen vertikalen Tafeln mit figurativer Darstellung jeweils eines zur Mitte hin blickenden Kopfes in Weiß und blassem Oker vor schwarzem Hintergrund. Eine Kreuzigungsgruppe ließe sich im Deutungszusammenhang zur Mitteltafel assoziieren, vielleicht zwei Frauengestalten – Maria Magdalena und jene andere Maria, Mutter des Jakobus oder die Frau des Kleopas bieten uns die Evangelien an – , das linke Gesicht mit weit zum Schrei geöffnetem Mund, das rechte wirkt wie zum Schrei gehindert bandagiert und geknebelt. Beide Motive lassen auch andere Deutungen zu, zählen sie doch zu der Serie, die die Künstlerin als „andere Ahnengalerie“ betitelt und der wir uns im folgenden zuwenden.

Aus Serie „Die andere Ahnengalerie“, 2014, Acryl auf Leinwand, 100 x 120 (l.) und 100 x 140 cm (re.)

An Vergänglichkeit und Tod könnten die beiden figurativ gestalteten Köpfe von Ahnen in Schwarz mit allerlei Graustufen und Schattierungen zunächst gemahnen, wäre da nicht bei näherer und intensiverer Betrachtung doch eine gewisse Lebendigkeit in den Gesichtern auszumachen: eine „Schalkhaftigkeit“ etwa im linken, wie unter einem zurückgelupften weißen Leichentuch hervorlugenden, mit leicht geöffneten Augen neugierig die hinterbliebene Nachwelt betrachtend. Das rechte Gesicht, etwas mürrisch im Ausdruck, scheint ebenfalls seinen Betrachter anzublinzeln, mißtrauisch vielleicht, ob sich die Nachfahren auch wirklich im Sinne des vom Irdischen Geschiedenen verhalten. Nein, so „gänzlich tot“ – so sind wir überzeugt – sind diese Ahnen nicht. Und wir fühlen uns auf einmal nicht mehr so ganz sicher, wenn wir sie anschauen: Könnte es sein, dass nicht nur wir sie, sondern sie uns beobachten?

Überhaupt: Raffaela Zenoni betont stets den Dialog zwischen Künstlerin, ihrem künstlerischen Werk und dem Betrachter: „Die Annahme einer Spiegelung mit dem Werk erklärt uns viel über uns“, so schreibt sie. „Auch das ist eine wesentliche ‚Funktion‘ der Kunst: der Dialog mit der eigenen und der betrachtenden Person. Das kann anstrengend sein, unbequem, erleuchtend, erquickend, erneuernd, eine Art Offenbarung, ein ‚Aha-Erlebnis‘, und ungeahnte Erkenntnis sein. Für die Entwicklung ist sie bedeutsam für unsere Persönlichkeit und der Erkenntnisgewinnung im Allgemeinen“. Eine Feststellung, die wir nicht hätten besser treffen können.

Und noch ein Gedankenspiel sei in diesem Zusammenhang erlaubt: Was sind, wer sind eigentlich Ahnen, unsere Vorfahren? Je weiter wir uns in Dezennien und Zentennien zurückzudenken versuchen, umso weiter bis ins kaum mehr Überschaubare erstreckt sich der Kreis der Verwandtschaft, hat man doch vier Großeltern, acht Urgroßeltern und bereits 16 Ur-Urgroßeltern – letztere waren, so bedenke man, Zeitgenossen Goethes – und so fort. Sind nicht am Ende alle mit allen verwandt? Wollen uns auch diese Erkenntnis Raffaela Zenonis schöne Ahnen-Künste vermitteln? Und, ja … ars longa, vita brevis!

Aus Serie „Die andere Ahnengalerie“, 2014, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm

Dieser Ahne im kaiserblauen Gewand „lebt“ wahrhaftig: großmächtig und selbstbewusst wie ein Barockfürst schaut er drein, gleich scheint er heraussteigen zu wollen aus seiner großformatigen Leinwand, um seine Regierungsgeschäfte fortzuführen. Raffaela Zenoni gelingt es, mit wenigen markant wie kraftvoll gesetzten Flächen und Farben Ahnen wie diesem eine frappierende Vitalität einzuhauchen und mit einer in den Raum greifenden Aura zu umgeben. Stehen wir unmittelbar vor diesem Bildwerk, spüren wir fast körperlich ein Dimensionen überschreitendes Gegenüber. Und beiseitegesprochen: Hat dieser Ahne wohl Humor? Aber ja, die Künstlerin hat ihn in seine Augen, seine Gesichtszüge hineingemalt!

„Die Ballonin“, 2018, Skulpur, Gips bemalt, ca. 90 x 180 cm

Bevor wir mit der Leinwandmalerei fortfahren, erlauben wir uns einen Exkurs auf das skulpturale Werk von Raffaela Zenoni und beginnen mit ihrer „Ballonin“. Wie bitte, „Ballonin“? Ja! In luftig-geistige Höhen erhebt sich ein solches Wesen, Shakespeares Luftgeist Ariel gleich, der in verwandter Gestalt und nunmehr als Herr der Elfen den zweiten Teil von Goethes Faust-Dichtung durchzieht, im jüdisch-christlichen Kontext als ein Engel erscheint, im mittelalterlichen als ein über die Elemente wachender Geist.

Nun aber steht die „Ballonin“ erst einmal vor uns auf festem Boden. Ein Torso, überlebensgroß, ein weiblicher ohne Zweifel. Er weckte in uns zuerst beklemmende Gefühle: ein überdimensional geratenes Wickelkind, eine über und über in durchgeblutete Mullbinden einbandagierte Verletzte, gar eine Mumifizierung assoziierten wir. Doch dann wie eine Verwandlung: Eine Landschaft, das Himmelblau spiegelnde Seen, gebirgige Faltenwürfe, über die sich eine ruhige Friedlichkeit legt und über die unsere „Ballonin“ nunmehr schwebt, aller Bedrücknis und Erdenschwere entrückt. Vielleicht können wir es bei dieser „Ballonin“ wieder einmal mit Goethe (in „Dichtung und Wahrheit“) halten, wenn wir uns erlauben, an die Stelle des Begriffs der „Poesie“ die „Kunst“ zu setzen: „Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und lässt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen“.

Fest auf dem Boden des Irdischen und ohne Absicht zu entschweben hingegen stehen „Cousine & Cousin“ als Skulpturenpaar vereint. Mögen die beiden sich, oder langweilen sie sich über einander, oder streiten sie? Als ein gewitztes Paar erscheinen sie uns jedenfalls, durchaus putzig anzuschauen, wiederum hat Raffaela Zenoni in ihre Geschöpfe eine Prise Humor eingeschrieben. Die Cousine, links stehend, wendet ihren Kopf auf dem betonten Schwanenhalskörper dem Cousin entgegen, dieser erwidert ihr dickschädelig mit seinem Dreieckskopf: So könnte es sein, oder aber auch wiederum ganz anders, denn die zwei haben jeweils mehrere verschiedene Gesichter. Erinnern wir uns: „Wir sehen in einem Werk das, was wir selber zulassen“!

„Cousine & Cousin“, 2017, Skulpturen, Gips bemalt, Höhe ca. 160 cm

Und nun zu den Alberichen, den Zwergen und kleinen Naturgeistern! Es sind gesellige Wesen, diese „Talking pieces“ genannten, aus einem Vierkantholz entwickelten Skulpturen, denn sie treten stets zu mehreren auf. In verschiedene Farben gefaßt sind sie alle, diese kleinen Kobolde und Hausgeister, bei den Römern hätten sie Penaten und Laren gehießen. Am wohlsten fühlen sie sich in kleinen Alkoven und Nischen, von denen aus sie das Geschehen im Haus beobachten und – wer will es wissen – schalk- oder gar spukhaft beeinflussen?

Aus Serie „Talking pieces“, 2017, Skulptur, Holz, geschnitzt, bemalt, Höhe ca. 50 cm

Die liebenswürdigen Gestalten bemalt die Künstlerin rundum auf allen vier Seiten mit verschiedenen Gesichtern, mal blicken diese grimmiger, mal freundlicher, mal listiger, mal verschmitzter, mit größeren oder kleineren wachenden oder blinzelnden Augen, längeren oder kürzeren Nasen und Ohren. Nehmen wir an, sie alle meinen es gut mit uns, mit dem gegenwärtigen Betrachter ebenso wie mit ihren Käuferinnen und Käufern, denen sie ein heiteres Stück Kunst in den häuslichen Alltag bringen!

Wir kommen zurück zur Malerei, hier zunächst zu einer farben- und formbetonten, im Grunde gegenstandslosen Arbeit. Sie besticht durch ihre klare, durchkomponierte Struktur mit einem angedeuteten Stab- oder griechischen Kreuz, umgeben von einem Viertelkreis, mit dem akzentsetzenden, uns nahekommenden warmen Rot, der ausbalancierten Gewichtung der Flächen und der in Malerei gekleideten Kontrapunktik von Schwarz und Weiß. Für Neugierde sorgt das kleine, in der rechten oberen Ecke platzierte verspielte Element mit den Farbnuancierungen in Blau und Gelb – ein Geheimnis der Künstlerin.

„Pax“, Friede, lautet der Titel der mittelformatigen Leinwand, und eine Assoziation an das bekannte, 1958 von dem britischen Künstler Gerald Holtom entworfene Peace-Friedenszeichen der Kampagne für nukleare Abrüstung könnte sich bei dem einen oder anderen einstellen.

↑ „Pax“, 2007, Acryl auf Leinwand, 115 x 146 cm
↓ „Furchtlos“, 2010, Acryl auf Leinwand, 100 x 150 cm

Ganz anders das Gemälde „Furchtlos“, welchem Raffaela Zenoni mit der für ihre Arbeiten ungewöhnlichen goldfarbenen Rahmung offenkundig einen besonderen Stellenwert zumisst. „Schwer“, schwermütig wirkt das gedeckte, in die Ferne führende, vom Helleren bis in das tiefste Dunkel wechselnde Blau. Man kann erörtern, ob das Bild ungegenständlich oder stark abstrahierend ist, wir tendieren zu Letzterem und können uns einen schweren, niederknienden, vielleicht schmerzenden Körper vorstellen, auch den Leib einer Schwangeren vor der Geburt. Die Schwere, das Bedrückende steht in einer innerlichen Spannung zu der Würde, Feierlichkeit und Erhabenheit ausstrahlenden Rahmung – Werk und Rahmung verbinden sich zu einem monumental wirkenden Ganzen.

Heiter und in den verschiedensten Farben der Palette angelegt erscheinen hingegen die beiden Werke aus der Serie „Im Mosaik schlafen“. Das Mosaik: Es steht hier für die Vielfalt und Farbigkeit nicht nur eines künstlerischen Daseins, sondern eines in seinen grundsätzlichen Abläufen und seinem scheinbaren Indeterminismus unvorhersehbaren Lebens samt aller seiner Schicksale und Zufälle, im Leichten und Schönen wie im Mühsamen und Bitteren. „Schlafen im Mosaik“ deuten wir als ein traumbestimmtes Schlafen, in welchem die Träumenden die vielfältigen Facetten ihrer Persönlichkeit und ihrer umgebenden Lebensbereiche durchmessen. Das Mosaik symbolisiert uns künstlerische Kreativität und schöpferische Freiheit. „Warten in Farbe, es ist ein Fest, das Leben“ schreibt Raffaela Zenoni, die von der „heilenden Wirkung“ der Kunst spricht, in einem künstlerischen Tagebuch, und ist dabei ganz nah beim „faustischen“ Goethe: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“.

Aus Serie „Im Mosaik schlafen“: „Tante Selva“ (li.), „Marie“ (re.), jeweils 2016, Acryl auf Leinwand, 130 x 195 cm

Einen kleinen Blick nur konnten wir vermitteln auf einige aktuellere Werke eines großen, in den Jahren gewachsenen umfangreichen Œuvres. Wollte man dies quantifizieren, so überwögen in den früheren Jahren wohl die Werke der gegenstandslosen Malerei. Allerdings läßt sich die Künstlerin in der Frage einer figurativen, abstrahierenden oder ungegenständlichen Malerei nicht festlegen, wie überhaupt sie sich in kein ikonografisches Raster einordnen lassen will. Uns scheint sie dabei vielleicht eher einem abstrakten, jedoch auch wiederum figurativen individuellen Expressionismus zuzuneigen. Manche ihrer – hier nicht abgebildeten – Werke lassen sogar an den Fauvismus der Jahrhundertwende oder an die skandalträchtigen Jungen bzw. Neuen Wilden der 1980er Jahre erinnern. Heute sind alle Stile erlaubt mit allen denkbaren Durchmischungen, freier war die Malerei noch nie. Und wir schätzen die künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit, vor allem vom leidigen Mainstream, die Raffaela Zenoni für sich in Anspruch nimmt. Nicht zu vergessen gilt es festzuhalten, dass ihr skulpturales Werk bei entsprechender Betrachtung durchaus als eine Fortsetzung ihrer Malerei in die Dreidimensionalität hinein erscheinen kann.

Raffaela Zenoni, in Altdorf/Uri geboren, studierte zunächst Pädagogik und Didaktik und später Malerei am Studio HC – Freie Akademie für Musik, Tanz, Kunst in Bern mit dem Diplom-Abschluß Master of Fine Arts. Ihre beruflichen und künstlerischen Wege führten sie nach Paris, London und Rom und anschließend weiter nach Brüssel, Bern, Luxemburg, Berlin und Frankfurt am Main. Ihre Werke wurden unter anderem in Ascona und Lugano, in Echternach, Ettelbrück und Luxemburg, in der Abbaye de Neumünster und natürlich in Berlin ausgestellt und befinden sich in Privatbesitz in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Spanien sowie in den USA. Raffaela Zenoni lebt und arbeitet in Berlin und in Frankfurt am Main.

Abgebildete Werke © Raffaela Zenoni; Fotos: Erhard Metz

→ Raffaela Zenoni: „Le quattro stagioni“

 

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