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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Heinrich Kirchhoff brachte die Moderne in die Weltkurstadt

Das Museum Wiesbaden lädt in den „Garten der Avantgarde“

Von Hans-Bernd Heier

Wiesbaden – 100 Jahre, nachdem das Museum Wiesbaden erstmals die private Kunstsammlung des Wahl-Wiesbadeners und Gartenliebhabers Heinrich Kirchhoff (1874–1934) zeigte, widmet das Museum dem Sammler und seiner Kollektion wieder eine große Ausstellung. Unter dem etwas sperrigen Titel: „Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde…“ sind in der vorzüglichen Schau bis zum 25. Februar 2018 rund 200 hochkarätige Werke versammelt. Neben Gemälden, Plastiken, Zeichnungen, Aquarellen und Radierungen sind auch die von Max Slevogt angefertigten, äußerst seltenen Lithografien zur Luxusausgabe von James Fenimore Coopers „Lederstrumpf“ zu bewundern. Als das Museum 1917 die Arbeiten präsentierte, erwarb sich die bis dahin als höchst konservativ wahrgenommene, preußisch geprägte Kur- und Bäderstadt Wiesbaden von hier auf jetzt den landesweiten Ruf als neues Zentrum der Avantgarde – und das neben Berlin.

Alexej von Jawlensky „Turandot II“, 1912, Öl auf Karton, 53,9 x 49,5 cm; Sprengel Museum Hannover; Foto: bpk, Michael Herling, Aline Gwose

Der Naturliebhaber Kirchhoff war 1908 mit seiner Familie aus dem Ruhrgebiet des warmen Klimas wegen nach Wiesbaden gezogen, um hier ein Gartenparadies anzulegen. Hier entdeckte er auch seine Leidenschaft für die Kunst. Dabei entwickelte er ein unglaubliches Gespür für hochkarätige Werke. Fortan widmete der Privatier sich ganz seinen Leidenschaften Kunst und Natur.

Heute ist der bedeutende Sammler aufgrund der nationalsozialistischen Machenschaften dennoch fast in Vergessenheit geraten. Und das, obwohl in seiner am „Sonnenberg“ gelegenen geräumigen Villa mit dem tropischen Garten, den Kirchhoff selbst angelegt hatte, das „Who‘s Who“ der Avantgarde ein- und ausging. Unter seinen Gästen waren nicht nur Maler wie Max Beckmann, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Emil Nolde oder Christian Rohlfs, sondern auch Kunstgelehrte, Museumsdirektoren und selbstverständlich auch Kunsthändler.

Aber der wohlhabende Kirchhoff war nicht nur Sammler, sondern auch ein großzügiger Mäzen. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs hatten viele Künstler in eine Lebens- und Schaffenskrise gestürzt. Vor allem die jungen Talente, deren Studium zum Teil durch den Krieg jäh unterbrochen worden war, lebten am Existenzminimum. Heinrich Kirchhoff engagierte sich in dieser Zeit besonders für die Maler, die noch am Beginn ihrer Karriere standen, wie Josef Eberz, Conrad Felixmüller und Walter Jacob. Als „Mäzen der Moderne“ bot er ihnen finanzielle Förderung, Unterkunft und einen Atelierplatz. So entstanden zahlreiche Arbeiten vor Ort, die das Umfeld des Sammlers zeigen.

Heinrich Kirchhoff und Alfred Flechtheim vor dem Hintereingang des Museums Wiesbaden, um 1917/8; Nachlass Mieze Binsack (geb. Kirchhoff)

Der für Wiesbaden bedeutendste Künstler, den der mäzenatische Sammler unterstützte, war Alexej von Jawlensky. Dass sich heute im Landesmuseum die weltweit bedeutendste Sammlung mit Werken von Jawlensky in öffentlichem Besitz befindet, ist zweifellos Kirchhoff zu verdanken: Aufgrund dieser Förderung hat der damals noch im Schweizer Exil lebende Maler beschlossen, sich mit seiner Familie 1921 dauerhaft in der damaligen Weltkurstadt niederzulassen.

Die zunehmende Abstraktion im Werk des Malers, seine serielle Bearbeitung eines wiederkehrenden Themas – nämlich der Gartenvariationen – faszinierten Kirchhoff und führten dazu, dass er im Laufe der Zeit über 100 Arbeiten des Künstlers erwarb, darunter nicht weniger als 50 Ölgemälde. Das Kopfbild „Turandot II“ schenkte der Maler dem leidenschaftlichen Sammler zum 50. Geburtstag mit der Widmung: „Dem Sammler H. Kirchhoff und lieben Freund zum 50jährigen Geburtstag von A. Jawlensky 10.7.24“.

Der Frauenliebling, der in die unmittelbare Nachbarschaft seines Förderers zog, war auch mit Kirchhoffs Ehefrau Tony befreundet. Er genoss die herzliche Aufnahme in die Familie Kirchhoff. Es entstanden eine Reihe von Werken, in denen Jawlensky sogar seine Hinwendung zur Abstraktion unterbrach. Vor allem Tony, die er mehrere Dutzendmal porträtierte, zog ihn mit ihrer vielgerühmten Schönheit in den Bann. In einem „intimen“ Kabinett sind diese Arbeiten zusammen mit Briefen, Skizzen und einem außergewöhnlichen Schmuckstück, das der Künstler eigenhändig für Tony Kirchhoff kreierte, zu sehen.

Alexej von Jawlensky Anhänger: „Kleiner Frauenkopf“ um 1921, Öl auf Silber, 4,5 x 6,3 cm; Franz Marc Museum, Kochel a. See, Dauerleihgabe ahlers collection

Der Rundgang durch Kirchhoffs „Garten der Avantgarde“ im Landesmuseum könnte nicht passender beginnen als im historischen Oktogon der Gemäldegalerie mit den floralen Fresken im Deckengewölbe. Dieser Raum lässt mit den großformatigen fotografischen Gartenabbildungen und einigen farbintensiven Gemälden Kirchhoffs Intention der Zusammenführung von Kunst und Natur lebendig werden.

Franz Marc „Das Äffchen“, 1912, Öl auf Leinwand, 70,4 x 100 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

In der grauenvollen Schreckenszeit des Ersten Weltkriegs und den folgenden entbehrungsreichen Nachkriegsjahren bot Kirchhoffs geradezu paradiesisch anmutendes Gartenidyll vielen Künstlern einen Zufluchtsort, der ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt weckte. Ganz enthusiastisch schrieb Kurt Schwitters 1927: „Soeben aus dem Garten zurückgekehrt, muss ich gestehen, dass von ihm ein seltener Reiz und Zauber ausgeht. Eigentlich gibt es den ganzen Garten überhaupt nicht, er ist so unwirklich, dass man ihn gar nicht glaubt. Er ist so unwirklich, wie die Kunst, die es also auch eigentlich nicht gibt. Und im Grunde gibt es auch keinen Heinrich Kirchhoff, denn er ist so unwirklich, wie sein Garten und seine Bilder.“

Doch sowohl der von Kirchhoff gestaltete exotische Garten wie auch seine herausragende Kollektion existierten tatsächlich. Zunächst sammelte der „Botschafter der Moderne“ Gemälde des Triumvirats des deutschen Impressionismus. Mit einem bemerkenswerten Gespür für Qualität erstand er Hauptwerke von Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt. Die neuartige Freilichtmalerei, die sich dem Malen vor der Natur verschrieben hatte und an den aus Frankreich kommenden Maleinflüssen orientierte, gehörte noch Anfang des 20. Jahrhunderts zu der vom Kaiser wenig geschätzten Avantgarde. Die Künstler waren hingegen beim aufstrebenden Großbürgertum äußerst populär und erfreuten sich großer Nachfrage. 1918 gab Kirchhoff bei Liebermann, seinerzeit der gefragteste Porträtmaler, sein Bildnis in Auftrag, das auch in der großartigen Schau zu sehen ist.

Oskar Kokoschka „Die Geschwister“, 1914, Öl auf Leinwand, 7 x 120 cm; Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren

Das Herzstück der Sammlung Kirchhoff bildeten jedoch die Expressionisten. Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte Kirchhoff begonnen, farbintensive und formal expressive Bilder zu sammeln. Gezielt suchte er nach exemplarischen Spitzenwerken, um den Facettenreichtum des deutschen Expressionismus abbilden zu können. Unter den Erwerbungen finden sich farbgewaltige Arbeiten wie diejenigen von Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehmbruck, August Macke, Franz Marc, Emil Nolde und auch solche, die schon früh in Richtung der Abstraktion gingen, wie diejenigen  von Christian Rohlfs. Auch Marc Chagalls bezauberndes Ölgemälde aus dem Jahre 1915 „Der Geburtstag“ ist in der Schau mit der ihm eigenen poetischen Bildsprache zu bewundern. Dieses Highlight gelangte zwischen 1925/7 in die Kollektion. „Trotz der stilistischen Unterschiede ähnelten die Kompositionen sich inhaltlich: Immer wieder wird der Mensch ins Zentrum gerückt und seine Existenz, sein Handeln und seine Verletzlichkeit überprüft, um der Frage nach der eigenen Identität auf den Grund zu gehen“, so die Kuratoren Roman Zieglgänsberger und Sibylle Discher.

Nach dem Sturz der Monarchie kam es zu revolutionären Veränderungen, auch in der Kunst. Aus der Zerstörung heraus entstanden neue künstlerische Ideen, wie zum Beispiel die geometrisch-abstrakten Konstruktionen. In jener Zeit begann Kirchhoff, seine impressionistischen Werke zu veräußern und sich zunehmend den Bauhaus-Vertretern wie Paul Klee, Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger und László Moholy-Nagy zuzuwenden. Mit welcher Radikalität und Kompromisslosigkeit der leidenschaftliche Sammler diesen Weg vom Impressionismus zur Abstraktion zurücklegte, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass er zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zehn Jahre lang Kunst sammelte. In einem Brief an Museumsdirektor Gustav Hartlaub beschreibt Kirchhoff seine Sammeldevise: „Mein ganzes Bestreben wird darauf gerichtet sein, die Sammlung im künstlerischen Wert immer mehr zu heben und weiter zu einer deutschen Sammlung der Gegenwart auszubauen“.

Wassily Kandinsky „Ein Zentrum“, 1924; Öl auf Leinwand, 140,6 x 99,5 cm; Collection Gemeentemuseum Den Haag, The Hague, The Netherlands

Das Ende der Kirchhoffschen Sammlung kam abrupt. 1933/34 wurden aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung die dem Landesmuseum als Dauerleihgaben überlassenen progressiven Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum entfernt und der Familie des Sammlers zurückgegeben. Heinrich Kirchhoff verstarb kurz darauf. Politische Ereignisse und familiäre Schicksalsschläge führten dazu, dass die Sammlung schließlich durch die Familie nach und nach aufgelöst und die Arbeiten in alle Winde verstreut wurden. „Damit ging“, laut Zieglgänsberger, „ein unersetzbares Stück gesammelte Kunstgeschichte verloren“. Auch der einzigartige Garten wurde Opfer des Zweiten Weltkriegs. Heute finden sich die Werke aus der ehemaligen Kirchhoff-Sammlung weltweit in den renommiertesten Museen wieder (u.a. MoMA, Solomon R. Guggenheim, The Metropolitan Museum, alle New York), was für ihre außergewöhnliche Qualität und Bedeutung spricht.

Die sehenswerte Ausstellung enthüllt die Genese der „Sammlung Kirchhoff“ über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahrzehnten (1914 bis 1933). „Hier wird die Lebensgeschichte des Sammlers und sein Weg nachgezeichnet sowie seine Gedanken zu der Kunst seiner Sammlung, die damals neu und revolutionär war“, betont der Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain Dr. Helmut Müller. Dabei gewährte Ute Beger, die den Kuratoren bei ihren dreijährigen Recherchen sehr behilflich war, Einblick in das Familien-Archiv.

Die Schau belegt anhand der präzise ausgewählten Werke aus dem ehemaligen Sammlungsbestand – aufwendig nachgespürt und zusammengetragen aus nationalen und internationalen Museen sowie Privatsammlungen –, dass der “vergessene Garten Kirchhoff“ deutschlandweit eines der wichtigsten Sammelbecken der Avantgarde in den 1920er-Jahren war.

Heinrich Kirchhoff in seinem Gartenidyll, umgeben von den Ölgemälden „Familie“ von Emil Nolde und „Die Familie Kirchhoff“ von Walter Jacob; Der Garten der Avantgarde Heinrich Kirchhoff . Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde … 2017 Museum Wiesbaden/Bernd Fickert © Museum Wiesbaden / Bernd Fickert

Der „Botschafter der Moderne“ zog mit seinem Gartenparadies und seiner exzellenten Kollektion auch andere Sammler an. Für das Museum Wiesbaden entpuppten sich die Besuche der Künstlerin Hanna Bekker vom Rath (1893–1983) als von größter Bedeutung. Zweimal hat sie sich bei Kirchhoff ins Gästebuch eingetragen: am 5. Januar 1918 und neun Jahre später am 20. Oktober 1927. „Möglicherweise war es Kirchhoff, der als Künstlermagnet und starke Persönlichkeit einen so prägenden Eindruck bei ihr hinterließ, dass sie um 1920 selbst begann, Kunst zu sammeln“, mutmaßen Zieglgänsberger und Discher. Denn eine der ersten Erwerbungen von Hanna Bekker war die Büste der „Knieenden“ des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, der mit der zeitgleich entstandenen Skulptur „Badende“ in der Sammlung Kirchhoff vertreten war.

Hanna Bekker vom Rath unterstützte später insbesondere diejenigen expressionistischen Künstler, denen sie bereits während des Nationalsozialismus das Malen trotz Arbeitsverbot mutig in ihrem Privathaus in Hofheim am Taunus, dem sogenannten Blauen Haus, ermöglicht hatte. Ihre Privatsammlung mit Hauptwerken von Malern wie Max Beckmann, Erich Heckel, Adolf Hölzel, Alexej von Jawlensky oder Karl Schmidt-Rottluff – alles Künstler, deren Werke ehemals auch in der Sammlung Kirchhoff vertreten waren und deren Malerei sie dort kennengelernt hatte – kam 1987 an das Museum Wiesbaden, wo sie heute das hoch qualitätsvolle Fundament der Abteilung Klassische Moderne bildet.

Museumsdirektor Alexander Klar bezeichnet die Ausstellung als einen “weiteren Meilenstein für das Wiesbadener Museum“. Eines der zentralen Anliegen sei es, „die Museumsarbeit so sehr als möglich mit der universitären Forschung zu verbinden, im Falle der Kirchhoff-Ausstellung ist dies exemplarisch gelungen“. Die Kunsthistorikerin Sibylle Discher habe in ihrer in Kiel eingereichten Dissertation die Sammlung Kirchhoff akribisch rekonstruiert und deren weitreichende Bedeutung herausgeschält.

Die sehenswerte Schau wird gefördert durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain, die Kulturstiftung der Länder, die Sparkassenstiftung der Länder, die Naspa, die Ernst von Siemens Stiftung und die Freunde des Museums Wiesbaden.

„Der Garten der Avantgarde. Heinrich Kirchhoff: Ein Sammler von Jawlensky, Klee, Nolde…“ bis 25. Februar 2018 im Museum Wiesbaden; weitere Informationen unter: www.museum-wiesbaden.de

Fotos: Museum Wiesbaden

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