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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Nachlese Buchmesse: Sprachkultur in Frankreich und Deutschland: Unterschiede, Berührungen, Grenzgänge

Tout va bien? Über die Basis von Missverständnissen

Unterschiede, Berührungen und Grenzgänge

Eindrücke von Petra Kammann

↑ v.l.n.r.: Prof. Roland Kaehlbrandt, Polytechnische Stiftung, Prof. Hélène Carrère d’Encausse, Académie française und Prof. Heinrich Detering, Akademie für Sprache und Dichtung, Walther von Wietzlow†, Präsident der Polytechnischen Gesellschaft

Wer Deutschland und Frankreich kennt, ist immer wieder erstaunt, sind doch die Unterschiede so befremdend wie faszinierend und anregend. Frankreichs Sprachkultur ist eine ganz besondere, jahrhundertelang geprägt von Hof und Staat und von den Regeln der Académie Française. Ganz anders als bei uns. Die deutsche Sprache wurde als Volkssprache gegen Klerus und Adel „von unten“ auf den Weg gebracht, indem man dem Volk und nicht den Regeln „aufs Maul schaute“. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sieht heute anders als ihre „vornehme Schwester in Paris“ ihre Aufgabe darin, die deutsche Sprache und Dichtung durch das, was maßgeblich zu sein scheint, zu fördern mit Hilfe von Konferenzen, Veröffentlichungen und Auszeichnungen. Unter dem Titel „Unser Bezug zur Sprache – Sprachkultur in Frankreich und Deutschland: Unterschiede, Berührungen, Grenzgänge“ wurde auf einem bemerkenswerten Kolloquium der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Sprachkulturen in Deutschland und Frankreich mit Hilfe von „Grenzgängern“ beider Kulturen einander näher zu bringen. Nur so können auch gemeinsame Zukunftsperspektiven sinnvoll herausgearbeitet werden. Zu dieser Veranstaltung der Polytechnischen Stiftung hatte das Organisationskommittee „Frankfurt auf Französisch“, das Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales (IFRA/SHS) in Zusammenarbeit mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine besonders kompetente und hochrangige Sprachexpertenrunde zusammengestellt, die sich im Vorfeld der Buchmesse im „Haus des Buches“ in Frankfurt nachhaltig austauschen konnte.

 

 

↑ Professor Pierre Monnet, Leiter des Institut Franco-Allemand (IFRA), moderierte die Veranstaltung und nahm auch an einer Diskussionsrunde „So verschieden und doch so nah: Berührungen und Grenzgänge – Sprachkontakte zwischen Französisch und Deutsch in Literatur, Geschichte, Philosophie“ teil

Liebeserklärung an das Französische?

„Ich erinnere mich noch genau an den ersten französischen Satz, den ich las. Kurz vor den Sommerferien. Mit fünfzehn. Ich war mit meinen Frankfurter Freundinnen in den Stadtwald geradelt. Wir hatten an einer Lichtung gehalten und uns ins Gras gelegt. Und während sie den Proviant auspackten und eine karierte Wolldecke ausbreiteten, die irgendwie nach Hund roch, schlug ich das Buch voller Ungeduld auf.“ …Es klingt verführerisch, wenn die heute in Paris lebende Autorin Gila Lustiger im nüchternen Buchhändlerhaus ihre ersten französischen Worte, denen ein Zauber innewohnte, mit ihrer sonoren Stimme spricht: „Eh bien, prince, que vous disais-je ?“

→ Gila Lustiger

Dieser Ausspruch ist jedoch nicht etwa einer Szene aus einem französischen Roman entnommen, sondern aus Tolstois „Krieg und Frieden“, wo die Hofdame Anna Pawlowna Scherer die Gäste in ihrem Salon in der Umgangssprache des Adels begrüßt, als nämlich der dekorierte Fürst Wassil in den Salon tritt und sie ihm diese Frage stellt und er „sein kahles, parfümiertes Haupt der hingereichten Hand entgegenneigt, um sie zu küssen.“ Die Liebe zur französischen Sprache hat für Gila Lustiger hier einen Umweg über ein drittes Medium genommen, den russischen Roman, den die Jugendliche auf Deutsch las und in den Tolstoi etliche französische Sätze eingestreut hat, um die damaligen Umgangsformen so getreu wie möglich wiederzuspiegeln.

Eine ähnliche Erfahrung machte die in Frankfurt geborene, in Israel aufgewachsene und heute in Paris lebende Autorin, deren Essay „Erschütterung – Über den Terror“ kürzlich im Berlin Verlag erschienen ist, als sie vor vielen Jahren  Thomas Manns „Zauberberg“ las. Darin fragt Joachim seinen Vetter Hans Castorp: „Meinst du, dass er Mut genug hätte, de se perdre ou même de se laisser dépérir?“, woraufhin der gerade in den Schweizer Bergen Angekommene empört erwidert: „Was fängst du an, französisch zu sprechen?“

Gila Lustiger findet etliche weitere Beispiele aus der Literaturgeschichte, in der mehrsprachige Dialoge auch ein Mittel der Ästhetik und Welterfahrung sind. Denn der mehrsprachige Dialog sei nicht nur für Thomas Mann ein Kunstmittel, wenngleich „Vielsprachigkeit mit all den Problemen, die damit auch verbunden sein können“, zu Manns Lebenserfahrung und Ästhetik gehörte.

Die spätere Studentin der Komparatistik entdeckt natürlich auch die französische Literatur und ganz besonders den Großmeister der Erzählung Gustave Flaubert, den sie vor allem liebte. Auf dessen Genauigkeit in der Beschreibungskunst macht sie  besonders aufmerksam und stellte sich dabei die Frage:„Ist das, was er schreibt, typisch französisch? Vielleicht. Doch nur einer, der schaut, bis es schmerzt, der sich nicht ablenken lässt, der alles registriert, nur einer, der das, was er sieht, auch aufzuzeichnen weiß, der es notiert, skizziert, diagnostiziert, datiert, katalogisiert. Wie schaut dieser Schriftsteller denn, fragte ich mich. Wie konnte man überhaupt so schauen? Mit solch einem feinen Blick. Und wie konnte man das alles so akribisch festhalten? Bis ins allerkleinste, unerheblichste Detail. Und wie schaffte man es, die Einzelheiten durch eine einfache Aneinanderreihung emotional so aufzuladen? Ja, wie ging das denn, dass dadurch ein Sittenbild entstand?“„Nur einer, der das was er sieht, so bedachtsam, so lakonisch beschreibt wie er, der das zuvor Notierte verwirft und es neu formuliert, neu beleuchtet, nur einer, der ganze Seiten füllt, bis die Augen schmerzen und der Rücken schmerzt, nur so einer bannt die Wirklichkeit mit Sprache.“ Nicht die Reinheit der Sprache ist es also, welche die Autorin fasziniert, sondern das Aufnehmen der Realität durch die angemessene Sprache.

Allmähliche Annäherung an das Deutsche

Ganz anders sieht die erste Begegnung mit der deutschen Sprache für Alain Lance, den renommierten Übersetzer ins Französische, aus. Sie ähnelte eher einem Schockerlebnis. Das war nämlich in den 40er Jahren, als in Frankreich das Wort Achtung ! (wohlgemerkt mit Ausrufungszeichen) kursierte, das ihm wohl durch die Besatzungssoldaten in Paris und durch die intuitive Wiederholung aus dem Mund der Mutter vertraut war. So schilderte Lance mehr die Ursprünge der wachsenden Zuneigung zur deutschen Sprache und vermied das Wort „Liebeserklärung“, weil das Wort „Erklärung“ (déclaration“) für ihn belegt war, spricht man  doch auch von „Kriegserklärung“. Lance hat sehr viel später nicht nur Christa Wolf, Volker Braun oder Ingo Schulze ins Französische übertragen. Als Leiter des Institut français hat er 1989 gemeinsam mit seinem damaligen „Praktikanten“ Pierre Monnet (s.o.) das Schwerpunktthema Frankreich für die Frankfurter Buchmesse vorbereitet und ist daher bestens mit dem Thema der wechselseitigen Beziehung vertraut.

 → Alain Lance

Sein Vater wiederum, der in der Nähe von Trier Kriegsgefangener gewesen war, hatte eine herzliche Beziehung zu einem wackeren schwäbischen Bauernnamens Hermann entwickelt, der ihm ein rudimentäres Deutsch beigebracht hatte, weswegen der Vater seinem Sohn riet, im Gymnasium doch Deutsch zu lernen, auch wenn der Vater immer noch von den „chleus“ (etwa: die Barbaren, die schleuh sprechen) sprach. Aber er unterschied zwischen den Greueltaten der Nazis und individuellen Deutschen.

So geriet Alain Lance dann auch mit 16 nach Tübingen. Da kannte er bereits deutsche Gedichte wie „Das Heidenröslein“ oder „Die Loreley“ auswendig. Um sich aber auch dem Alltagsdeutsch anzunähern, verbrachte er nach und nach die Sommer in Deutschland, studierte Germanistik und bekam nach dem Algerienkrieg auch Lust, die DDR, als das „andere Deutschland“ für sich zu erkunden, studierte zwei Semester lang bei Hans Mayer in Leipzig, kurz bevor dieser wiederum nach Tübingen ausreiste, lernte den sächsischen Akzent, die musikalische Tradition des Gewandhauses und der Thomaskirche kennen, bekam ein musikalisches Ohr.

Durch Günter Mieth kam er mit dem Hyperion von Hölderlin in Berührung und lernte später an der Ost-Berliner Akademie 1964 den ostdeutschen Schriftsteller Stephan Hermlin kennen und mit ihm die literarische Zeitschrift „Sinn und Form“, in der er wiederum den Lyriker Volker Braun entdeckte, den er seither übersetzte und dessen Texte 1970, nachdem Lance zwei Jahre zusätzlich im Iran verbracht hatte, unter dem Titel Provocations pour moi et d’autres endlich auch in Frankreich erschienen.

Zurück in Paris, unterrichtete Lance Deutsch als erste Fremdsprache am Gymnasium. Da hatte er bereits auch den Reiz des gesungenen Deutsch entdeckt, etwa durch die Brecht-Vertonungen und durch den rauhen Charme der Chansonniere Gisela May: Nimms von den Pflaumen im Herbste/ Wo reif zum Pflücken sind/ Und haben Furcht vorm mächt’gen Sturm/ und Lust auf’n kleinen Wind … Beeindruckt war er ebenfalls von dem elsässischen Schriftsteller und Renaudot-Preisträger Alfred Kern. In Paris dann begegnete Lance seiner späteren Frau Renate, einer Marburger Studentin, die zum Studium an das Centre national de la recherche scientifique gekommen war, um über Heinrich Heine und Louis Aragons Briefwechsel zu arbeiten, der damals folgende Zeilen schrieb: „J’aimais déjà les étrangères quand j’étais un petit enfant…/ Schon als kleines Kind liebte ich die Ausländer“. Es wurde eine folgenreiche Begegnung.

Die Autoren Volker Braun und Alfred Kern wurden Renate und Alains Trauzeugen. Beruflich wurden die beiden ebenfalls ein Paar. Als Alain Lance „Kein Ort. Nirgends“ von Christa Wolf ins Französische übersetzte, wurde der Austausch der beiden über Sprachnuancen so intensiv, dass er von einer Übersetzerarbeit zu vier Händen sprach. Trotz dieser intensiven Erfahrung bekannte Lance auf dem Frankfurter Kolloqium, dass das Deutsche für ihn bis heute sowohl etwas Vertrautes und zugleich auch etwas Fremdes geblieben sei, was nicht bedeutet, dass er deshalb etwa den Rückgang des Deutschen in Frankreich sehr bedauere und sich daran störe, wenn er im Radio auf dem Sender „France-Culture“ den Schriftsteller auf „Englisch“ als „Piter Handke“ oder „Qualter Benjamin“ präsentiert bekommt.

Denglisches Navigieren

Dass es zwischen den verschiedenen Kulturen, die einerseits nach wie vor von den Folgen der einschneidenden Kriege, andrerseits von dem Verlust der Sprach- und Kulturkenntnisse insgesamt geprägt sind, immer noch oder schon wieder knirscht, konnte man in den verschiedensten Ausprägungen der Beiträge erleben, die ich selbst leider nicht alle habe wahrnehmen können. Das fremde Wort oder das Fremdwort, von dem der Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno als vom „Wort aus der Fremde“ sprach, scheint sich heute eher aus dem globalen und bisweilen missverstandenen Englisch zu speisen. So steuerte der zum Kolloquium geladene Prof. Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, mit einem so köstlichen wie bezeichnenden Beispiel aus der Navgiationssprache bei und schilderte seine Kulturreise in einem Mietwagen mit Navigationsgerät von Vence über Saint Paul ins südfranzösische Nizza.

→ Prof. Heinrich Detering

„Man bewundert die Architektur der alten Dörfer und Städte, die herrlichen Ausblicke von den Bergen aufs Meer, man ist entzückt über die Fresken Chagalls und die Kirchenfenster von Matisse. Einer der vier, der Mieter des Wagens, hat klugerweise daran gedacht, aus Deutschland sein eigenes Navigationsgerät mitzubringen, damit man sich auf den verschlungenen Landstraßen nicht verfährt. So ertönt während der Fahrt aus dem kleinen Lautsprecher immer wieder die freundliche Frauenstimme, die ihre gewohnten Anweisungen gibt. Nur – was sagt sie da eigentlich? „An der nächsten Kreuzung abbiegen in die Avenu-e dess Alpess“, sagt sie. „Nach einem Kilometer nach rechts in die Ru-e Henry Matis-se, Richtung Saint [wie ‚weint‘] Paul [wie in ‚Peter und Paul‘]“. Kein Zweifel, unsere deutsche Navigationsdame, die freundliche Stimme aus dem Weltall, kann kein Französisch. Sie weiß offenkundig noch nicht einmal, weil kein Mensch es ihr einprogrammiert hat, dass diese Sprache überhaupt existiert. Sie weiß davon so wenig wie von, mit ihren Worten, Mar-sei-le und Seint Tropp-etz. Für diese Stimme gibt es kein Frankreich.

Also, das ließe sich folgern, gibt es in ihrem für deutsche Autobahnen gemachten Programm einfach keine Fremdsprache? Weit gefehlt. Als wir uns der Hauptstadt nähern, sagt die Stimme tatsächlich (ich habe es nicht erfunden): „Nach acht Kilometern erreichen sie Nais.“ Das ist der Tiefpunkt unter dem Tiefpunkt: dass sie dieses eine Mal wirklich den französischen Ortsnamen statt des deutschen sagen will und dass sie ihn für einen englischen hält. „Nizza“, das heißt auf Fremd nicht „Nice“, sondern nice.“

Der Akademiepräsident, der anlässlich der Tagung sein durchaus elaboriertes Schulfranzösisch in seinem Grußwort herausgeholt hatte, hatte ebenfalls geschworen, dass er sich aufgrund dieser Erfahrung wieder dem Gebrauch der Vervollkommnung seiner Französischkenntnisse widmen würde. Damit wäre er in beiden Ländern ein leuchtendes Vorbild.

Dass Sprache und Kultur unmittelbar miteinander verbunden sind, und das Verstehen der anderen auch immer mit Hintergrundwissen verbunden ist, machte diese herausragende Tagung der Polytechnischen Stiftung deutlich. Hätte diese Erkenntnis sich in dem kaleidoskopartigen Europa durchgesetzt, wäre vermutlich manch heftige Auseinandersetzung anders ausgegangen. Und wie lautete das abschließende Thema, mit dem Barbara Cassin sich beschäftigte: „Eine Sprache kann man nicht besitzen“. Das wiederum hat uns der französische Philosoph Derrida gelehrt. Und man möchte ergänzen: aber man kann sie sich erarbeiten.

Eben erfuhren wir vom plötzlichen Tod des Präsidenten der Polytechnischen Gesellschaft Walther von Wietzlow, der noch am Kolloquium teilgenommen hat (s. Foto) und sind bestürzt. Die von ihm gestaltete Feier zum 200-jährigen Jubiläum der Polytechnischen Gesellschaft 2016 wird vielen in bester Erinnerung bleiben. Unter dem Motto ‚Zukunft entdecken‘ konzipierte er zahlreiche Vortragsveranstaltungen von hohem Niveau.

Alle Fotos: Petra Kammann

 

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