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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

10. Lichter Filmfest Frankfurt International

Wahrheit“ im postfaktischen Zeitalter
Der Bembel ging an …

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

Wer hätte das gedacht, dass aus der Idee von 2007, regionale Filmkunst ins Rampenlicht zu rücken, ein internationales Filmfestival werden würde. Den Namen LICHTER hatte das Plakat zu Charlie Chaplins Film „Lichter der Großstadt“ inspiriert. Festivalleiter Gregor Maria Schubert, von Anfang an dabei, und Johanna Süß haben es geschafft, dank ihrer vertrauensvollen Arbeit mit Verleihern und Produzenten weit mehr als 100 Filme aus der ganzen Welt für das sechstägige Festival 2017 nach Frankfurt zu holen: in das Festivalzentrum Künstlerhaus Mousonturm, das Mal Seh’n Kino, das Deutsche Filmmuseum, das MMK, aber auch nach Offenbach in den „Lederpalast“ des Ledermuseums und sogar ins Caligari nach Wiesbaden. Viele der gezeigten Filme unter dem Thema „Wahrheit“ sind in der Region oder von hier lebenden Regisseuren gedreht worden.

Oberbürgermeister Peter Feldmann war zur Eröffnung geeilt und liess sich von Moderator Michael Quast klug-listig befragen. Leider fehlte die Filmemacherin Doris Dörrie, die Schirmherrin des LICHTER Filmfestes. Sie war erkrankt. Ihr Film „Grüsse aus Fukushima“, Impressionen nach der Atomkatastrophe von 2011, war im Programm und sollte ein Filmgespräch nach sich ziehen.

Den roten LICHTER Bembel, den es für den besten internationalen Langfilm gibt, vergab die Jury an den chinesischen Spielfilm „I am not Madame Bovary“. Formal ein ausgewöhnlicher Film. Bis auf wenige Momente präsentieren sich die Bilder wie durch ein Teleskop.

Beim chinesischen Publikum avancierte die satirisch-amüsante Komödie zum Kassenschlager. Wahrscheinlich traf sie einen Nerv der Landsleute, denn sie nimmt die Wohnungs- und Familienpolitik, die staatlichen Kontrollen über viele Lebensbereiche aufs Korn. Ein Paar hat seine Traumwohnung gefunden, die den Wunsch nach einem zweiten Kind erfüllen könnte. Aber nur Alleinstehenden steht diese Wohnung zu. Das Paar täuscht eine Scheidung vor, damit die Regelung umgangen werden kann. Nun aber will der Mann die Frau nicht wieder heiraten und zieht mit einer anderen in die Wohnung. Li Xuelian, die in der Provinz ein Café leitet, akzeptiert das nicht, sie fühlt sich um ihr Recht betrogen und um ihre Ehre gebracht. „I am not Madame Bovary“. Sie will die Scheidung aufheben lassen und sich legal von dem betrügerischen Mann trennen. Nur so könne sie wieder im Einklang mit sich selbst sein. Zehn Jahre lang kämpft sie gegen die chinesische Justiz und die korrupten Behörden.

Es ist erstaunlich, dass Regisseur Xiaogang Feng diesen Beitrag mit nur wenigen Zensureingriffen zeigen durfte. Ihm gelingen ideenreiche, grossartige, impressionistische Einstellungen, manchmal sind die Farben wie gemalt. Für die Rolle der Li Xuelian hat er den auch in Hollywood agierenden Star Binbing Fan, die er zuletzt vor 13 Jahren engagiert hatte, gewinnen können. Sie spielt hervorragend. Beim San Sebastian Film Festival wurde sie zur besten Schauspielerin gekürt und der Film erhielt die „Goldene Muschel“, die höchste Auszeichnung. Leider huschen die englischen Untertitel des in Mandarin gesprochenen Textes schnell vorüber, und es gehen inhaltliche Feinheiten der Politsatire verloren.

Den weissen Bembel und 2.000 Euro für den besten Regionalen Langfilm erhielt die Dokumentation „ A Gravame – das Stahlwerk, der Tod, Maria und die Mütter von Tamburi“ von Peter Rippl. Die Jury – die Filmemacher Pepe Danquart, Mischka Popp sowie die beiden Schauspieler Numan Acar und Reza Brojerdi – würdigte die Aktualität dieses Zeitdokuments. „Ein Film, der auf der Netzhaut brennt.“ Taburi ist ein Stadtteil von Tarent im italienischen Apulien. Hier wurde vor über 50 Jahren ILVA gegründet, heute das grösste Stahlwerk Europas. Das Werk verfügt über mehr Platz als die 200.000 Einwohner der Stadt. Die Berichte, die Tagesspiegel „Wir sterben an Hunger oder Krebs“, TAZ, Deutschlandfunk und andere 2012, 2013 und 2016 publizierten, schildern die prekäre Lage der Menschen in diesem Stadtteil und machen fassungslos. Lars schrieb am 6.Januar 2014 im Internet: „1959 halluziniert Pier Paolo Pasolini Tarent als riesigen zersplitterten Diamanten. Leuchtend über azurblauem ionischen Meer. Heute ist dieses fantastische Tarent ein sterbender Moloch. Roter Dioxinstaub aus Glutöfen des größten Stahlwerks Europas vergiftet die Bewohner. Die barocke Altstadt ist völlig ruiniert. Die einst blühende Handelsstadt Tarent, berühmt durch ihre Muschelzucht, einstiges mediterranes Paradies, wird heute vom Dioxinstaub mehr und mehr zugedeckt“.

Peter Rippl

Der Frankfurter Filmemacher, Drehbuchautor und Kameramann Peter Rippl hat Einwohner von Tamburi, Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen, Fischer und Musiker bei den Vorbereitungen zur Karfreitags-Prozession „Settimana Santa“ begleitet und befragt. Sie erzählen von ihren individuellen Schicksalen, die Rippl mit distanzierten Beobachtungen mischt. Die Arbeitsbedingungen, die Umweltverschmutzung haben die Krebsrate überdurchschnittlich ansteigen lassen. Trauer, aber auch Hoffnung, Trost, den ihnen ihr katholischer Glaube gibt, und Kampf für ein besseres Leben, kennzeichnen die Stimmung der Bewohner. „A Gravame“, die Bürde, beginnt mit dem nächtlichen Trauermarsch und der Karfreitags-Prozession. In Schwarz/Weiss-Bildern macht uns Peter Rippl auf die Not der Menschen aufmerksam, die durch gierige Besitzer, durch einen säumigen Staat in diese ausweglose Lage gerieten. Umweltschützer klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) und fordern die Schliessung des Werks. Dagegen sind die Gewerkschaften und die Betroffenen, denn 15.000 Arbeitsplätze würden verloren gehen und damit 15.000 Familien ohne Einkommen sein.

Den LICHTER Kurzfilmpreis, dotiert mit 1.000 Euro und zwei vom Filmhaus Frankfurt gestifteten Seminargutscheinen, gewannen die Filmemacher Sebastian Binder und Fred Schirmer für den Dokumentarfilm „Über Druck“. „Die Filmemacher haben sich einem universellen und alltäglichen Phänomen so lässig und sympathisch angenähert, dass man erst auf den zweiten Blick merkt, wie souverän und intelligent sie das Thema filmisch durchdrungen haben“, so die Begründung der Jury. Produzent Robert Hertel und die Regisseurinnen Sylvie Hohlbaum und Christel Schmidt lobten die authentischen und wunderbar eigenwillig-schrägen Protagonisten sowie die unaufdringlich komponierten Einstellungen. Wer leidet mehr unter Druck: Fische im Aquarium, Topmanager, Arbeiter, Arbeitslose, Mütter – vor allem alleinerziehende?

Beim BINDING Publikumspreis, Votum der Zuschauer „Bembeldemokratie“, stehen alle Filme, die nicht älter als zwei Jahre und noch nicht im Fernsehen gezeigt wurden, zur Auswahl. Gewinner waren die Frankfurter Filmemacher Simon Stadler und Catenia Lermer für „Ghostland – The View oft the Ju/‘Hoansi“, der bereits den Hessischen Filmpreis in der Sparte Dokumentation im November 2016 gewann. Ein aussergewöhnlicher, exotischer Beitrag, der dem Publikum mit Recht gefiel. Die Kalahari ist eine der grössten Wüsten der Welt und erstreckt sich von Namibia bis Südafrika. Die Kalaharis fahren zum ersten Mal mit einem Bus durch ihr Land Namibia, wo sie anderen Stämmen begegnen. Dann reisen vier Dorfbewohner mit nach Deutschland. „What a crazy world is this,“ sagt der junge Kalahari und bedauert die Kontaktlosigkeit der Menschen hier und ist erstaunt über die Bettler. So etwas gebe es in seinem Land nicht, da hilft jeder jedem. Vor allem der Lärm macht ihnen zu schaffen. Uns wird der Spiegel vorgehalten. Als sie auf Frankfurt blicken, fragen sie sich, wie man solche Hochhäuser bauen könne. Sie freuen sich wieder nach Hause zu kommen, obwohl sie arm sind und nichts besitzen.

Brille auf, Film ab – LICHTER goes Virtual Reality. Das ist die neue visuelle Erlebniswelt. Es gibt keine Leinwand mehr, sondern ein VR-Headset, mit dem das 360 Grad-Sichtfeld erfasst werden kann. Von den 50 Einsendungen hatten es fünf Beiträge zum Wettbewerb geschafft. Über den LICHTER VR Award konnte sich der Beitrag „Sergeant James“ des französischen Regisseurs Alexandre Perez freuen.

Gregor Maria Schubert und Johanna Süß

Gregor Maria Schubert, Johanna Süß und ihr ehrenamtliches Team haben aussergewöhnliche Filme ausgesucht. Zum Beispiel: den klug-witzigen, spannenden argentinischen Eröffnungsfilm „El Ciudadano ilustre“ (The distinguished Citizen). Schriftsteller Mantovani, der in Spanien lebt, erhält den Literatur-Nobelpreis und macht in seiner Dankesrede klar, wie unbedeutend für die noble Gesellschaft, die Juroren und das Königspaar die Kunst ist. Minutenlange Stille, dann tosender Beifall aus dem Zuschauerraum. So beginnt der Spielfilm. Mantovani entzieht sich mehr und mehr dem Literatur-Zirkus mit seinen Preisen. Aber dann macht er eine Ausnahme und nimmt die Einladung der argentinischen Kleinstadt Salas, seinem Heimatort, an. Zuerst euphorische Begeisterung der Bürger, dann kippt die Stimmung. Es wird erzählt, Mantovani verspotte die Bürger von Salas in seinen Romanen und verdiene damit Millionen. Als er sich als Juror weigert, eines der von den örtlichen Hobbykünstlern gemalten Bilder auszuzeichnen, bricht Hass aus. Er muss um sein Leben fürchten. Der Ehemann seiner früheren Jugendliebe begleicht schliesslich noch eine fast tödliche Rechnung.

Oscar Martinez, der den Mantovani spielt, erhielt beim 73. Filmfestival in Venedig den Coppa volpi für seine Darstellung. Film und Drehbuch wurden in anderen Ländern mehrfach ausgezeichnet.

Der Beitrag „Tramontane“, ein Gemeinschaftswerk von Libanon, Frankreich, Katar und den Vereinigten arabischen Emiraten, hatte seine Deutschland-Premiere beim LICHTER Filmfest. In Cannes lief er 2016 bei der Kritiker-Woche. Ein aussergewöhnlicher Film mit dem Schwerpunkt Wahrheitssuche. Der blinde Libanese Rabih braucht einen Pass, um mit seinem Orchester durch Europa zu touren. Als er ihn beantragt, stellt sich heraus, dass er sich bisher mit gefälschten Papieren ausgewiesen hat. Wer ist er? Wo kommt er her? Die Adoptiv-Familie verweigert ihm die Auskunft. Er irrt durchs Land auf der Suche nach seiner Geburtsurkunde, nach seiner Identität. Überall Mauern des Schweigens, Lügen und Widersprüche. Die Musik, der Gesang von Rabih sind das Herzstück des Streifens. Es spielt und singt Barakat Jabbour, der wirklich blind ist. Eine grosse schauspielerische Leistung. Wunderschöne Landschaften Libanons zeigt der Road-Trip, der auch an die Folgen des libanesischen Bürgerkriegs 1975 bis 1990 erinnert. Regie und Buch stammen von dem in Kuwait-Stadt geborenen Libanesen Vatche Boulghourjian, der an der New Yorker Film-Universität studierte. Eine Perle des LICHTER Filmfestes.

Sehenswert der Abschlussfilm ausserhlab des Wettbewerbs „Como nossos Pais“ (Just like our parents) der brasilisnischen Regisseurin Laís Bodanzky, die die Lebenslügen, die Machtverhältnisse der Generationen schonungslos offenlegt. Rosa kümmert sich um Kindererziehung, ums Geld, ums Apartement, um den ständig in Geldnöte geratenen Künstlervater und muss dabei ihren Lebenstraum, Theaterautorin zu werden, vernachlässigen, lediglich als Werbetexterin kann sie sich verdingen. Der Mann ist häufig verreist und kämpft um die Rettung des Amazonas. Aber ausgerechnet ihre Mutter, die ihre Lebenslüge offenlegt, bringt sie aus dem Gleichgewicht.

Sehenswert ebenso „Vanatoare“ der 33-jährigen Rumänin Alexandra Balteanu, die diesen Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin realisierte. Für ihren ersten Spielfilm erhielt sie im Januar beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken zwei Preise, unter anderem den Regiepreis der Ministerpräsidentin. Erzählt wird der Alltag dreier rumänischer Frauen, die sich an einer Zubringerstrasse nach Bukarest prostituieren – banale Alltagsgeschichten in grauen Bildern. Geradezu stoisch funktionieren die Frauen, lassen sich von zwei Polizisten widerlich schikanieren, aber nicht einschüchtern und finden schliesslich eine Mitfahrgelegenheit, um nach Hause zu kommen. Die spendierte Eiscreme – der einzige kleine Trost.

Es konnte hier nur eine Kostprobe aus den 100 gezeigten Filmen geben. Umfangreich war das Begleitprogram mit Sonderveranstaltungen, Vorträgen und Diskssionen.

Wieder ein gelungenes LICHTER Filmfest, das stets mit Wagnis verbunden ist und ein grosser Kraftakt ist. Mitarbeiter des meist ehrenamtlich arbeitenden Teams feierten Schubert und Süß.

→ 9. Lichter Filmfest Frankfurt International
→ Das 8. Lichter Filmfest Frankfurt International – Eine Nachlese

 

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