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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

66. Hörspielpreis der Kriegsblinden

Mit 66 in die Zukunft

Auszeichnung für den belgischen Radiomacher Lucas Derycke für „Screener“  – Preisverleihung im Deutschlandfunk in Köln

Von Petra Kammann

Die 66. Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, die am 17. Mai im Deutschlandfunk stattfand, war in verschiedener Hinsicht eine besondere Veranstaltung. Drei Stücke waren nominiert worden, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Alle miteinander waren sie aber absolut preiswürdig: „Evangelium Pasolini“ aus der Hörspielabteilung des HR, ein erzähltes Hörspiel über das Matthäus-Evangelium von Arnold Stadler und Oliver Sturm, „Mein Herz ist leer“ von Werner Fritsch (Deutschlandradio Kultur und Radio Bremen) über japanische Haikus, das von der Wiederentdeckung der Langsamkeit und der intensiven Wahrnehmung der Natur handelt sowie „Screener“ (WDR), das Hörstück über Gewaltvideos im Internet und die damit einhergehende Verschiebung von digitalen und tatsächlichen Realitäten von Lucas Derycke. Das vom Thema her aktuell Drängendste machte dann am Ende auch das Rennen und wurde mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet.

v.l.n.r.: Juryvorsitzende Gaby Hartel, Finalisten Oliver Sturm und Werner Fritsch, Angelika Zimmermann, Stellvertr. Leiter des  des Bundes der Kriegsblinden Reinhard Zimmermann, Preisträger Lucas Derycke, Film- und Medienstiftungsdirektorin Petra Müller, WDR-Hörfunkdirektorin Valerie Weber, Deutschlandradio-Kulturchef Mathias Gierth

Die Veranstaltung

Musikalisch eingestimmt wurde die Präsentation der von der Jury nominierten Hörspiele und ihrer Macher mit den variationsreichen Free Jazz Sounds nach der Musik von John Zorn durch das Jazztrio Vinograd Express, die virtuos von der Klarinettistin Annette Maye improvisiert wurde.

Deutschlandradio-Kulturchef Mathias Gierth betonte in seiner Rede die genuine Kraft der Hörfunkkunst, die vor allem auf den neuen digitalen Plattformen besonders erfolgreich sei, und er wies in diesem Zusammenhang auf das deutsch-russische Gemeinschaftsprojekt „Horchposten 1941“ von Jochen Langner und Andreas von Westphalen hin – eine interaktive Klanginstallation um die Blockade Leningrads, die in einer akustischen Collage authentische russische und deutsche Texte zum Ostfeldzug des Zweiten Weltkriegs hörbar macht. Erzählt wird darin von Zivilisten und Soldaten, von Opfern und Tätern, Deutschen und Sowjets zwischen den Fronten von Nationalsozialismus und Stalinismus.

Die Leiterin der Film- und Medienstiftung NRW Petra Müller sah in ihrem Grußwort den Hörspiel-Oscar, den 66 Jahre alten Kulturpreis, auch deswegen als zukunftsfähig an, weil er in andere Aktivitäten der Film- und Medien- Stiftung wie das Hörspielforum oder in spezielle Autorenstipendien eingebunden sei.

Mit dem vom Bund der Kriegsblinden e.V. (BKD) und der Filmstiftung getragenen Preis für Radiokunst werden seit 1952 Original-Hörspiele deutschsprachiger Sender ausgezeichnet. Preisträger waren u. a. Ingeborg Bachmann, Mauricio Kagel, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, Paul Plamper, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief und zuletzt Sibylle Berg.

→ Juryvorsitzende
Gaby Hartel 

Anders hinhören

In diesem Jahr wurde die Jury erstmalig von der Kulturwissenschaftlerin Gaby Hartel geleitet, die jedoch schon Erfahrungen als Jurymitglied mitbrachte. Das Besondere des Preises mit der hälftig aus Fachkritikern sowie aus „Blinden“ besetzten Jury, führe zu einem spezifischen „Hinhören“ oder böte, wie Hartel sagte, für Kritiker, die sich gerne im „Mikrokosmos suhlten“, den nötigen „reality check“.

Der langjährige Vorsitzende Dieter Hain, der diesmal nicht anwesend sein konnte, ließ sich durch den Stellvertreter des Bundes der Kriegsblinden, Reinhard Zimmermann, vertreten, dessen Frau Angelika Zimmermann Hains Ansprache vortrug. Souverän moderiert wurde die Veranstaltung von der mit dem Hörspiel inzwischen bestens vertrauten Moderatorin Ute Soldierer.

Insgesamt 24 Hörspiele waren in diesem Jahr eingereicht worden, die in der Jury „mit großer Leidenschaft“ (Hartel) diskutiert worden seien, denn – wie auch von verschiedenen Jurymitgliedern bestätigt wurde – habe es sich um einen besonders starken Jahrgang gehandelt, was wiederum als Beweis für die Zukunftsfähigkeit des Genres spricht.

Mein Herz ist leer

Hörspielmacher Werner Fritsch, der bereits 1993 mit dem Hörspielpreis für „Sense“ ausgezeichnet wurde, ist mit „Mein Herz ist leer“ auch etwas Außergewöhnliches gelungen. Darin entwickelt er den Lebensfilm eines „Dichters auf Wanderschaft“ entlang der Jahreszeiten. Fritsch hatte Japan kurz nach der Katastrophe von Fukushima besucht und damals den Wunsch gehabt, etwas „Heilendes“ zu produzieren, das den Menschen eine Identität zurückgibt. Er dichtete die Haikus des Wanderdichters Taneda Santōka (1882-1940) nach und machte sie hörbar. Dabei wird der sparsam eingesetzte „Klang eines Regentropfens“ oder eines Windhauchs geradezu magisch präsent. Die Zusammenarbeit mit der japanischen Komponistin Miki Juhi sei für ihn in der Produktion ebenso exzeptionell gewesen wie die Zusammenarbeit mit Michael Altmann, der lange mit Zelt und Boot unterwegs war und daher eine tiefe Naturerfahrung in der Stimme mitgebracht habe.

↑ Fritsch und die japanische Komponistin Miki Juhi
↓ Die drei Hörspielmacher-Finalisten Werner Fritsch, Oliver Sturm und Lucas Derycke

Evangelium Pasolini

Polyphon und mehrschichtig war auch das nominierte Hörspiel „Evangelium Pasolini“ aus dem HR. Darin beschreiben Arnold Stadler und Oliver Sturm das Matthäus-Evangelium aus der Perspektive des Pasolini-Films „Das 1. Evangelium – Matthäus“, in dem der neorealistische italienische Filmemacher Jesus als menschliche Figur darstellt und so die biblische Vorlage kompromisslos umsetzt, von der Jungfrauengeburt bis zum Kreuzestod. Gemeinsam mit Oliver Sturm betrachtet der Schriftsteller und Theologe Arnold Stadler diesen Film, erzählt ihn nach und kommentiert einzelne Szenen, die wiederum von Sequenzen aus der Bach’schen Matthäuspassion und h-moll Messe begleitet werden. Das Evangelium, der Film, das Drehbuch, die Musik und der nacherzählte Film formulieren ein vielstimmiges und vielschichtiges Bild der biblischen Jesus-Geschichte. Es entsteht eine Erzählung in der Erzählung in der Erzählung, welche durch die Überlagerungen auch der original italienischen Filmstimmen der einfachen Leute, das eindringliche Krähen des Hahns, bevor Judas Christus verrät, an Intensität gewinnt. Hörspielregisseur Oliver Sturm geht auch inhaltlich noch weiter, indem er die Leidensgeschichte Christi mit der Ermordung des radikalen homosexuellen Filmemachers kurzschließt – eine medienübergreifende und politisch unter die Haut gehende frische Deutung der zweitausend Jahre alten Passionsgeschichte. Die Jury lobte das Stück aus der großen Bibelreihe als „gelungene politische Aktualisierung des Neuen Testaments, die unter die Haut geht“. Ein großes Kompliment gebührt auch der verantwortlichen hr2-Redakteurin und Dramaturgin Ursula Ruppel.

Screener

Das Hörspiel des gerade erst 26-jährigen Lucas Derycke wiederum handelt von etwas ganz Aktuellem, einem „Content Reviewer“, dessen Job darin besteht, für ein großes Unternehmen unbotmäßige Internet-Videoinhalte auszusondern. Die Bilderflut in seinem Kopf bleibt dabei nicht ohne Folgen. Die zerstückelten Erfahrungen von Gewaltdarstellungen bestimmen und verdüstern sein Leben so sehr, dass er am Ende in Parallelwelten lebt, die er nicht mehr zusammenbringen kann. So erreicht ihn die Stimme seiner realexistierenden Freundin nicht mehr. Und er selbst geht sich in diesem Prozess verloren. „Ein solcher Horror wird im Nah-dran-Medium Hörspiel ganz besonders evident, vor allem, wenn die Überblendung von Wirklichkeiten und der graduelle Verlust so gut gelöst sind wie hier. Gemurmelte Selbstgespräche beim „tagging“ und die Tonspur des Videos stehen den munteren Sätzen von Freundeskreis und Chef gegenüber… Ein akustisch beeindruckendes und inhaltlich intensives Hörspiel zu einer brennenden Frage unserer Zeit“, argumentierte denn auch die Jury.

→ Überglücklich: der 26-jährige belgische
Radiomacher und Hörspielpreisträger
Lucas Derycke 

Der belgische Radiomacher, der zunächst Journalismus studierte und 2015 sein Radio- Studium am Royal Institute for Theatre, Cinema and Sound (RITCS) in Brüssel abschloss, produziert vor allem Kurz-Features und -Hörspiele für den belgischen Sender VRT und den holländischen Sender NPO. Er selbst hatte ähnliche Erfahrungen wie Felix aus dem Hörspiel gemacht, als er drei Monate lang einem Job nachging, in dem er die „bad sounds“ aus den „horrible movies“ herausgefiltert habe, hatte selbst zwar Distanz,sah jedoch auch die möglichen Folgen. Dabei habe er seine visuellen Erfahrungen anschließend auf das Akustische übertragen.

Dass seine erste Hörspiellangproduktion sowie seine erste deutschsprachige Produktion, die vom WDR betreut wurde, gleich mit dem renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden belohnt wird, zeichnet nicht nur ihn aus, sondern auch die Hörspielabteilung des WDR, die sich nicht gescheut hat, sich auch auf andere Sprachen einzulassen. Derycke lobte, dass es in Deutschland im Gegensatz zu den flämischen Radiostationen überhaupt noch Hörspielabteilungen gebe, in denen man experimentell arbeiten könne.

Nach dem insgesamt so gelungenen Jahrgang brachte Gaby Hartel auf den Punkt, was die Qualität der Hörspiele auszeichne: Wir würden „Sinneszeugen“, und in der „Beschränkung der Mittel“ würden Energien freigesetzt für die Imagination. Da kann einem um die Zukunft des Hörspiels nicht bange sein.

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