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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Jutta Heun: „Riesinnen leben länger“ – Zeichnungen in der Gießener Galerie Unterer Hardthof

Von DeDe Handon
(Ansprache zur Ausstellungseröffnung am 9. April 2017)

Jutta Heun lebt als freischaffende Künstlerin in Frankfurt am Main und in Malaga. Der Farbstift ist ihr bevorzugtes Zeichenmittel, mit dem sie sich auf die Suche macht, nach Riesinnen, die länger leben – hier sechs an der Zahl.

Jutta Heun (li.) und DeDe Handon, Ausstellungseröffnung, Foto: Erhard Metz

– Riesin I – und – Riesin II -, 2015, Farbstift und Bleistift auf Papier, 220 x 150 cm und 230 x 150 cm; Fotos: Christof Heun

Ein „DenkMal“ setzen: für jene und alle Frauen, die jeden Tag über sich hinauswachsen und von allen still und unbemerkt über sich hinauswachsen müssen; die in Erinnerung bleiben, wenn man ihnen ein „DenkMal“ zeichnet; ihnen einen Ort und einen Gegenstand gibt, an dem sie sich festmachen können.

Wer zeichnet, zeichnet auf.

Der Zeichner registriert Impulse, Ideen und verfolgt ein Konzept. Kaum ein anderes Medium ist so spontan zu nutzen, ohne große Vorbereitungen und Kosten. “With drawing, you are in the present”, so die Künstlerin Kiki Smith.

Das, was auf dem Papier entstanden ist, entfaltet Wirkung. Mit dem Papier ist ein Energiefeld entstanden, eine Spannung. Ein Speicher und eine Erinnerung (als Nachklang) an das, was sich zu Beginn eines Transformationsprozesses gezeigt hat und sich hat spüren lassen: das kann man ein Bild nennen bzw. das „Nachbild“.

Wer in seiner Erinnerung gräbt, stöbert Erfahrungen auf, die zuweilen auch andere angehen, betreffen. Eine Methode für solche „Tiefenbohrungen“ ist das Zeichnen – ein Medium, das nichts weniger als „das Geheimnis des Daseins“ sucht.

Die Erinnerung ist unzuverlässig. Sie ist fragmentarisch und flüchtig. Doch so ephemer sie erscheinen mag, so wichtig ist sie als Grundlage unserer Identität.

Diese Aussage lässt sich auf persönliche und kollektive Selbstbilder beziehen.

Auch das Verfahren des sich Erinnerns, das geistige Sezieren als solches, wurde erkundet, von dem Künstler Franz Ackermann etwa, dessen „mental maps“ in den 1990er Jahren zum Ausgangspunkt großer Installationen wurden, die Mobilität, Globalität und den urbanen Raum thematisierend.

Wo Erinnerung auf die Auseinandersetzung mit Geschichte hinausläuft und Erinnerung gleichzeitig als Verfahren akzeptiert wird, kommt es zu einer verdichteten, für die Kunst günstigen Situation, in der Form und Inhalt eins werden.

– Unberechenbarkeitsmodell Nr.10 -, 2016, gebrannter Ton glasiert, Foto: Erhard Metz

Jutta Heun nähert sich in ihrem Herangehen assoziativ und frei, durch das Ausloten dreidimensionaler Modelle, die aus Ton, Papier oder Silikon sein können, einem Thema an.

Ihre Keramiken, die wir hier heute zu sehen bekommen, sind von ihr so bezeichnete „Unberechenbarkeitsmodelle“, aus Ton gebaut, geschichtet und geworfen, um anschließend im Ofen gebrannt zu werden und durch Hitze ihre endgültige Form zu finden – sich zu manifestieren.

– Unberechenbarkeitsmodell Nr.1 -, Objekt, gebrannter Ton glasiert, ∅ 36 cm, Foto: Erhard Metz

Die Formen dieser Objekte liefern den Assoziationskanal für zweidimensionale Zeichnungen auf der Fläche, die sich auf persönliche und überindividuell erlebte Geschichte beziehen. Dies ist ein Vorgang, der sich zu Beginn eines jeden Bildes immer wiederholt. Jede Bildfindung durchläuft diesen Prozess – durch das Objekt. Es ist der Anfang eines neuen Werkes oder einer Werkserie und findet Eingang in das Bild.

– ohne Titel – , 2013, Aquarell und Bleistift auf Holz, Bootslack, ∅ 36 cm, Foto: Erhard Metz

Diese Arbeit z.B. ist Anfang und Ausgangspunkt der Zeichnung „Nierentisch“ von 2017. Im labilen Schwebezustand der Dinge:

– auf Nierentisch kopfüber stürzendes Kind an roter Schnur, eine Sturzgeburt zwischen den schreitenden Schenkeln der leichtfüßig schwebenden Riesin mit Rapunzelzopf

– aus geöffnetem Mund Nelken flüsternd umgeben von im gelben Mantel beschützten Schmetterlingen

– Zeichen der Verwandlung und Auferstehung – beim Reisen verborgen gestreichelt.

– der Nierentisch – (Totale u. Ausschnitte), 2017, Farbstift und Bleistift auf Papier, 186 x 264 cm, Fotos: Erhard Metz

Striche mit dem Farbstift auf Fläche streichelnd, leise achtsame Annäherung an die Zeit – die Zeit der Zeitenzählung. Unweigerlich Sekunde um Sekunde, Verinnendes und Vergangenes spürbar, sehbar zu machen.

Festgehalten in feinen Linien, während Jutta Heuns vieler Reisen, in „ZwischenZeiten“ zur Konzentration.

Vielleicht auch eine Art Trance, die entsteht beim schnellen Zeichnen und bei der man sich gut vergessen kann – zur Neuausrichtung, vor dem Beginn einer neuen Arbeit.

– die große Wurzel – (Totale u. Ausschnitt), 2016, Farbstift und Bleistift auf Papier, 150 x 150 cm, Fotos: Erhard Metz

Die Bleistiftstriche Juttas Heuns sind die nicht messbaren Bahnen leiblicher Erfahrung. Gemeint ist eine Erfahrung, wie der Kieler Phänomenologe Hermann Schmitz sie definiert hat. Eine Erfahrung, die nicht allein über die Sinne entsteht, sondern in Wechselwirkung mit dem komplexen „KörperMensch“.

– die große Vase der Sekunden – , 2017, Farbstift auf Papier, 194 x 210 cm, Foto: Erhard Metz

Viele kleine sichtbare Striche aus der Hand auf der Fläche des Papiers, die Poesie der leisen Bewegungen vergegenwärtigend, sich sammelnd in einem Gefäß.

Jutta Heun spürt sie auf, macht sie sichtbar – diese vielen Stunden, Tage und Monate ihrer und unserer verrinnenden Lebenszeit.

Jutta Heun, Foto: Erhard Metz

Öffnungszeiten: Ostersamstag/Ostersonntag, 15./16. April 2017, 15-18 Uhr; Ostermontag, 17. April 2017 Osterbrunch 11-14 Uhr (um Anmeldung wird gebeten an: 0641-67395 bzw. info@untererhardthof.de); Samstag, 22. April 2017, 11-14 Uhr und nach Vereinbarung

Abgebildete Werke © Jutta Heun

→ Jutta Heun und der Genius loci

 

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