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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kultur und Demokratie

Von Gunnar Schanno

Die Nachkriegszeit in Deutschland war nach düsterer Zeit bestimmt von einer Art Reinigung der missbrauchten Wertbegriffe, um sie in einer Neubesinnung und Neubestimmung wieder kritischem Denken zuführen zu können. So wurde auch dem besonders werthaft geltenden Begriff der Kultur nachgeforscht: historisch, soziologisch, philosophisch. Auffallend ist in der Verwendung des Begriffs Kultur, dass dessen Unbestimmtheit weiter besteht. Schließlich stärkt das Vage, das bequem Unpräzise, das Austauschbare, das Verbindlichscheinende etwa im Diskurs des Religiösen oder Ethnischen die Möglichkeit, in öffentlich propagierter Akzeptanzbereitschaft auch fragwürdigen kulturspezifischen Traditionen ihren Raum zu belassen. Wir kennen auch die Diskussion um Formen des Schächtens von Tieren, doch geht es auch ganz allgemein um Fragen von Vorstellung und Verständnis dessen, was in einer Bürgergesellschaft die säkular bestimmte Souveränität des Individuums anficht, also etwa auch im Hinblick auf Selbstbestimmungsrecht in Gleichrangigkeit von Frau und Mann.

Albertus Magnus (um 1200-1280), De Bono („Über das Gute“), Folium 1r. Köln, Dombibliothek, Codex 1024;Bildnachweis: Wikimedia commons

Kultur als Begriff ist im allgemeinen Sprachgebrauch konnotativ positiv belegt. Wer ihn benutzt, hat unausgesprochen das Werthafte auf seiner Seite und kann besagterweise auch fragwürdige Tradition für sich reklamieren. Der Mensch ist ja grundsätzlich auch Kulturmensch. Wir sprachen davon, dass Kultur all das umfasst, was über den reinen Nützlichkeitsaspekt des Zivilisatorischen hinausgeht, was dem unbeweisbar Religiösen, dem Gestalterischen, dem Künstlerischen, dem Traditionsverhafteten, dem Wunsch nach Transzendieren eigenen Tuns über das rein Funktionale des Lebensherhaltenden hinaus entspringt. Kultur als Begriff lässt sich ganz pragmatisch auch als synthetischer Begriff verwenden, wenn eine Gesellschaft bestimmte Formen von Sitten und Brauchtum, von Tradition und Mentalität ganzheitlich verbindet.

In Gesellschaften, die ein kulturelles Verständnis kennzeichnet, in dem archaische Raster und Muster von Freund-Feind, Gut-Böse, religionsdominante Wahrheitsvorstellungen, gemeinwohlverachtendes Clan- oder Sippendenken das soziale Gefüge wesentlich mitbestimmen, kommen auch analog-übergriffige Rechtsvorstellungen zum Zuge. In unserer eigenen Bürgergesellschaft erfahren wir selbst, dass einzig die alle Bürger einschließende säkular bestimmte demokratische Verfasstheit solcherlei Arten von archaischem Kultur-Verständnis Grenzen setzt.

Im ideologischen Kontext, etwa dem sozialistischen, war Ziel und Ideal des ideologisch bestimmten Menschenbilds der festgelegte, erstarrte, der existentiell statische, sich nicht verändernde Mensch, ein Mensch, über den das letzte Wort schon gesprochen war als der sozialistisch kon- und uniforme Mensch. Mit welchen Folgen für die Kultur? Im Bereich der Kunst war es ein Signal für die nivellierende, gleichmachende Tendenz, war es oft auch Selbstzügelung und Verflachung immer da, wo sich Kunst dem Politischen unterworfen hat. Der im demokratischen Verständnis autonome, selbstbestimmte, selbstverantwortliche Bürger, der sich auch künstlerisch immer wieder neu entwerfende, wenn nicht gar verwerfende Mensch, war in ideologisch verfassten Gesellschaften nicht Teil des Menschenbildes. Ausgangspunkt hierfür war nicht das Kultur-, sondern das Staats- und Politikverständnis.

Im ungebändigten Raum des Kulturellen gibt es keine rational, unemotional gesicherte Freiheit und Gleichheit. Sie lassen sich einzig über gesetzgebende Bestimmungen konkretisieren und einklagbar sichern. Brüderlichkeit ist Pathos-Begriff. Sie ist emotionale Kraft und endet im Augenblick auch unter gesellschaftlichen Gruppen, da sie enttäuscht wird und ins Gegenteil umschlägt. Brüderlichkeit als Inbegriff eines Ideals lässt sich gesetzlich nicht verorten noch verordnen, auch nicht im Sinne des Demokratischen. Wir kennen Arten der Bruderkriege aus Geschichte und Gegenwart, auch innerhalb ein und derselben Religionsgemeinschaft.

Wir kennen auch ein rein aus einem bestimmten Kulturverständnis heraus gebildetes Staatsverständnis, einem vielleicht auch quasi-künstlerischen, verführt von Machtstilisierungen, wie sie im faschistischen, etwa Duce-artigen Erscheinungsbild zutage traten. Ebenso kennen wir es überlagert in seinen Ausprägungen und ins Theokratische führend, wenn der säkular-demokratische Kodex verbannt wird und etwa ein religiöses, aus singulärer Quelle stammendes Wahrheitsprinzip die politischen und sozialen Regeln bestimmt.

Kultur ist ethnisch, religiös, geographisch verortet. Demokratie ist universell. Das, was den unendlich weit diskutierten Begriff des Demokratischen mit Inhalt füllt, entspricht denn auch geradezu analog den Konventionen und Chartern der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Letztlich stehen sie in Einklang mit einem ins praktische Leben überführten Erkenntnisstand, wie er besagterweise über die Wege angewandter Wissenschaften weltweit dokumentiert und vernetzt ist und in pragmatischer Lebensgestaltung ihren Niederschlag findet. So muss sich kulturelles Verständnis messen am umfänglich kategorisierten Begriff Gesundheit, wie ihn die WHO im menschenrechtlichen Kontext zugrunde legt.

Pointiert gesagt, hat Kultur gegenüber Zivilisation keine Chance. Weniger pointiert und konkreter gesagt, müssen kulturelle Einzelausprägungen immerzu in demokratischer Diskurs-Freiheit auf den Prüfstand universell geltender Standards gestellt werden dürfen. Es sind Standards, wie sie besagten Konventionen und Chartern zielgebend, wie sie parallel den demokratischen einzelstaatlichen Verfassungen, etwa dem Grundgesetz, zugrunde liegen.

So kann Kultur in ihren beiden gewaltigsten Ausprägungen, der Religion und der Kunst, im Tiefsten einzig in demokratisch konstituierten Gesellschaften tabufrei einem öffentlichen Diskurs unterzogen werden, können Menschen vor gewissermaßen übergriffigem Kulturverständnis geschützt werden. Wie wir aus eigener, bundesrepublikanischer Erfahrung seit Grundgesetz-Zeiten erkennen und genießen dürfen, sind es jene Gesellschaften, deren Mitglieder sich in demokratischer Gleichrangigkeit verstehen.

Weitere Essays des Autors zum Thema Kultur:

→Kultur unter Realitätsdruck
→ Globalisierung – ein Megabegriff versus Kultur und Zivilisation?
→ Kultur und Kulturrelikt in globalisierter Welt
→ Kultur als Leitkultur – ein Missverständnis
→ Kultur und Heimat. Anmerkungen zur Heimat als Kulturbegriff in Zeiten der Migration
→ Das Buch – Ikone und Archetyp der Kultur
→ TTIP und kollaterale Kultur
→ Kultur – Profiteur der Zivilisation
→ Kultur und Zivilisation
→ Eine Zwischenbetrachtung über die Natur

 

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