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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Tanguy Viel und „Le silence de la mer“ – Eine Buchhandlung

Von Petra Kammann

Mitten im Zentrum des bretonischen Städtchens Vannes, in einem alten windschiefen Fachwerkhaus gegenüber der Kathedrale, nennt sich eine kürzlich eröffnete Buchhandlung: „Le silence de la mer“. „Das Schweigen des Meeres“ ist nicht nur die Übersetzung des Namens der Librairie. Der Name ist auch Programm. So steht er für den ersten Titel des literarischen Untergrundverlags Edition de Minuits, der 1942 die Novelle des französischen Autors Jean-Marcel Bruller im von Deutschen besetzten Paris unter dem Pseudonym Vercors veröffentlichte. Sie wurde zum Standardwerk der französischen Résistance und wegen ihres Erfolgs auch gleich zweimal verfilmt, 1949 von Jean-Pierre Melville und 2004 von Pierre Boutron.

Die Buchhandlung „Le silence de la mer“ in der Altstadt von Vannes

Dieser Titel könnte aber auch genauso gut über dem neuen Roman „Code Pénal 353“ des französischen Autors Tanguy Viel stehen.

In seiner Geschichte ist das Meer Zeuge des nicht Ausgesprochenen im Alltagsleben der Menschen. Im Drama der Wirtschaftskrise der 80er und 90er Jahre, als in der Hafenstadt Brest die Werft geschlossen wurde, verloren tausende von Menschen ihren Arbeitsplatz und hatten mit den Folgen des strukturellen Wandels sowie mit den damit verbundenen kriminellen Machenschaften zu kämpfen. Äußerlich wirken die Protagonisten in Viels Roman ruhig wie das Meer, aber in ihrem Inneren geht viel mehr vor, als man sehen kann.

Das Buchhändlerpaar Jean-Philippe und Katia Pérou 

Aber zurück zur Buchhandlung selbst, welche vor Kurzem eröffnet wurde und in der ich auf Tanguy Viel stieß, weil dort eine „Rencontre“ mit dem Autor angekündigt war. Das lockte mich an, zumal ich gerade erfahren hatte, dass der Autor mit einer Delegation französischsprachiger Autoren nach Frankfurt kommt und weiß, dass – anders als in Deutschland – die Buchhandlungen in Frankreich in der Regel keine Autorenlesungen veranstalten, sondern der Autor dort meist nur sein letztes Buch signiert. Diese Tradition scheint sich aber gerade zu ändern. Die „Maison de la Poésie“ in Paris, eine Art Literaturhaus, macht jedenfalls vor, dass es verschiedene Formen der Begegnung mit Literatur geben kann. So kann man hier in der Librairie dem Autor coram publico Fragen stellen.

Behutsam wurde das alte Haus renoviert und den Bedürfnissen der Buchhandlung angepasst

Vielleicht haben sich auch die beiden Buchhändler, der ursprünglich aus der Normandie stammende Jean-Philippe Pérou und seine Frau Katia aus Tours, von den neuen Formen der Vermittlung von Literatur inspirieren lassen. Denn sie haben fünf Jahre zuvor eine renommierte Buchhandlung im 17. Arrondissement in Paris geführt, deren Titel „L’usage du monde“, ebenfalls einem Buchtitel von Nicolas Bouvier angelehnt, lautet. Nun ist das Ehepaar in den Dreißigern weiter nach Westen, in die französische „Provinz“, die prosperierende Stadt Vannes, gezogen. Hier – so ihre Überzeugung – könne ihre Tochter in Ruhe aufwachsen. Außerdem sind die Gesamtkosten hier in so einer „1a-Lage“ noch überschaubarer.

Das Innere der Buchhandlung ist schlicht und ohne Firlefanz. Das Ehepaar hat lediglich das alte Mauerwerk des Gebäudes freigelegt und viel Raum für die Bücher geschaffen, die hier im Mittelpunkt stehen und darauf warten, entdeckt zu werden. Sie sind sorgsam ausgewählt, gleich, ob es sich um die letzten französischsprachigen oder international bedeutsamen Romane, um geisteswissenschaftliche Standardwerke, Kunstbücher, Comics – die in Frankreich als „Bande Dessinée (BD)“ eine besondere Tradition haben – oder auch um ungewöhnliche Reiseliteratur oder um besondere Titel der Geisteswissenschaften handelt. Es ist eine Freude, sich in der Buchhandlung umzuschauen, sich kompetent beraten zu lassen, ohne deswegen bedrängt zu werden. Selbst die wenigen Papeterie-Artikel sind schlicht und schön.

Gleich beginnt die „Rencontre“ mit dem Autor. Als das Publikum hereinströmt, hat Katia Pérou schon flink die kleinen Klapphocker aufgestellt. Der Buchhändler führt den Autor ein, der Autor liest eine Passage aus dem Anfang des Romans „Code Pénale 353“, bevor es in die Diskussion geht, die Jean-Philippe Pérou durch seine ersten Fragen angestoßen hat.

Der französische Autor Tanguy Viel, bei uns u.a. bekannt durch „Paris-Brest“

Das Publikum ist erstaunlich gut informiert und lobt den Autor für seinen lakonischen Stil. Die Geschichte des Protagonisten Martial Kermeur hat sie offensichtlich berührt. Nichts war vorherbestimmt, dass ausgerechnet er zum Mörder werden könnte. Er, dessen Herz stets links geschlagen hatte, war früher loyaler Angestellter im Arsenal von Brest, bis er Anfang der Neunziger seine Arbeit verlor und es mit ihm immer weiter bergab ging, die Ehefrau ihn verließ und er allein seinen Sohn in einem winzigen Schlösschen am Meer auf kleinstem Raum aufzog. Eine bleierne Schwere lag über allem. Die atmosphärische Darstellung wiederum erzeugt einen Sog des Weiterlesens.

Kermeur hatte zwar eine Abfindung von 400 000 Francs bekommen, wovon er ein kleines Haus im Finistère hätte erwerben können. Er hätte aber auch seinem Traum nachgehen und sich ein Boot leisten können, mit dem er zum Fischen hätte ausfahren können. Stattdessen investierte er – überredet von einem Investor – in eine Seebadwohnanlage. Dabei fühlte er sich als Unternehmer, was ihm kurzfristig etwas von seinem ursprünglichen Stolz zurückgab. In einer Art Monolog gegenüber dem Untersuchungsrichter, der die Geschichte von Anfang an aufrollt, beschreibt Martin Kremeur die beiden Jahrzehnte, die ihn in einer Art Nebel, der sich wie ein unzerreißbarer Vorhang über allem ausbreitet, zurückgelassen haben. In Kremeurs Einzelschicksal spiegelt sich dabei das kollektive Abenteuer anderer Stadtbewohner. Durch die raffiniert eingebauten, fast rondoartigen Rückblenden und durch den Blick des Richters auf die individuelle Geschichte gewinnt sie einen ganz neuen Sinn. Er dringt durch sie in das Innere der Wahrheit vor. Durch seine dichte Erzählweise hat der Autor somit das „Schweigen des Meeres“ gebrochen.

Für mich war Tanguy Viel dank der Buchhandlung eine wirkliche literarische Entdeckung, obwohl ich ihn vielleicht schon hätte kennen müssen, da bereits einige Romane wie „Paris – Brest“ von ihm bei Wagenbach auf Deutsch erschienen sind, viel gelobt wegen der hervorragenden Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Der hat nicht nur zwischenzeitlich mit Frank Heibert den renommierten Straelener Übersetzerpreis gewonnen, er sitzt nun auch an der Übersetzung von „Code Pénal 353“, was auf Deutsch wohl weniger treffend „Selbstjustiz“ heißen wird. Auch darauf bin ich gespannt. Dieser Roman dürfte beim Auftritt der französischsprachigen Literatur in Frankfurt auf jeden Fall keine unerhebliche Rolle spielen.

Fotos: Petra Kammann

 

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