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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Carmen“ – Opéra comique von Georges Bizet an der Oper Frankfurt

Eine Frau, die auf Selbstbestimmung in ihrem turbulenten Liebesleben besteht

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt, Renate Feyerbacher

Lange Zeit, seit März 1992, hat es keine Neuinszenierung der „Carmen“ in Frankfurt am Main gegeben. Als Intendant Bernd Loebe seinem Kollegen, dem Regisseur Barrie Kosky von der Komischen Oper Berlin, und dem Dirigenten Constantinos Caridys die Bitte für eine Neuinszenierung vortrug, waren die Herren zunächst nicht begeistert. Loebe schaffte es, sie dennoch zu überreden. War es Paula Murrihy als Carmen, die lockte? Sie kennen sie aus „Dido und Aeneas“ vom 5. Dezember 2010 und weiteren Inszenierungen, die sie gestalteten.

Wie dem auch sei: Am Sonntag, den 5. Juni 2016, gab es eine ebenso umjubelte wie mit heftigen Buhrufen durchsetzte Premiere. Die Dame zur linken Seite rührte keinen Finger, als das Regieteam auf die Bühne kam, die Protagonisten indes feierte sie.

Barrie Kosky hatte schon in Oper extra (über Bildschirm von Berlin aus zugeschaltet) verkündet, dass es eine ganz andere Carmen werden wird. In der Tat war die Inszenierung befreit von den Spanien-Klischees, von dem einen oder anderen Kitsch, der sich in über hundert Jahren an Carmens Versen geklebt hatte.

Das Libretto nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée (1845) wurde von Henri Meilhac und Ludovic Halévy 1873 fertiggestellt, aber Georges Bizet (1838-1875) nahm immer noch Textveränderungen vor bis zur Uraufführung 1875 in der Opéra Comique in Paris. Barrie Kosky streicht die Dialoge auf der Bühne und lässt Zwischentexte der Librettisten und des Schriftstellers aus dem Off durch die vorzügliche Schauspielerin Claude De Demo sprechen. Natürlich wird gesungen und gesprochen in der Originalsprache Französisch, aber mit deutschen Übertiteln.

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Paula Murrihy (Carmen) und Joseph Calleja (Don José); Foto © Monika Rittershaus

Dirigent Constantinos Carydis hat nach der kritischen Carmen-Ausgabe von Michael Rot, Professor an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, die Frankfurter Produktion eingerichtet. Michael Rot erinnert, dass die Uraufführung seinerzeit ein Misserfolg war, auch aufgrund des anrüchigen Librettos. Da bevölkern Zigeuner, Diebe, Schmuggler die Bühne. Ein Hauptmann wird zum Deserteur und dann noch ein Mord. Prosper Mérimées Erzählung, obwohl zur Schundliteratur zählend, erfreute sich jedoch eines reissenden Absatzes. Soll das eine Opéra comique sein? Sie sollte doch Gewalt vermeiden und ein versöhnliches Ende haben. Halévy bestand auf dem Mord.

Jacques Offenbach (1819-1880), der in Köln geborene Komponist, Cellist und Dirigent, wurde in Paris für seine Operetten, die nichts mit den Wiener Operetten gemein haben, gefeiert. Im deutsch-französischen Krieg – ab 1870 – wurde er, der seinen Vornamen Jakob in Jacques umgewandelt hatte, von den Franzosen als Spion Bismarcks, von den Deutschen als Volksverräter diffamiert. Nach Ende des Krieges wurden seine Werke vom französischen Publikum kaum noch beachtet. Offenbach ging auf Tourneen sogar in die USA. 1877 begann er mit der Komposition der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ (Les Contes d’Hoffmann), sie ist nach Bizets „Carmen“ die meistgespielte französische Oper.

Was hat Offenbach mit Bizet zu tun?

Bizet führte das Leben eines Kleinbürgers in Paris. Er kannte Spanien nicht, war nur einmal im Ausland zu einem Stipendium an der Villa Medici in Rom. Offenbach hatte 1856 einen Komponistenwettbewerb für eine einaktige Operette ausgeschrieben. Der 18-jährige Bizet gewann mit „Le Docteur Miracle“, musste den Preis allerdings mit dem Komponisten Charles Lecocq teilen, der ab 1870 zum Rivalen Offenbachs wurde.

Der Librettoforscher Albrecht Gier schreibt im Programmheft: „Vor allem aber hat die Protagonistin Carmen durchaus Ähnlichkeit mit den dominierenden Frauenfiguren in den großen Offenbachiaden.“ (Den Begriff Offenbachiade prägte der scharfzüngige Wiener Philosoph, Germanist und Satiriker Karl Kraus – lebenswichtige Fragen werden mit Witz, leichter Hand, mit Walzern und Tänzen beantwortet.)

Michael Rot ist überzeugt, dass Bizet die von der Oper Frankfurt gewählte aktuelle Version gefallen hätte, beziehungsweise „wahrscheinlich gerne selbst dem Publikum präsentiert hätte … Die Stringenz der Dramaturgie, aber auch die Instrumentation des Orchesters weisen in eine neue Richtung des französischen Realismus. Bizets früher Tod setzte dieser Entwicklung bedauerlicher Weise ein Ende. Vor diesem Hintergrund erscheint die weltweit erste Aufführung der originalen Schlusspassagen an der Oper Frankfurt von wahrhaft musikhistorischer Bedeutung.“ Der musikalisch-stilistische Mix begünstigt die Inszenierung.

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Carmen (Paula Murrihy); Foto © Monika Rittershaus

Wer war, wer ist diese Carmen?

Eine selbstbewusste Frau, die ihr Liebesleben selbst bestimmt und sich von Männern nicht dirigieren lässt. Ihr Wesen wird in der Erzählung von Prosper Mérimée schillernd ausgebreitet. Eine schöne, streitsüchtige Zigeunerin, eine Betrügerin, ein Luder – von den Männern verehrt. Sie arbeitet in der Zigarettenfabrik von Sevilla, wo sie eine Kollegin im Streit mit dem Messer verletzt. Sie wird festgenommen, kann aber den Sergeanten Don José so bezirzen, dass er sie freilässt. Dafür wandert er in den Knast. Als Carmen mit ihren Freundinnen und Schmugglern in einer Taverne feiert, erscheint der siegreiche Stierkämpfer Escamillo, der für Carmen entflammt. Carmen wartet jedoch auf Don José, der aus der Haft entlassen wurde, und weigert sich, mit auf Schmuggeltour zu gehen. Carmen tanzt für ihn, da ertönt der Zapfenstreich und Don José will pflichtbewusst in die Kaserne zurückkehren. Carmen wütet und bezweifelt seine Liebe. Er rastet aus, als sein Vorgesetzter erscheint und Carmen den Hof macht. Er greift ihn an. Seine Sergeantenkarriere ist damit beendet, es gibt keine Rückkehr mehr in sein früheres Leben. So schliesst er sich den Schmugglern an. Auf der Suche nach Carmen trifft Escamillo, der die Schmuggler zum Stierkampf nach Sevilla einlädt, auch auf Don José. Noch einmal wagt Micaëla, die als Waisenkind von Don Josés Mutter aufgenommen wurde, ihn nach Hause zu holen, wo die Mutter im Sterben liegt. Er folgt Micaëla, kehrt aber wieder nach Sevilla zurück, wo er Carmen erneut bittet, mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Als sie ihm den Ring, sein Liebespfand, vor die Füsse wirft, sticht er zu.

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Paula Murrihy (Carmen) und Joseph Calleja (Don José) sowie Damenchor der Oper Frankfurt; Foto © Monika Rittershaus

Fulminanter Beginn: Noch ist das Licht nicht gelöscht, da macht ein enormer Paukenschlag dem Geschwätz des Publikums ein jähes Ende. Auf der Bühne eine grosse Treppe, wie in „Radamisto“ im Bockenheimer Depot, oder in „Giulio Cesare in Egitto“, die Herzklopfen macht wegen der schnellen Auf- und Abläufe, die die Künstler tätigen müssen. Diese Treppe, die Katrin Lea Tag – sie arbeitete mit Kosky und Carydis bereits früher zusammen – für „Carmen“ entwickelte, beherrscht die ganze Bühne. Hinten hat sie einen Abgang. Die Künstler kommen meist aus der Tiefe. Eindrucksvoll. Tag entwarf auch die grandiosen Kostüme.

Carmen, die ständig ihr Outfit wechselt, sitzt wortlos im roten Torero-Kostüm auf den Stufen. Dann befreit sie sich aus einem Gorilla-Kostüm. Ein Freund erinnert an Marlene Dietrichs Auftritt als Gorilla in „Blonde Venus“. Dann erscheint sie hauptsächlich in schwarz, wie Gitanos-Frauen, mal in gestuftem Kleid, mal im Mini – andere Frisur. Und am Ende der Auftritt mit Escamillo, er in goldenem Dress wie Frank Sinatra, sie in atemberaubender schwarzer Robe mit eine Schleppe, die die Treppe bis oben hin bedeckt und später bei ihrer Flucht zum Strang gerollt wird, an dem Don José sie herunterzieht. Der Moment geht unter die Haut.

Wunderbarer Tanz von sechs hochqualifizierten Tänzerinnen und Tänzern wurde bei Zwischenspielen oder beim Quartett der Schmuggler geboten (Choreografie Otto Pichler). Sie mischten sich unter den Chor und die Sänger: Jacques Offenbach war präsent.

Es gibt in der Inszenierung von Barrie Kosky Momente, die das Publikum irritieren und provozieren. Die Ideen waren gelungen, aber es ist kein Traditionstheater. Das letzte Achselzucken und Lachen von Carmen, die nach der Mordtat wieder aufstand (dies eine gute Idee), irritierte jedoch. Carmen ist eben nicht tot zu kriegen, aber das Achselzucken … nun ja.

Barrie Kosky, der wie erwähnt als Intendant der Komischen Oper Berlin mit aussergewöhnlichen Inszenierungen Furore macht, hat in jedem Fall Frankfurt eine pfiffige Aufführung beschert, über die gestritten werden kann und die somit Aufmerksamkeit erregt – besser als stillschweigend unterzugehen.

Es war wieder ein Sängerfest – ausser dem Gast Joseph Calleja als Don José bestritten von Mitgliedern des Ensembles. Calleja ist einer der meistgefragten Tenöre, der Frankfurt treu bleibt und immer wieder hierher kommt. Zu danken ist das Bernd Loebe, der dem damals 18-jährigen in Brüssel nach dem Vorsingen die Chance gab, die Rolle des Rodolfo zu singen. Don José ist für Calleja Rollendebüt. Er hat das feine französische Timbre, erlangt in wunderbarer Leichtigkeit und Natürlichkeit die Höhen, nur als Liebhaber könnte er feuriger sein.

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Joseph Calleja (am 11. März 2012 in der Alten Oper Frankfurt) und Karen Vuong; Fotos: Renate Feyerbacher

Mezzosopranistin Paula Murrihy spielt eine bissige, machmal sarkastische, bösartige, aber auch liebende Carmen. Ihre flexible, präzise Stimme ist mal fein, mal kräftig, mal ausgelassen, mal traurig beim Kartenlesen, bei dem sie ihren Tod vorhersieht „Die Karten lügen nicht.“ Stimme und Spiel drücken ihre Gefühle wundervoll aus. Seit fast sechs Jahren verfolgen wir die exzellente Entwicklung dieser Sängerin.

Daniel Schmutzhard hat Freude an seinem Macho-Escamillo. Sein Bariton müsste noch etwas zulegen. Herrlich Karen Vuong als das brave, einfache, redliche Mädchen Michaëla, das Gegenstück von Carmen. Ein schöner lyrischer Sopran. Die Sängerin, die in der nächsten Spielzeit grosse Partien singt, kann aber auch sehr witzig und keck spielen wie in „Le Cantatrici Villane“.

Sebastian Geyer, Michael Porter, Kateryna Kasper, Elizabeth Reiter, Kiwahn Sim gehören zum herrlichen Sängerteam.

Last not least der Chor, der Extrachor und der Kinderchor, die begeisterten. Constantinos Caridys leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester sehr differenziert und gegensätzlich: mal lang gedehnte, tragende Tempi, mal operettenhaft verspielt, dann sich steigernd, loslegend.

Kein „tragender“ Opernabend, obwohl das Thema es (vielleicht) verlangt hätte, sondern eine Alltagsgeschichte mit Freuden und Leiden.

Joseph Calleja wird sich in der Rolle des Don José mit dem kanadischen Tenor Luc Robert abwechseln. Auch dieser ein grossartiger Sänger, der im letzten Jahr an der Metropolitan Opera New York debütierte und in Oper extra am 22. Mai 2016 eine Kostprobe seines Könnens gab. Tanja Ariana Baumgartner wird später die Carmen singen. Auch weitere Umbesetzungen wird es geben.

Weitere Aufführungen am 10., 15., 17., 19., 25. und 29. Juni sowie am 3., 7., 11., 14. und 16. Juli 2016, jeweils um 19 Uhr.

Übrigens: Michael Quast und Sabine Fischmann, begleitet von Rhodri Britton am Klavier, mischen am 28. Juni 2016 das Opernhaus mit „Carmen à trois“ auf. Ein Heidenspass.

 

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